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Volume Nr. 65, 10. Dezember 1987

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1987, 10. Wahlperiode, Band IV, 50.-67. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
65. Sitzung vom 10. Dezember 1987 
Fähig 
(A) - Herr Franke, Sie dürfen das selbstverständlich entscheiden. 
Aber ich darf natürlich auch eine Wertung vornehmen; das ist 
doch wohl auch möglich. 
[Franke (CDU): Bloß, die Wertung ist falsch!] 
Wir haben heute über einen Schul- und Volksbildungshaushalt 
zu entscheiden, der mit vielen pädagogischen und strukturellen 
Risiken behaftet ist, aber auch mit vielen Chancen. 
Ein wichtiges organisatorisches Thema sind die Klassen 
frequenzen. Darüber haben wir hier schon oft gesprochen. Ich 
versuche seit Februar, von der Senatsschulverwaltung Zahlen 
über die Entwicklung der Berliner Schülerzahlen und die Klas 
senfrequenzen zu bekommen. Ich habe sie bis heute nicht erhal 
ten. Da wundert es mich nicht, daß offensichtlich in der Gestal 
tung der Klassenfrequenzen in Berlin vielfach Verzerrungen 
entstehen, die den Zielvorgaben widersprechen, die das Abge 
ordnetenhaus gesetzt hat. So gibt es zum Beispiel in der Mittel 
stufe Frequenzen weit über 30, wo wir eine Frequenz von 26 
haben sollten. Es gibt Gymnasien, die vierzügig fahren - also vier 
Klassen in einer Klassenstufe - mit weit über 30 Schülern, aus 
denen man bequem mit der hier vorgegebenen Richtzahl fünf 
Klassen machen könnte. Aber auch in den Grundschulen, wo die 
Lehrer fehlen, um die notwendigen Teilungs- und Förderstunden 
zu erteilen, die laut Stellenplan gesetzlich beschlossen worden 
sind. Wo sind die Lehrer, die wir hier zu pädagogischen Ver 
besserungen beschlossen haben? - Die müssen offensichtlich 
irgendwo in den Bezirken als graue Masse zur Verfügung der 
Volksbildungsstadträte herumvagabundieren, damit diese - 
gesetzwidrig - sozusagen private pädagogische Verbesserun 
gen vornehmen können. Das kommt davon, daß der Schulsenat 
keine zuverlässigen Zahlen hat, jedenfalls nicht rechtzeitig zu 
Schuljahrsbeginn. Hier werden wir wohl genau prüfen müssen, 
was mit den Lehrerstellen geschieht, die wir hier beschlossen 
und der Berliner Schule zur Verfügung gestellt haben. 
Vielleicht sollten wir auch das Bandbreiten- und Teilungsstun- 
(B) denmodell zukünftig wieder ändern. Da gibt es in der Berliner 
Schule offensichtlich Probleme. Vielleicht in der Art, daß wir zu 
den Teilungsstunden nur in den ersten beiden Klassen wieder 
zurückkommen und in den Klassen 3 bis 6 deutlich verringerte 
Richtfrequenzen einführen. Das wäre sogar ohne besondere 
Auswirkungen auf den Stellenbedarf möglich. Wir werden das 
prüfen. 
Lehrerstellen - das ist ein Stichwort zu einem Problem, über 
das wir nachdenken und reden sollten. Der Altersdurchschnitt 
der Berliner Lehrer verschlechert sich ziemlich rapide. 
[Kuhn (AL): Allerdings!] 
150 bis 180 neue Lehrer jährlich durch den sogenannten Ein 
stellungskorridor - das ist ein Prozent aller Lehrerstellen - sind 
für die Berliner Schule zuwenig. Der wissenschaftliche und päd 
agogische Transfer von den Universitäten in die Schulen wird 
immer geringer. Wir haben natürlich in den letzten Jahren durch 
strukturelle pädagogische Verbesserungen, zum Beispiel 
Senkung der Klassenfrequenzen, eine gute Struktur in der Ber 
liner Schule geschaffen und ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis. 
Auch der Finanzsenator hat in seiner Rede darauf hingewiesen. 
Aber es fehlt, wie gesagt, der wissenschaftliche und pädago 
gische Transfer von der Universität in die Schule. Das heißt, wir 
müssen wieder mehr Lehrer einstellen, mehr als 150 bis 180 
jährlich, um die Qualität der Berliner Schule zu erhalten. 
[Beifall des Abg. Kuhn (AL)] 
Sonst fehlt uns plötzlich eine ganze Lehrergeneration, besonders 
wenn in den 90er Jahren die Schülerzahlen wieder steigen. 
Was können wir tun? Wir können uns nicht mehr lange um die 
Senkung der Pflichtstundenzahl für Lehrer drücken. 
(Vereinzelter Beifall bei der SPD] 
Die Angleichung der Lehrerarbeitszeit an die Arbeitszeit im 
öffentlichen Dienst können wir auf Dauer nicht verweigern. Das 
ist im übrigen die dringende Meinung aller Lehrerverbände in der 
Bundesrepublik einschließlich West-Berlins. Eine weitere Mög 
lichkeit ist das jetzt eingeführte Berliner Sabbatical für Lehrer, 
also das arbeitsfreie Jahr alle sieben Jahre. Die Regelung des (C) 
Sabbaticals wie wir sie jetzt haben, ist allerdings unserer Ansicht 
nach nicht ausreichend und muß nachgebessert werden. Das 
sollte, wenn der Senat seinen Edahrungsbericht im nächsten 
Jahr vorlegt, für das Jahr 1989 geregelt werden, und zwar in dem 
Sinne, daß die Weiterbildung in diesem arbeitsfreien Jahr zur 
Pflicht gemacht wird, damit es endlich auch ein Weiterbildungs 
jahr wird. Diese Regelung ist relativ einfach zu erreichen, wenn 
wir dabei die Sonderurlaubsverordnung anwenden, die wir in 
Berlin haben. In diesem Sabbatical-Jahr sollen nach unseren Vor 
stellungen vier Monate der Weiterbildung dienen, für die zur 
Hälfte voll und zur anderen Hälfte 50 bzw, 75 Prozent der Besol 
dung gezahlt werden. Das kann nach der Sonderurlaubsverord 
nung dann geschehen, wenn der Senat ein dienstliches Inter 
esse an der Weiterbildung feststellt. Genau in diesem Sinne 
sollte die Berliner Sabbatical-Regelung geändert werden. Eine 
regelmäßige umfangreiche Weiterbildung liegt tatsächlich im 
Interesse der Berliner Schule, begründet damit ein dienstliches 
Interesse und schafft auch effektiv mehr Lehrerstellen. 
Ich habe bisher mehr über strukturell-organisatorische Pro 
bleme der Berliner Schule gesprochen und weniger über päd 
agogische. Ich sage nun nicht, daß sich die Berliner Schule in 
einem besonders eklatanten pädagogischen Notstand befände; 
oder anders gesagt: Vielleicht herrscht in jeder Schule zu jeder 
Zeit pädagogischer Notstand. Die in Berlin geschaffenen Struk 
turen der Berliner Schule und der Lehrerstellen sind vielmehr 
eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Pädagogik, und 
ich denke, daß die Berliner Lehrer sich durchaus in dieser Rich 
tung bemühen. Ich denke aber auch, daß die Berliner Schule 
immer wieder neue pädagogische Anstöße benötigt. Sie 
kommen, wie erwähnt, einmal von den jüngeren Lehrern, von 
denen wir zu wenige haben; sie können auch von der Schul 
politik, von der Schulaufsicht kommen. 
[Kuhn (AL): Kommen aber nicht!] 
Die Schulräte zum Beispiel sollen nicht zuletzt pädagogische ,r>, 
und fachliche Beratung betreiben und nicht nur verwaltungsmä 
ßige Gängelung. Das sage ich nicht zum erstenmal an dieser 
Stelle. Von dieser Seite, so befürchte ich, findet in Berlin nur 
wenig Beratung und Gestaltung statt. 
[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der AL] 
Da ist es gut, daß sich Berlin auch auf schulischem und päd 
agogischem Gebiet Projekte leistet, die für die herkömmliche 
öffentliche Regelschule durchaus eine Herausforderung dar 
stellen und vielleicht auch Anstöße geben können. Ich meine zum 
Beispiel das Projekt „Stadt-als-Schule Berlin“, das im vergange 
nen Monat seinen Betrieb aufgenommen hat und insbesondere 
erproben soll, wie Lern- und Leistungsmotivation im praktischen 
Lernen geschaffen und gefördert werden kann und ob und wie 
Lernen überhaupt im praktischen Leben, durch Praxis stattfinden 
kann. Und ich meine auch ein Projekt wie die Freie Schule in 
Tempelhof, die mit einem erprobten, schlüssigen Konzept und 
mit neuen Methoden Schüler arbeiten und lernen läßt, was 
durchaus für die Regelschule zur Herausforderung werden kann, 
nämlich dann, wenn sich zeigen sollte - was ich glaube -, daß 
auch mit diesen neuen Methoden, die dem Schüler mehr Frei 
heiten und eigene Gestaltungsmöglichkeiten geben, ein Lei 
stungsstandard erreicht werden kann, der dem der öffentlichen 
Regelschule durchaus oder sogar mindestens vergleichbar ist. 
Ich freue mich, sage ich ganz deutlich, auf diese neue Freie 
Schule in Berlin, 
Lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Themen ansprechen, 
die für die Berliner Bildungspolitik von Bedeutung sind. Ich 
meine einmal das Thema türkische Schulbücher, worüber wir 
auch im Schulausschuß schon ausführlich gesprochen haben. 
Es gab den Versuch von seiten der türkischen Regierung, auf die 
Gestaltung der Berliner Lernmaterialien für das Fach Türkisch als 
1. Fremdsprache massiven Einfluß auszuüben und mit dem fal 
schen Vorwurf antisemitischer und kommunistischer Indoktrina 
tion öffentliche Wirkung zu erzielen. 
Nach einigen Irritationen in der Schulverwaltung steht nun 
allerdings fest, daß die Schulsenatorin diesem Druck nicht nach- 
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