Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
65. Sitzung vom 10. Dezember 1987
Frau peiebi-Gottschlich
(A) sie erzählte mir: Wie soll ich deutsch lernen, wenn ich den
ganzen Tag Akkord arbeite, dann später die Hausarbeit machen
muß und mich um die Kinder zu kümmern habe? - Ich komme
nicht einmals abends zum Fernsehen, meinte sie. Ich konnte sie
gut verstehen. So geht es auch vielen deutschen Menschen, Es
fehlt an grundlegender Unterstützung und Förderung, sich in
dieser Gesellschaft zurechtzufinden, sich weiterzubilden und um
sich schließlich auch wohlfühlen zu können.
Viele der Immigranten und Immigrantinnen werden oder wur
den durch diese besonderen psychischen Belastungen krank.
Die ständige Verunsicherung durch deutsche Ämter und ein
weitverbreitetes Gefühl der Ausgegrenztheit, die Arbeitsplatz
unsicherheit und weitgehende Rechtlosigkeit rücken zunehmend
in eine öffentliche Diskussion.
Es gibt nur eingeschränkte Gesundheits- und Rechtsbera
tung, es fehlt fast überall an einfühlsamen und verständigen aus
ländischen Fachkräften. Sinnvolle Projekte werden finanziell
nicht unterstützt. Für die Mädchen aus den Immigrantenfamilien
steht oft nur eine berufliche Möglichkeit im Textilgewerbe oder
als Frisöse offen, die jungen Männer müssen oft Gelegenheits
oder Hilfsarbeiten übernehmen. Wir fordern die gleichberech
tigte Behandlung der Immigrantenkinder bei der Ausbildung, bei
Weiterbildungs- und Umschulungsangeboten. Wir wollen end
lich aus der Hilfsarbeiter- oder Dolmetscherrolle heraus!
Seit Jahren fordern wir auch eine eigenständige Aufenthalts
berechtigung für verheiratete Frauen. Sie dürfen nicht rechtlich
abhängig von ihren Ehemännern gehalten werden.
Da Frauen in allen Gesellschaften mißhandelt und sexuell miß
braucht werden, appelliere ich hier besonders an die Frauen in
der SPD, in der CDU und F.D.P., sich mit uns in dieser Frage zu
solidarisieren. Treten Sie gemeinsam mit uns ein für ein eigen
ständiges Aufenthaltsrecht und eine eigenständige Arbeits
erlaubnis für diese Frauen!
Das seit dem Januar 1986 gültige Steuersenkungsgesetz
(B) stellt sich schon bei näherer Betrachtung als ein Steuer
erhöhungsgesetz für die hier lebenden Immigrantenfamilien her
aus. Für die Menschen, deren Ehepartner oder Ehepartnerinnen
im Ausland leben, bedeutet dies eine monatliche Mehrbelastung
von 500 bis 700 DM; denn die Angehörigen werden steuerlich
nicht mehr berücksichtigt.
[Schicks (CDU): Schon seit 1979 nicht mehr!
Das hat nichts mit den neuen Steuergesetzen zu tun!]
Von diesem Gesetz sind über 375 000 im Ausland lebende
Kinder betroffen und etwa 150 000 Ehepartner und Ehepart
nerinnen. Die Einsparungen zugunsten des deutschen Staats
haushalts sind beträchtlich. Wir halten es für unaufschiebbar,
diesen Unrechtzustand sofort aufzuheben und zur alten Steuer
gerechtigkeit zurückzukehren.
[Beifall bei der AL - Buwitt (CDU):
Das ist seit 1979 so geregelt!]
- Nein, das stimmt nicht. Sie müssen ein bißchen mehr lesen.
Ein weiteres Beispiel deutscher Ausländerpolitik soll Ihnen
verdeutlichen, wie hier in unserem Land mit Minderheiten um
gegangen wird: Wie bereits in den letzten Jahren soll für das Jahr
1988 eine weitere „Rückkehrhilfe“ in Höhe von 8 Millionen DM
beschlossen werden. Dabei sollten Sie wissen, daß die Öffent
lichkeit mit dem Begriff der „Rückkehrhilfe“ bewußt und vorsätz
lich irregeführt wird. Es wird der Eindruck erweckt, als handle
es sich dabei um eine tatsächliche Hilfe bzw. Leistung zur Rück
kehr, wobei ganz nebenbei bei vor allem einkommensschwachen
und weniger informierten deutschen Bürgern Neid- und Haß
gefühle geschürt werden. Unsere politische Bewertung der
„Rückkehrhilfe“ soll hier kurz auf einen Punkt gebracht werden:
Wir halten die „Rückkehrhilfe“ für ein großes Betrugsmanöver
gegen die inzwischen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nicht
mehr „verwertbaren“ Arbeitsimmigranten, und außerdem ist
diese Regelung Ausdruck der herrschenden Ausländerpolitik.
Beim deutsch-türkischen Rentenabkommen vom 2. November
1984 haben wieder einmal die großen Staatsmänner über die
kleinen Leute entschieden. Diesmal traf es vor allem die arbeits
losen Menschen der ersten Generation der Immigranten und (
Immigrantinnen. Was bedeutet dies konkret? - Die Arbeitneh
merbeiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung an
in die Heimat zurückgekehrten Türken können erst nach zwei
Jahren - ich wiederhole: erst nach zwei Jahren - nach Auslaufen
der Versicherungspflicht erstattet werden. Da haben sich Herr
Fink und vermutlich auch andere etwas Schönes ausgedacht;
denn wie Sie wissen, sollen diese mehrköpfigen Rückkehrer
familien zwei Jahre lang - ohne selbst arbeiten zu dürfen - von
10 000 DM ihren Lebensunterhalt bestreiten. Konkret davon
betroffen sind Menschen, die meist über 45 Jahre alt sind und
wenig Chancen haben - sowohl hier wie in der Türkei -, eine
neue Arbeit zu finden. Und was steckt hinter dieser großzügig
gewährten Hilfe? - Laut Herrn Fink stehen den beantragten Aus
gaben von 8 Millionen DM Einsparungen - ich zitiere - „in nicht
bezifferbarer Höhe, zum Beispiel bei der Sozialhilfe, beim
Arbeitslosengeld, beim Wohngeld“ und vermutlich bei anderen
Regelungen wie Kindergeld gegenüber. Wenn man dabei in
Betracht zieht, daß die jetzt fälligen monatlichen Arbeitslosen
geldansprüche in der Regel über 1 200 DM plus Kindergeld
liegen, dies auf ein Jahr umgerechnet die „Rückkehrhilfe“ weit
überschreitet, dann drängt sich natürlich die Frage auf, wer hier
eigentlich wem hilft.
Bei der Rückerstattung der Rentenversicherungsbeiträge
bekommt der Rückkehrer bzw. die Rückkehrerin tatsächlich nur
40 % der Gesamtleistung zurück. So blieben 1983 etwa 3 Millio
nen DM in der deutschen Rentenkasse; 1984 waren es über 2
Milliarden DM; 1985 waren es etwa 1,5 Milliarden DM, und
1986 waren es etwa 360 Millionen DM, die in der deutschen
Renlenkasse verblieben. Dies bedeutet doch, daß es sich bei
der „Rückkehrhilfe“ um eine „Finanzierungshilfe“ für die deut
sche Rentenkasse handelt, wobei diese „Hilfe“ einen Umfang
von bisher mehreren Milliarden Mark angenommen hat. Ich frage
den Senat hier mit aller gebotenen Schärfe, ob dieses offensicht
liche Betrugsmanöver auch weiterhin den Namen „Hilfe“ bzw.
„Rückkehrhilfe“ behalten soll.
[Beifall bei der AL]
Der Skandal liegt vor allem darin, daß einerseits die Rückkehrer
und Rückkehrerinnen ihre in langen Arbeitsjahren erworbenen
sozialen Rechtsansprüche verlieren; andererseits werden sie bei
der Auszahlung um einen beträchtlichen Anteil ihrer Ansprüche
betrogen.
Insgesamt jedoch sind die psychologischen Auswirkungen
und der angerichtete politische Schaden, der mit dieser Rück
kehrregelung angerichtet wird, als verheerend einzuschätzen. So
wurden beträchtliche Unruhe und Verunsicherung unter den
Immigranten und Immigrantinnen angerichtet. Für die auslän
dischen Familien der ersten Generation stellt sich zunehmend
das Gefühl der Hoffnungslosigkeit ein. Sie spüren, daß sie nicht
mehr gebraucht werden, daß sie packen und verschwinden
sollen und daß sie weder hier noch in ihrer ursprünglichen
Heimat einen anerkannten Platz haben. Hier sind sie Ausländer -
dort sind sie Verdeutschte! Herr Senator Fink, diese Menschen
können und dürfen nicht einfach bei Arbeitslosigkeit zurück in
ihre ursprüngliche Heimat abgeschoben werden. Mit ihrer lang
jährigen Arbeit haben sie sich wie jeder Deutsche das Recht auf
eine soziale Absicherung bzw. eine angemessene Rente erwor
ben. Diese Menschen dürfen nicht einfach zu ökonomischen und
somit arbeitsmarktpolitischen Objekten deklassiert und beliebig
aus ihren sozialen und kulturellen Beziehungen gerissen bzw.
umgesetzt werden.
[Buwitt (CDU): Das macht doch gar keiner!]
- Ach, was Sie für eine Politik machen, das wissen Sie doch
ganz genau. - Herr Senator Fink, ich empfehle Ihnen: Setzen Sie
sich mit Herrn Pieroth zusammen und entwickeln Sie vernünftige
Vorschläge, wie diese 8 Millionen DM arbeitsplatzfördernd und
für sinnvolle andere Sachen eingesetzt werden können! Stellen
Sie Überlegungen an, wie diese Menschen sinnvoll beschäftigt,
umgeschult und weitergebildet werden können - und nicht nur,
wie Sie möglichst viele wieder loswerdenl
[Beifall bei der AL]
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