Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
65. Sitzung vom 10. Dezember 1987
RBm Diepgen
(A) eine besondere Gewichtung bei dem Arbeitspiatzabbau auf die
großen Unternehmen in dieser Stadt gibt, die in besonderer
Weise die Probleme des Strukturwandels zu lösen haben.
Der zweite Faktor, der eine Beschäftigungspolitik in Berlin
erschwert, ist die Struktur der Arbeitslosigkeit. Ein erheblicher
Teil der Arbeitslosen hat keinen berufsqualifizierenden Abschluß.
Ein weiterer Teit der Arbeitslosen stammt aus Erziehungs- und
sozialwissenschaftlichen Berufen. Die Arbeitsplätze, die nach-
gefragf werden, können also allzuoft von den Berliner Arbeits
losen nicht besetzt werden. Nur so erklärt sich, daß wir
angesichts der Zahl der Arbeitslosigkeit eine ungewöhnlich hohe
Zahl von offenen Stellen haben.
Schließlich ist bei der Würdigung der Arbeitslosenzahlen zu
berücksichtigen, daß wir in Berlin im Vergleich zum letzten Jahr
erneut 20 000 Zuwanderer begrüßen können. Es sind Deutsche
im erwerbsfähigen Alter, die nach Berlin kommen, um hier Arbeit
zu finden, um hier ihren neuen Lebensmittelpunkt zu schaffen.
Diese Neu-Berliner sind für uns, für alle Berliner, außerordentlich
wichtig. Berlin ist durch sie keine sterbende Stadt mehr; die
frühere Prognos-Gutachten sind vorhin genannt worden. Diese
Zuwanderer sind uns herzlich willkommen, und sie werden vor
allem auch für eine wachsende Industrie benötigt, denn dort sind
die Arbeitskräfte, die wir auf dem Berliner Arbeitsmarkt bisher
leider nicht finden können.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Es kann eben kein Zweifel darüber bestehen, daß die Zuwande
rung am nachdrücklichsten belegt, welche großen Strukturdefi
zite wir in Berlin haben, die eben niemand über Nacht beseitigen
kann.
Jeder, der diese drei Bedingungen der Arbeitslosigkeit in
Berlin leugnet, argumentiert unseriös. Es soll doch niemand so
tun, als könnte irgend jemand die Arbeitslosigkeit beseitigen,
wenn einfach mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt wird. Das
Problem ist vielfach nicht der Umfang der Mittel, sondern es ist
die Treffsicherheit und die Wirksamkeit beim Einsatz der Mittel.
Wir wissen doch: Gehen wir mal von Überlegungen zur Verstär
kung der Investionen in Berlin aus, nehmen wir mal die Umwelt
investitionen : Im großen Umfang fehlen uns gerade da die Fach
kräfte, die benötigt werden, um im Bereich der Umwelt wirklich
zu investieren, um hier einen zusätzlichen Schub, einen Moderni
tätsschub in Berlin zu erreichen. Niemand wird wohl hier die
Behauptung aufsfellen, daß wir die Modernisierung der Entwäs
serungsanlagen in Berlin mit Schippe und Schaufel vornehmen
sollen. Das kann doch so wirklich nicht betrieben werden!
[Zurufe - Unruhe]
Vielmehr werden dafür Fachkräfte benötigt. Damit stellt sich das
Problem der Treffsicherheit.
Der Senat wird in diesem Sinne alles in seinen Kräften Stehen
de daransetzen, daß die Zahl der Arbeitslosen in Berlin nicht wei
ter steigt, sondern sinkt. Dazu ist ein ganzes Bündel von Maß
nahmen und Schritten erforderlich;
Dabei gilt ein erstes Wort den Großunternehmen in Berlin. Der
Senat erwartet von diesen Unternehmen nicht, daß sie nur um
ihrer Berlin-Freundlichkeit willen hier überholte, unwirtschaftliche
Produktionen fortführen. Wer sich dem Strukturwandel ent
gegenstellt, produziert zwangsläufig auf Dauer eine höhere
Arbeitslosigkeit. Der Standort Berlin mit allen seinen Vorzügen
legt es nahe, daß Forschungs- und Entwicklungskapazitäten
nach Berlin vergeben werden, daß hier moderne Produktionen
aufgebaut werden. Es gibt im Grunde kein vernünftiges betriebs
wirtschaftliches Argument gegen den Standort Berlin. Und wo
es ein solches Argument doch gibt, so möchten wir es hören,
damit wir es wirklich entkräften können. Was wir erwarten - ins
besondere von traditionsreichen großen Unternehmen in
Berlin -, das ist, daß sie die Chancen des Standorts Berlin
erkennen, nutzen und sich in Berlin auch gerade wegen ihrer
eigenen Zukunftsfähigkeit engagieren.
Nun zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, daß die neuen
Arbeitsplätze zumeist nicht bei den großen, sondern bei den klei
nen und mittleren Unternehmen entstanden sind: im Handwerk,
bei den Unternehmensneugründungen, im Software-Bereich, bei (C)
kulturellen und sozialen Dienstleistungen. Wer nur auf die
Großunternehmen setzt, der wird die Arbeitslosigkeit in Berlin
nicht erfolgreich bekämpfen können. Dagegen ist eine Politik zur
Förderung des Mittelstandes die beste Politik auch im Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P. -
Dr. Staffelt (SPD): Wo ist das denn?]
- Die größte Verantwortung für Beschäftigung und Gewinne
haben in unserer sozialen Marktwirtschaft die Tarifpartner. Aber
für mich gibt es selbstverständlich auch eine unmittelbare öffent
liche Verantwortung des Staates auch für den Arbeitsmarkt.
[Wagner, Jürgen (SPD): Das müssen Sie mal
der Wirtschaft erzählen!]
Dies gilt einmal für den Bereich der öffentlichen Investitionen.
Hier wird der Senat unter Beachtung dessen, was ich über Treff
sicherheit gesagt habe, kurzfristig entscheiden, ob und welche
Investitionen mit dem Blick auf die Beschäftigungssituation vor
zuziehen oder zu verändern sind. Dies gilt insbesondere für den
Bereich des Umweltschutzes und für die Bauwirtschaft.
[Dr. Staffelt (CDU): Wo ist denn hier
der Vertreter des Mittelstandes in der CDU?]
Der Senat hat zudem vorgestern ein Programm auf den Weg
gebracht, das gezielt den Problemgruppen des Arbeitsmarktes
neue Perspektiven eröffnet: den Dauerarbeitslosen, arbeitslosen
älteren Arbeitnehmern ab dem 50. Lebensjahr, Jugendlichen und
arbeitslosen Sozialhilfeempfängern. Wir wollen bei den Betrie
ben die oft zu hohen Arbeitskosten verringern und somit die Ein
stellung und Qualifizierung Berliner Arbeitsloser in unkomplizier
ter Weise erleichtern. Das Programm soll auch dazu beitragen,
bei günstigen Kosten das Dienstleistungsangebot insbesondere
bei Dienstleistungen des täglichen Lebens auszubauen. Hier
sollen insbesondere für ältere Arbeitnehmer Chancen für eine
bessere soziale Absicherung im Alter eröffnet werden. Und es (Q)
sollen arbeitslosen Sozialhilfeempfängern die Wiedereingliede
rung in das Erwerbsleben erleichtert und damit ihre Vermitt
lungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhöht werden.
Dieses Programm ist so angelegt, daß die Mittel aufgestockt
werden, wenn es erfolgreich greift. Am Geld wird eine sinnvolle,
verantwortbare und treffsichere Arbeitsmarktpolitik dieses
Senats nicht scheitern. Wir wollen nicht die Arbeitslosigkeit
finanzieren. Nein, wir wollen Arbeit finanzieren, wo immer das
möglich ist.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein Wort zur
Diskussion um die Steuerreform sagen. Hier waren wir von Berlin
aus in einer nicht einfachen Position. Wir wollten im Rahmen der
Finanzierungsdebatte einerseits klar unseren Berliner Stand
punkt der Ablehnung eines Sonderopfers formulieren, und
andererseits mußten wir darauf achten, daß wir nicht psycholo
gische Rückwirkungen gegen den Standort Berlin auslösen -
psychologische Rückwirkungen, die nicht wiedergutzumachen
sind. Ich glaube, daß diese Gratwanderung - und es war eine
Gratwanderung - im großen und ganzen gelungen ist. Dabei
gibt es Anlaß - ich habe dafür Verständnis - zu kritischen
Anmerkungen. Auch der Senat hat es an Deutlichkeit gegenüber
den Initiatoren dieser ärgerlichen Diskussion nicht fehlen lassen.
Mit überzogener Kritik, mit überzogenen Argumenten, mit fal
schen Argumenten hinsichtlich der Bedeutung dieser Lücke in
der Berlinförderung, die entstehen wird,
[Momper (SPD): Eine Lücke?!]
mit einer überzogenen Kritik darf aber nun nicht noch anderen ein
Alibi dafür geboten werden, die sich aus ganz anderen Motiven
vom Standort Berlin zurückziehen wollen.
[Dr. Rüter (SPD): Ganz windige Argumentation!]
Ich bin sehr dankbar, daß gestern bei einem Gespräch mit Ver
tretern der Berliner Wirtschaft folgendes deutlich geworden ist.
Erstens; Wir wollen das, was quantitativ in den nächsten Jahren
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