Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
62. Sitzung vom 12. November 1987
Stuft
(A) tik in unserer Stadt und auch darüber hinaus ausgesetzt. Durch
eigenes Verschulden ist die Hochschul- und die Forschungspoli
tik der Metropole Berlin zum Schaden unserer Stadt in schlech
ten Ruf geraten. Dafür trägt dieser Senat die Verantwortung.
[Beifall bei der SPD]
Ich fordere Sie vorab auf, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition - soweit Sie im Moment anwesend sind
sich ernsthafter als bisher mit unseren Bedenken auseinanderzu
setzen und vor allen Dingen mehr Dialogbereitschaft erkennen zu
lassen.
Es ist wahrlich kein Lob für den Wissenschaftssenator dieser
Stadt, wenn ihm der Berliner Landesverband der Deutschen
Angestellten-Gewerkschaft bescheinigt, er trage die Verantwor
tung - Zitat - „für ein Klima, das eine vertrauensvolle Zusammen
arbeit ausschließt“.
[Dr. Kremendahl (SPD): Er hört ja gar nicht zu!]
Der Wissenschaftssenator steht einem Schlüsselressort für
die Gestaltung unserer Zukunft vor. In den Hochschulen fallen
wichtige Entscheidungen für die zukünftige Gestaltung unserer
Gesellschaft. Dabei gilt es zu beachten, daß das wichtigste Kapi
tal eines rohstoffarmen Landes wie der Bundesrepublik das Wis
sen und das Leistungsvermögen seiner Bevölkerung ist.
[Beifall bei der SPD]
Um im internationalen Wettbewerb Schritt halten zu können, ist
die bestmögliche Nutzung vorhandener Ausbildungskapazitäten
notwendig. Ein rohstoffarmes Land, das im internationalen Wett
bewerb mithalten muß, kann es sich nicht leisten, daß eine Nei
gungen und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung daran
scheitert, daß der oder die einzelne sie nicht finanzieren kann.
[Beifall des Abg. Roß (SPD)]
Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, darf
uns kein Talent und keine Fähigkeit verlorengehen. Somit wird
(B) Chancengleichheit und garantierter Zugang aller Schichten zu
Bildung und Ausbildung jeder Art eine Überlebensvorausset
zung für die Bundesrepublik.
Wir Sozialdemokraten haben früher als jede andere Partei für
Chancengleichheit gekämpft, weil wir immer die Partei des Fort
schritts und der Demokratie waren. Heute müssen wir leider fest-
steilen, daß Sie mit Ihrer konservativen Hochschulpolitik die
Chancengleichheit nicht vermehren, sondern vielmehr verrin
gern. Immer weniger Menschen, die aus weniger bemittelten
Familien stammen, können es sich heute leisten zu studieren. Die
Hans-Böckler-Stiftung des DGB hat im Januar dieses Jahres die
Ergebnisse eines Projekts über soziale Folgen der Ausbildungs
finanzierung vorgelegt. Ergebnis: Die BAföG-Novelle von 1983
- so belegen die Zahlen - geht eindeutig zu Lasten der Arbeit
nehmerkinder. Die BAföG-Novelle hatte eine Verschärfung so
zialer Ungleichheit zur Folge. Oder, in den Worten von Gustav
Fehrenbach, CDU; „Die ständige Aushöhlung des BAföG, vor
allem aber die Auswirkungen des Kahlschlags 1983 erweisen
sich als eine massive Politik der Ausgrenzung breiter Bevölke-
rungsschichfen.“
Es war gerade der Erfolg der sozial-liberalen Hochschulpolitik
der 70er Jahre, daß immer mehr Jugendliche aus Arbeiterfamilien
studieren konnten. Das war ein Stück mehr Demokratie und
hatte den richtigen Weg gezeigt. Ihre Politik versucht, das Rad
zurückzudrehen. Das ist weder im Interesse der Demokratie
noch im wirtschaftlichen Interesse der Bundesrepublik Deutsch
land.
[Dr. Biewald (CDU): Was ist aus den ganzen
Hochschulabsolventen geworden?!]
Jeder Staat braucht Eliten. Sie sind jedoch in der Gefahr, Ihre
Eliten nur auf der Grundlage gemeinsamer Herkunft und nicht
auf der demokratischen Grundlage gleicher Chancen zu bilden.
[Dr. Krähe (CDU): Stuß! Das stimmt doch
alles nicht!]
Zu den Studenten; Gerade an dieser Stelle ist es notwendig,
dafür zu sorgen, daß den Berliner Studenten und den Studentin
nen kein negatives Etikett angeklebt wird. Darin haben sich ge- (C)
rade viele von der Regierungskoalition häufig geübt. Immer
wieder gibt es negatives Gerede über zu lange Studienzeiten
und über ein zu hohes Durchschnittsalter von Hochschulabsol
venten hier in Berlin.
[Schütze (CDU): Das sind doch nun einmal leider
die Fakten, Herr Kollege!]
- Dann hören Sie noch ein bißchen weiter zu, ich gehe noch dar
auf ein, Herr Schütze. - Dieses Gerede, gar kein Zweifel, scha
det den Berliner Studenten, und es schadet dem Ansehen Ber
lins. Wer dagegen die Untersuchung „Studium in Berlin“ - der
Herr Senator hat sie uns zugeleitet - aufmerksam liest, kann fest
stellen:
1. Die Studienaufnahme erfolgt in Berlin in größerem zeit
lichen Abstand zum Schulabschluß als im Bundesgebiet. Die
Zahlen sind in der Studie genannt; ich will Sie damit nicht lang
weilen.
2. Der Anteil derer, die nach dem Abitur zunächst eine Berufs
ausbildung aufnehmen, ist in Berlin wesentlich höher als im Bun
desgebiet. Und diese Tatsache sollte uns alle freuen. Sie ist eine
vernünftige Erklärung für das höhere Durchschnittsalter.
3. In Berlin finanzieren mehr Studenten ihr Studium durch
eigenen Erwerb, als dies im Bundesgebiet der Fall ist - Herr
Senator Turner hat vorhin am Beispiel der TU darauf hingewie
sen. Und gerade die TU ist das eindrucksvollste Beispiel dafür.
Der eigene Verdienst der Studenten macht dort 54 % der Ein
nahmen aus; der Bundesdurchschnitt liegt bei 28%.
4. Ein erheblicher Teil der langen Studiendauer liegt auch be
gründet in zu langwierigen Examens- und Prüfungsverfahren.
Gerade hier sind Sie gefordert, Herr Turner, für Abhilfe zu
sorgen.
Zum Geld: Die Haushaltsmisere der Berliner Hochschulen ist
inzwischen chronisch geworden. Dabei ist die Leistungsfähigkeit
der Berliner Hochschulen in Lehre und Forschung inzwischen (D)
gefährdet. Insbesondere die für Berlin attraktiven Bereiche der
Sozial- und Geisteswissenschaften sind gefährdet; haufenweise
sind Hochschullehrerstellen gerade in diesen Bereichen unbe
setzt. Das kann sich die Hochschul- und Forschungsmetropole
Berlin auf jeden Fall nicht leisten!
[Beifall bei der SPD]
Berlin braucht auch Klarheit über die Ziele der Forschungs
politik in unserer Stadt. Da wir mit Hilfe von Wissenschaft und
Forschung gesellschaftliche Probleme lösen müssen, darf sich
Forschung, die öffentlich gefördert wird, nicht der gesellschaft
lichen Kontrolle entziehen. Wir müssen uns alle in bisher nicht
gekannter Weise mit den Folgen und Grenzen des technischen
Fortschritts beschäftigen. Für uns Sozialdemokraten liegen
diese Grenzen in der Humanverträglichkeit, Umweltverträglich
keit, Sozialverträglichkeit und der Friedensverträglichkeit. Die
Beschäftigung mit Folgen und Grenzen des technischen Fort
schritts sollte aber auch bei der Arbeit der Akademie der Wis
senschaften von größerer Bedeutung sein, als Sie, meine Damen
und Herren von der Koalition, es planen.
Sind wir in vielen Zielen der Forschungspolitik durchaus mit
CDU und F.D.P. einig, so teilen wir Sozialdemokraten nicht Ihre
Ansicht zur Verantwortung des Forschers, wie sie im Bundes
bericht Forschung 1984 zum Ausdruck kommt:
Erkenntnis selbst kann und darf keiner Verantwortung in mo
ralischen Kategorien unterliegen. Sie ist als solche, und
damit unbeschadet einer kritischen Prüfung und Bewertung
ihrer Anwendungsmöglichkeiten, ausschließlich auf den
Wahrheitsgehalt hin zu bewerten.
Damit machen es sich CDU und F.D.P. zu einfach,
[Beifall bei der SPD]
und ich glaube, Herr Tolksdorf wird da auch zustimmen. Denn zu
nächst und zuerst ist der Grundlagenforscher selbst berufen,
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