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Volume Nr. 58, 10. September 1987

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1987, 10. Wahlperiode, Band IV, 50.-67. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
58. Sitzung vom 10. September 1987 
Frau Müller 
den normal Verdienenden, 6 %: den schlecht Verdienenden. 
Und nur 21 % sagten: allen in etwa gleich. 
Es ist gut und nützlich, wenn man sich gelegentlich daran erin 
nert, wie alles begann. Vor der letzten Bundestagswahl wurden 
von CDU, CSU und F.D.P. für 1990 eine Lohn- und Einkom 
menssteuerreform versprochen, die jeden Steuerzahler um 
durchschnittlich 1 000 DM im Jahr entlasten sollte. Damals 
wurde allerdings nichts über die Finanzierung gesagt; daran hat 
sich bis heute nichts geändert. Langsam, peu ä peu, kommen die 
Wahrheiten heraus und damit die ganze Unredlichkeit der voll 
mundigen als „Jahrhundertreform“ versprochenen Steuerreform 
ans Tageslicht. 
Folgende Argumente sind nach meiner Einschätzung nicht zu 
widerlegen: Die Steueroperation ist ungerecht; es werden vor 
allem die Bezieher hoher und höchster Einkommen begünstigt. 
Eine Verkäuferin mit 2 000 DM brutto im Monat erhält 
eine Entlastung von ganzen 463 DM im Jahr, ein verheirate 
ter Spitzenverdiener mit 25 000 DM im Monat dagegen fast 
18 000 DM. Das vollständige sozialpolitische Desaster wird je 
doch erst dann eintreten, wenn zur Finanzierung trotz gegenseiti 
ger Beteuerung - wir haben heute ja einiges gehört - die Mehr 
wertsteuer und einzelne Verbrauchsteuern erhöht werden müs 
sen - Herr Schneider hat bereits ausführlich darauf hingewiesen. 
Die Steuerreform, die Steueroperation, treibt aber auch die 
Gemeinden in den Ruin. Allein für 1990 droht den Gemeinden 
ein Steuerausfall von 10 Milliarden DM. Das hat für alle, die 
dort wohnen, weitreichende Folgen: Öffentliche Leistungen - 
das ist klar - müssen eingeschränkt werden oder werden teurer, 
Betriebe werden möglicherweise höhere Gewerbesteuern zu 
zahlen haben, obwohl der Herr Bundeskanzler öffentlich darüber 
nachdenkt, ob man die Gewerbesteuer vielleicht sogar abschaf 
fen kann, Unternehmen und Freiberuflern werden Aufträge 
fehlen, weil öffentliche Investitionen zusammengestrichen wer 
den müssen. Der Weg, den Herr Stoltenberg für den Bundes 
haushalt vorschlägt, nämlich eine höhere Staatsverschuldung 
zum Stopfen der Finanzlöcher einzugehen, ist für die meisten 
Gemeinden überhaupt nicht gangbar. Daß die Steuerre 
form beschäftigungspolitisch verfehlt ist, das ist, glaube ich, den 
meisten inzwischen klargemacht worden. Alle Anzeichen deuten 
darauf hin, daß die Wirtschaftsentwicklung stagniert oder zu 
rückgeht; das bedeutet mehr Arbeitslose und weniger Steuer 
einnahmen als geplant. Das reißt zusätzliche Finanzlöcher und 
wirft zusätzliche Beschäftigungsprobleme auf. Wir können uns 
deshalb keine Steuerreform leisten, die in ihrer Gesamtwirkung 
wiederum nur eine Umverteilung von unten nach oben ist und die 
am Arbeitsmarkt vorbeigeht. 
[ Beifall bei der SPD - vereinzelter Beifall bei der AL] 
Bei dieser Sachlage darf es nicht verwundern, daß zum Beispiel 
der DIHT eindringlich davor warnt, die zu erwartenden Sfeuer- 
ausfälle durch verstärkte Verschuldung aufzufangen, und die 
Deutsche Steuergewerkschaft in einem umfangreichen Papier 
die Unzulänglichkeiten der Steuerreform nachweist und die 
Länderfinanzminister natürlich über die Parteigrenzen hinweg die 
schweren Belastungen kritisieren, die auf die Landeshaushalte 
zukommen aufgrund der absehbaren Steuermindereinnahmen 
und der damit verbundenen Absenkung der Investitionsquote 
mitsamt der dadurch hervorgerufenen Verschärfung der Arbeits 
marktlage. 
Einige Anmerkungen zum Steuersenkungstqil: Das Argument, 
von der durch die Steuerreform bewirkten Gesamtentlastung - 
insgesamt 44 Milliarden DM - würden 17 Milliarden DM auf die 
Erhöhung des Grundfreibetrages, die Absenkung des Ein 
gangssteuersatzes auf 19 % und die Erhöhung des Kinderfrei 
betrages entfallen und damit Steuersenkungen für die unteren 
Einkommensgruppen bewirken, ist Augenwischerei und zieht 
nicht. Das zieht deshalb nicht, weil ohne weiteres festzustellen 
ist, daß von diesen Maßnahmen alle Steuerpflichtigen, also 
auch die Höchstverdienenden, profitieren. Falls es weiterer Bei 
spiele bedarf: Von einer Senkung des Spitzensteuersatzes auf 
53% sind ganze 0,1 % der Steuerpflichtigen betroffen. Eine 
mögliche Abschaffung des Arbeitnehmerfreibetrages: Davon 
wären betroffen 21 Millionen Steuerpflichtige. Zur Ergänzung: 
57 % aller Arbeitnehmerhaushalte verfügen über ein Bruttoein 
kommen bis zu 48 000 DM - damit man sich anhand solcher 
Zahlen auch einmal die Dimensionen richtig zurechtrückt. Das 
also, was die Steuerreform eigentlich bewirken sollte oder bewir 
ken müßte, nämlich beschäftigungswirksame Impulse zu geben, 
genau das tut sie eben nicht! Die größte steuerliche Entlastung, 
das habe ich versucht deutlich zu machen, ist in den oberen Ein 
kommensgruppen zu verzeichnen. Dadurch wird nicht der be 
schäftigungswirksame Konsum, sondern der Luxuskonsum und 
die private Ersparnisbildung gefördert. Unmittelbar konsumwirk 
same Steuerentlastung könnte nur durch eine wesentliche Ver 
längerung der unteren Proportionalzone erreicht werden. Damit 
würde das schnelle Hineinwachsen in die Progressionszone ver 
hindert werden. Diese wird zwar nach dem Sfeuersenkungser- 
weiterungsgesetz abgeflacht, trägt aber damit insgesamt nicht 
zur sozialen Ausgewogenheit bei, da die steuerliche Veranla 
gung kumulativ konstruiert ist mit der Folge, daß alle im 
unteren Bereich gewährten Vergünstigungen auch den oberen 
und höchsten Einkommen zugute kommen. 
Berlin hatte im März 1987 ca. 94 000 Arbeitslose. Da stellt 
sich natürlich die Frage, wie hier durch die Steuerreform Abhilfe 
geschaffen werden kann, insbesondere wie die Steuerreform auf 
den gesamten sozialen Bereich durchschlägt. Daß von seiten 
des Bundes mit einer Verringerung der jährlichen Zuwachsrate 
der Bundeshilfe bis 1990 gerechnet werden muß, ist absehbar. 
Die Frage bleibt, ob es überhaupt noch Zuwachsraten gibt oder 
ob im Hinblick auf die Finanzmisere des Bundes nicht mit 
empfindlichen Kürzungen zu rechnen ist. Diese Liste der mögli 
chen Fragen ließe sich ganz leicht fortsetzen, aber mit Blick auf 
die Uhr werde ich darauf verzichten müssen. 
Insgesamt gesehen kann man nur sagen, es gibt gefährliche 
Größenordnungen, sowohl was den Bereich der Entlastung, 
insbesondere aber was den Bereich der Verschuldung anbetrifft. 
Gefährliche Größenordnungen! Man muß an dieser Stelle deut 
lich sagen, der Bundesfinanzminister hat längst sein Image als 
Etatsanierer verloren; der Herr Finanzsenator wird Mühe haben, 
die Auswirkungen auf den Berliner Landeshaushalt in Grenzen 
zu halten. Die Rechnung für diese verfehlte Finanzpolitik, daran 
kann meines Erachtens heute gar kein Zweifel mehr bestehen, 
zahlt auf jeden Fall der Bürger. 
[Beifall bei der SPD und der AL] 
Präsident Rebsch; Das Wort für die Fraktion der CDU hat 
der Abgeordnete Dr. Haase. 
Dr. Haase (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten 
Damen und Herren! Die mehrfache Vertagung der Großen 
Anfrage über die Steuerreform zeigt, Frau Kollegin Müller, daß 
auch die SPD-Fraktion dieses Thema als nicht bedeutsam für 
das Berliner Landesparlament ansieht. Diese Einschätzung ist 
richtig, weil die Zuständigkeit beim Deutschen Bundestag liegt. 
Am 20. Mai hat dessen Plenum das Steuersenkungserweite 
rungsgesetz 1988 debattiert und beschlossen, in seinen Aus 
schüssen wird laufend diskutiert sowie informiert, und in der 
gegenwärtigen Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages 
steht die Reform der Besteuerung für das Jahr 1990 im 
Mittelpunkt. Ohne den aktuellen Informationsstand aus Bonn hier 
zu kennen, ist die Gefahr einer Phantomdebatte in Sicht, bekann 
te Standpunkte werden wiederholt, und das langweilt insgesamt. 
Deshalb wäre es richtiger, diese Anfrage zurückzuziehen, statt 
hier zu versuchen, aus einer Steuersenkung eine Steuererhö 
hungsdiskussion zu machen. Gleichwohl nutzen wir die Gunst 
der späten Stunde, den Berliner Steuerbürgern zu erklären, daß 
die in Bonn vereinbarte Reform nicht nur ihren Namen verdient, 
sondern auch sozial ausgewogen ist. Sie wird die Wachstums 
kräfte stärken, die Investitionsfähigkeit und die berufliche Lei 
stungsbereitschaff fördern und so mehr Beschäftigung schaf 
fen. Dies ist eine Reform, Herr Kollege Schneider, bemerkens 
werter Quantität, aber auch neuer Qualität. 
[Schneider (SPD): Weiß Gott!] 
Keine Inflation zeigt, weniger Staat bedeutet mehr Kaufkraft, 
keine Erhöhung der Staatsquote beweist, weniger Staat führt zu
	        
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