Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
52. Sitzung vom 14. Mai 1987
Dr. Lange
Auch ein weiteres war nicht ganz korrekt zitiert: Die danach
angehörten Verbände, Institutionen wie Caritas etc. haben natür
lich immer gesagt, daß es wünschenswert wäre, wenn wir die
Schulpflicht hätten. Dies aber immer unter der Zielsetzung, daß
natürlich auch sie das primäre Interesse daran haben, aus den
bisher 60 % der 1 000 betroffenen Kinder möglicherweise die
100-Prozent-Grenze anzusteuern. Aber es war dort offen geblie
ben, ob nun die Schulpflicht, Herr Kollege Löhe, der einzig er
folgversprechende Weg ist. Deshalb sind wir uns einig: Wir
müssen versuchen, aus den 60 Prozent 99 oder 100 Prozent zu
machen. Nur, um diesen Weg erfolgreich zu gehen, müssen wir
erst einmal die Fakten haben, und die Fakten haben wir für diese
schwierige Problematik nicht. Das hat sogar der Kollege Kuhn
eingangs seiner Ausführungen beklagt.
Wir wissen eben nicht exakt, wie viele Kinder von Asylbewer
bern sich im schulpflichtigen Alter befinden und seit 1985 auf
Wunsch der Erziehungsberechtigten die Berliner Schule be
sucht haben bzw. von den besonders für diesen Personenkreis
eingerichteten, auch die Rückkehr erleichternden Angebotsmaß
nahmen Gebrauch gemacht haben.
Wir wissen eben auch nicht, mit welchem Erfolg letztlich Kin
der von Asylbewerbern die Berliner Regelschule besucht haben
und welche Erfahrungen mit dem besonderen Unterrichtsange
bot gemacht wurden.
Wir wissen weiterhin nicht, ob die bisherigen Informa-
tionsmaßnahmen des Senats optimal sind. Deshalb haben wir
den Senat gebeten, auch zu diesem dritten Komplex uns erst ein
mal Fakten und Auskünfte zu geben.
Deshalb, Herr Kollege Löhe, auch der unbedingt notwendige
vierte Aspekt unseres Antrags, nämlich den Senat aufzufordern,
uns mitzuteilen, ob ihm Erkenntnisse darüber vorliegen, daß
schulpflichtige Kinder von Asylbewerbern letztlich keines der
beiden Unterrichtsangebote wahrnehmen, und gegebenenfalls
aus welchen Gründen dies nicht erfolgt.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Bemerkung: Wir dürfen
das Problem nicht immer nur aus der einen Sicht sehen. Wir
müssen auch sehen, daß wir funktionierende Gruppen haben,
nämlich Schulklassen, die ohnehin schon das Problem der Inte
gration der übrigen ausländischen Kinder haben. Die Erfahrun
gen, die Pädagogen, aber auch Eltern in anderen Bundeslän
dern gemacht haben, zeigen sich in dem Problem, ob es auf
Dauer zumutbar ist, daß in Klassen für zwei, drei Monate ein Kind
hineinkommt, dann hinaus muß, weil der Asylantrag der Eltern
abgelehnt wurde, und hier über ein Schuljahr hinweg oder über
vier oder sechs Schuljahre hinweg einer Schulklasse - einer
funktionierenden Einheit - zugemutet wird, dort 10, 20, 30 Kin
der partiell für einige Wochen oder Monate zu integrieren.
Ich kann nur dem folgen, was die Schulverwaltung uns dort an
Fakten in Übereinstimmung mit den Erfahrungen in anderen Bun
desländern vorgetragen hat. Ich darf zitieren;
Schulpflicht hätte zur Folge, daß die Beschulung dieses
Personenkreises im System der Berliner Schule, die für
Ausländer auf Integration ausgerichtet ist, erfolgen muß.
Da über 90 % der Asylanträge letztendlich abgelehnt werden
- und Sie wissen, Herr Kollege Löhe, die Entscheidungen des
Bundestages und der Bundesregierung vom Herbst letzten
Jahres gehen ja in die Richtung, Asylverfahrensdauern nicht
mehr von drei, vier, fünf Jahren zu bekommen, sondern von einem
Jahr anzustreben, maximal von zwei Jahren -, hätte dies zur Fol
ge, daß dann eine ausschließlich auf Integration dieses Perso
nenkreises ausgerichtete Beschulung nicht sinnvoll sein kann.
Reintegrationsprogramme - so die Schulverwaltung - können
nicht in das Rlichtschulangebot der Berliner Schule aufgenom
men werden; sie müssen ein Angebot bleiben, von dem auf frei
williger Basis Gebrauch gemacht werden kann. Genau diesen
Weg zu gehen und die notwendigen Informationen darüber zu
erfahren, wie wir diesen Weg in unserer gemeinsamen Zielset
zung erfolgreicher gehen können, dient unser Antrag. Lassen Sie
erst den Senat die gewünschten Unterlagen liefern, dann können
wir noch einmal über diese Problematik reden. Aber ich bin heute
schon sicher, daß wir, wenn diese von Ihnen und uns gewünsch- (C)
ten Informationen vorliegen werden, zu keinem anderen Ergebnis
in der Sache kommen werden. - Vielen Dank!
[Beifall bei der F.D.P. - vereinzelter Beifall
bei der CDU]
Stellv. Präsident Longolius: Herr Kuhn hat noch einmal das
Wort.
Kuhn (AL); Herr Dr. Lange, Ihre Ausgrenzungsversuche - das
sozusagen mit Nichtbeachtung zu bestrafen, was Ihnen nicht ins
Konzept paßt - haben wir nun nicht nur von Ihnen, sondern auch
von anderen Kollegen der Regierungsfraktionen in verschiede
nen Ausschüssen jetzt schon mehrfach zu spüren bekommen.
Wir wissen auch, daß Sie versuchen werden, sich so der sach
lichen Auseinandersetzung mit dem, was wir sagen und beab
sichtigen, zu entziehen -
[Dr. Wruck (CDU): Aber Sie können ja gar nicht
zwischen den einzelnen Ausschüssen unterscheiden!]
aber so leicht klappt das eben doch nicht. Und wenn Sie meinen,
Sie könnten sich auf Herrn Löhe zurückretten, dann haben Sie
anscheinend nicht verstanden, daß wir beide in der Sache
dieselbe Forderung vertreten haben.
[Zuruf von der F.D.P.: Der ist aber glaubwürdiger
als Siel]
Wenn Sie vielleicht meinen, Ihren Arbeitsstil in Ihrer Fraktion
auf die AL übertragen zu müssen, und sich nicht vorstellen kön
nen, daß wir, bevor wir hier dieses Amt antreten, auch einmal die
Anhörungsprotokolle lesen - anscheinend haben Sie sie schon
wieder vergessen - und uns auch rückversichern und erkundi
gen, ob sich seit der Anhörung etwas geändert hat, dann darf ich
Ihnen empfehlen, das auch einmal zu tun; denn dann könnten Sie
feststellen, daß sich seit der Anhörung nichts geändert hat. Es (d)
gibt immer noch Fälle von Kindern, die nicht in die Schule kön
nen, weil sie faktisch durch das Verhallen der Schulbehörden
ausgegrenzt werden, und sich das Problem überhaupt nicht auf
gelöst hat - die Kinder werden nur älter.
Und wenn Sie sagen: Bei einem ein- bis zweijährigen Aufent
halt hier ist das vielleicht nicht mehr so wichtig; von Integration
kann man da sowieso nicht reden; lassen wir es doch lieber ganz
und machen irgendwelche Sonderkurse! - dann negieren Sie
alle Aussagen, die belegen, wie erfolgreich die unterschiedlich
sten Kinder aus den verschiedensten Nationen in Regelklassen
am Schulbetrieb teilnehmen können, dann ignorieren Sie das,
halten das für unwichtig, meinen, hier braucht niemand Deutsch
zu lernen, wenn er ein bis zwei Jahre hier sein muß. Bei Ihnen
liegt alles auf der Linie der Ignoranz und Unmenschlichkeit, die
Sie bei diesem Komplex immer wieder neu vorführen. Das dis
qualifiziert Sie auch mit jedem Beitrag erneut.
[ Beifall bei der AL]
Stellv. Präsident Longolius: Gestatten Sie eine Zwischen
frage des Abgeordneten Biederbick?
Kuhn (AL): Nein, im Moment noch nicht! - Dann klang da
noch etwas an, was ich höchst bedenklich finde: Ihre Sorge um
das Wohl der deutschen Eltern - Sie vertreten ja energisch die
Möglichkeit, weitere Privatschulen aufzubauen, auch als Aus
druck der Schwierigkeiten, die im öffentlichen Schulwesen be
stehen und vor denen Eltern schon fliehen -, denen man an
scheinend nicht zumuten darf, daß in die ohnehin schwierigen
Regelschulklassen im öffentlichen Schulwesen ein auslän
disches Kind für ein Schuljahr hinzukommt. Das ist nun wirklich
an den Haaren herbeigezogen. Wir kennen keine Fälle, in denen
sich Eltern dagegen gesperrt hätten, daß ausländische Kinder
mal ein Schuljahr lang in der Klasse beschult werden. Wir ken
nen nur positive Fälle, in der Finow-Schule zum Beispiel, wo das
hervorragend klappt, wo die Integration in die Regelklasse über
haupt kein Problem ist. Wenn Sie meinen, wer Schulpflicht sage,
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