Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
46. Sitzung vom 12. Februar 1987
Sen Dr. Scholz
(A) Streckungskammern bei dem Landgericht Berlin ab. Sollte diese
Spruchpraxis zuweilen den Eindruck vermittelt haben, in Berlin
würden im Vergleich mit anderen Bundesländern seltener
Gefangene aus der Strafhaft vorzeitig entlassen, so kann daraus
jedenfalls nicht der vordergründige Schluß gezogen werden, im
Berliner Strafvollzug werde weniger mit den Gefangenen auf die
vorzeitige Entlassung hingearbeitel als im Vollzug der anderen
Bundesländer. Im übrigen trifft es nicht zu, daß Berlin das
Schlußlicht der Länder hinsichtlich vorzeitiger Entlassungen dar
stellt. Werden nämlich den richterlich verfügten Entlassungen
diejenigen, die auf einem Gnadenerweis beruhen, zugerechnet,
so ergibt sich ein deutlich verbessertes, ein deutlich günstigeres
Bild. 1985 wurden von 3 802 Gefangenen insgesamt 645 vor
zeitig aus der Haft entlassen. Das sind 17 %. 1986 waren es
797 von 3 415 Gefangenen. Dies ergibt eine Steigerung auf
23 %.
Ich komme damit zur Beantwortung Ihrer Frage 2. Hier
behaupten Sie, § 10 des Strafvollzugsgesetzes normiere den
offenen Vollzug zum Regelvollzug. Das ist falsch! In der juri
stischen Diskussion über den Anwendungsbereich des offenen
Vollzuges werden nämlich zu Recht die Auffassungen vertreten,
daß dies auf den geschlossenen Vollzug zutreffe und eben ein
Regelausnahmeverhältnis nicht angenommen werden darf. Das
Strafvollzugsgesetz geht nicht davon aus, daß der offene Vollzug
die Regel und der geschlossene Vollzug die Ausnahme darstellt.
Es streicht zwar die Bedeutung des offenen Vollzuges verschie
dentlich und durchaus mit Recht besonders heraus, geht aber
vom geschlossenen Vollzug als Normalfall aus. Dies folgt aus
zahlreichen Einschränkungen des § 10 Abs. 1, etwa mit den
Worten „soll“, „mit seiner Zustimmung“, „wenn er den Anforde
rungen genügt“, „nicht zu befürchten ist“ sowie mit der zwingen
den Auffangvorschrift des Absatzes 2, wonach im übrigen die
Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen sind.
Ein Gefangener soll, wenn er zustimmt, in einer Anstalt des
offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn er dafür
B) geeignet ist, also insbesondere weder Flucht- noch Mißbrauchs
gefahr bestehen. Zu dieser in § 10 Strafvollzugsgesetz normier
ten Forderung des Gesetzgebers kann ich für meinen
Geschäftsbereich sagen, daß ihr bereits heute voll entsprochen
wird.
Weiterhin wird ohne jede Begründung von Ihnen behauptet,
im offenen Vollzug herrschten teilweise katastrophale Zustände.
Auch dies muß ich mit Entschiedenheit zurückweisen! Was der
Berliner Strafvollzug entsprechend der Bedeutung des offenen
Vollzuges tut und wieweit er damit erfolgreich ist, darf ich Ihnen
mit folgenden Beispielen belegen: Die Zahl der Haftplätze im
offenen Vollzug und die Zugangsmöglichkeiten sind ständig
erweitert worden. Mit der Einrichtung Ollenhauerstraße und der
nutzbar gemachten Nebenanstalt Lichterfelde der Vollzugs
anstalt für Frauen konnte der offene Vollzug insgesamt auf 707
Plätze erweitert werden. Die bisher geltende Regelung, wonach
eine Verlegung in den offenen Vollzug grundsätzlich nur mit einer
Reststrafe von höchstens zwei Jahren in Betracht kommt, ist
dahin gehend geändert worden, daß dies jetzt auch schon bei
einer Reststrafe von maximal drei Jahren erfolgen kann, sofern
dem Gefangenen ein Arbeitsplatz in einem Anstaltsbetrieb zuge
wiesen werden kann. Die Zulassung zum Freigang ist dergestalt
erweitert worden, daß dies grundsätzlich schon mit zwölf Mona
ten, bisher waren es neun Monate, vor dem voraussichtlichen
Entlassungszeitpunkt und in Ausnahmefällen schon fünfzehn
Monate, bisher waren es zwölf Monate, vor diesem Zeitpunkt
erfolgen kann.
Der Senat hat inzwischen auch eine Erweiterung der Direkt
ladungsmöglichkeit vorgenommen, indem nun nicht allein auf die
Höhe der erkannten Freiheitsstrafe, sondern auch auf einen vor
aussichtlichen Strafrest abgestellt wird. Das bedeutet, daß ein
Verurteilter, gegen den ursprünglich eine höhere als einjährige
Strafe verhängt worden war, nach einer Teilverbüßung in den
offenen Vollzug geladen werden kann, wenn der noch aus
stehende Strafrest ein Jahr nicht übersteigt. Diese Maßnahmen
zeigen deutlich, daß der Senat in seinen Bemühungen, den offe
nen Vollzug weiter auszubauen, wesentlich und erheblich voran
gekommen ist.
Die Bereitstellung von zusätzlichen Haftplätzen allein ist (C)
jedoch für einen effektiven Ausbau des offenen Vollzuges nicht
genügend. Ein weiterer Ausbau dieses Anteil setzte voraus, daß
ein Überhang an geeigneten Gefangenen vorhanden wäre. Ich
darf Ihnen versichern, daß dies gegenwärtig nicht der Fall ist. Im
Gegenteil, bereits jetzt bereitet es den Anstalten erhebliche
Schwierigkeiten, die vorhandenen offenen Plätze mit geeigneten
Gefangenen zu belegen. Auch langfristig wird es daher voraus
sichtlich nicht möglich sein, die Mehrheit der Gefangenen im
offenen Vollzug unterzubringen, so daß der geschlossene Voll
zug auch praktisch, auch in der tatsächlichen Praxis, der Regel
vollzug bleiben wird. Der Senat plant ungeachtet dessen, durch
Schaffung strukturierter Vollzugsbereiche auch im offenen Voll
zug die Arbeit mit den Gefangenen zu verstärken und zu inten
sivieren. Für die noch nicht zum Freigang zugelassenen Gefan
genen des offenen Vollzuges wird erstmals eine größere Anzahl
von Arbeitsplätzen in der Anstalt zur Verfügung gestellt werden.
Das von Ihnen angesprochene Schließungskonzept trägt dem
derzeitigen niedrigen Belegungsstand, der in diesem Ausmaß
nicht vorhersehbar war, Rechnung. Er beinhaltet im wesent
lichen keine endgültige Aufgabe von Vollzugseinrichtungen, son
dern nur ihre vorübergehende Stillegung und betrifft im übrigen
im Männervollzug nur die ohnehin überholte Altbausubstanz.
Zu Ihrer Frage 3: Der Senat prüft zur Zeit, ob und inwieweit ^
das Strafvollzugsgesetz fortentwickelt werden kann und einzelne
Bestimmungen zu ändern sind. Dies geschieht auf der Grund
lage des Beschlusses der Konferenz der Justizminister vom 16.
bis 18. September 1986 in Mainz.
Ich habe mich im Rahmen dieser Konferenz dafür eingesetzt,
daß trotz der auch zukünftig gebotenen sparsamen Ausgaben
politik die Einführung der nach §§ 190 bis 193 Strafvollzugs
gesetz vorgesehenen Sozialversicherung für Gefangene und
eine deutliche Erhöhung des Arbeitsentgelts nach § 200
StVollzG nicht auf unabsehbare Zeit vertagt werden darf. Das
tägliche Arbeitsentgelt beläuft sich derzeit auf einen Betrag
zwischen 5,29 DM und 8,82 DM, so daß teilweise nicht einmal (D)
die Bildung des ohnehin gering bemessenen Überbrückungs
geldes nach § 51 StVollzG gelingt. Es wird sich im Laufe der
weiteren Aussprache auf Länderebene zeigen, ob sich für den
aufgezeigten Anderungsbedarf eine Mehrheit findet, die eine
entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat erfolgreich
erscheinen läßt.
Die Vorschrift des § 41 Abs. 3 StVollzG bestimmt, daß Gefan
gene in von privaten Unternehmen unterhaltenen Betrieben nur
mit ihrer Zustimmung beschäftigt werden dürfen. Diese Bestim
mung ist bisher nicht in Kraft getreten. Im Berliner Strafvollzug
arbeiten überwiegend Gefangene in anstaltseigenen Betrieben, i
Die Arbeit in den Unternehmerbetrieben ist bei den Gefangenen ’
jedoch ebenso beliebt. Das Land Berlin erhebt von da her keine
Bedenken, daß § 41 Abs. 3 StVollzG in Kraft gesetzt wird.
Zu Ihrer Frage 4: Die zehnjährige praktische Erfahrung der
Anstalten und der Senatsverwaltung mit der Gefangenenmit
verantwortung und den Beiräten lassen den Schluß zu, daß
diese Institute sich im Rahmen der ihnen durch die entsprechen
den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes eingeräumten
Rechte im wesentlichen bewährt haben. Was die Gefangenen
mitverantwortung anbetrifft, ist kritisch anzumerken, daß eine
funktionierende Insassenvertretung im offenen Vollzug wegen
der starken Außenorientierung und in der Untersuchungshaft
wegen der starken Fluktuation kaum zustande kommt.
Das Grundgesetz bestimmt bekanntlich in Artikel 19 Abs. 4,
daß jeder gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt, durch die
er in seinen Rechten verletzt werden kann, den Rechtsweg
beschreiten darf. Diese Möglichkeit steht auch dem Strafgefan
genen durch einen entsprechenden Antrag auf gerichtliche Ent
scheidung nach dem Strafvollzugsgesetz zu. Die Tatsache, daß
nur wenige Strafgefangene in dem Anlragsverfahren vor den
Strafvollstreckungskammern obsiegen, läßt den eindeutigen
Schluß zu, daß die angegriffenen Vollzugsmaßnahmen der
Anstalten mit dem Gesetz in Einklang stehen. Nicht zulässig ist
also der schlicht unterstellende Gegenschluß. Es sind keine
Fälle bekanntgeworden, in denen rechtskräftige Entscheidungen
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