Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
46. Sitzung vom 12. Februar 1987
Wagner, Jürgen
(A) Pieroth ja einiges ausgesagt, aber er bezog sich meines Erach
tens viel mehr auf das neue Gutachten des DIW. Fast jeder dritte
Satz bezog sich darauf; und er hat es so ausgeschlachtel, wie er
es aus seiner Sicht nur tun konnte. Aber man kann auch einige
Wermutstropfen in diesem Gutachten sehen. Ob also dieser
Ansatz stimmt, das muß sich erst noch herausstellen. Wir sind
nicht grundsätzlich, aber doch in einigen Punkten anderer Mei
nung.
Sie wollen ablenken von Ihrer Unfähigkeit, die Massen
arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.
[Beifall bei der SPD]
Die letzten Zahlen des Berliner Arbeitsmarktes, der Anstieg der
Arbeitslosenzahlen um 4 000 auf 93 000 Arbeitslose ist nicht
allein mit dem strengen Winter zu erklären. Auch saisonbereinigt
ist eine Steigerung zu verzeichnen, wobei die Zahl der offenen
Stellen erneut zurückgegangen ist. Selbst die Industrie- und
Handelskammer hat nach ihrer letzten Konjunkturumfrage die
wirtschaftliche Einschätzung negativer als früher bewerfet: wie
eben jetzt auch das DIW.
[Kammholz (F.D.P.): Siehe Nordrhein-Westfalen!]
- Bitte, wir sprechen jetzt aber von Berlin. - Und wenn die Aus-
i sagen aus einigen Berliner Betrieben stimmen, so kommen in
nächster Zeit zum Beispiel bei Standard-Elektrik-Lorenz in
Tempelhof noch einige Hundert, wenn nicht Tausend dazu.
Sie wollen ablenken von der Tatsache, daß im Bundesgebiet
1985 fast 19 000 Insolvenzen, darunter 14 000 Pleiten, von
Unternehmen und Freiberuflern vorliegen und die Zahlen für
1986, die ich heute gerade in der Zeitung las, nur um ein ganz
klein weniges besser geworden sind - 34 Insolvenzen weniger,
34 bei fast 19 000,
Ablenken wollen Sie auch von der Zahl der Unternehmensstill
legungen, die von 135 000 in 1980 bis zum Jahr 1985 auf mehr
als die doppelte Zahl, auf 290 000 - nun zwar in der gesamten
Bundesrepublik - gestiegen ist. Und die Zahlen für Berlin, wie
wir im Wirtschaftsbericht des Senats lesen konnten, sind nicht
wesentlich besser. Und Sie wollen ablenken von dem Umstand,
daß in vielen Fällen eine viel zu geringe Eigenkapitaldecke der
Grund dafür ist und mangelnde oder falsche Finanzhilfe durch
die staatliche Förderung vorliegt.
Sie, Herr Helias, sprachen ja auch vom Wagniskapital. Sie
wollen aber ablenken von dem Mißstand, daß deutsche Venture-
Capital-Gesellschaften im Gegensatz zu den USA und zum Bei
spiel Großbritannien in ungenügender Weise Risikokapital
bereitstellen. Ihr oberster Wirtschaftselefant - und jetzt spreche
ich die Freunde von der F.D.P. an - , Herr Bangemann, macht es
sich da etwas zu einfach, wenn er in Beantwortung einer Großen
Anfrage vor dem Deutschen Bundestag zur Lage und den Per
spektiven des selbständigen Mittelstands in der Bundesrepublik
Deutschland lapidar formuliert; „Die Verbesserung der Eigen
kapitalausstattung ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung
grundsätzlich Aufgabe der Unternehmen selbst.“ - So nicht, so
nicht, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P., diese Ein
stellung hilft den Existenzgründern wenig! Unternehmen, die es
geschafft haben, ihre Ideen in marktreife Produktionen umzuset
zen, stehen ganz gut da. Ihnen kommt nicht nur die Anteilnahme
der staatlichen Geldgeber zu, um diese bemühen sich auch die
Venture-Capital-Gesellschaften. Diese steigen nämlich erst ein,
wenn sich das Risiko verringert hat. Das ist doch wohl kaum
noch mit dem Begriff Wagniskapital-Finanzierung zu beschrei
ben. Wo bleibt da Ihr Anstoß aus Berlin, Herr Senator?
Wo bleibt Ihr Bemühen, Herr Senator Pieroth, die kleinen Exis
tenzgründer besonders zu fördern, die Ein-, Zwei-, Drei-Mann
oder -Frau-Betriebe, die auch in Berlin große Schwierigkeiten
haben, in die Förderung überhaupt reinzukommen, die von den
Banken mit Problemen überhäuft werden, Kleinkredite zwischen
10 000 und 50 000 DM zu bekommen - die darüberliegen, die
schon haben, denen wird auch gegeben -, die Friseusen und
Offsetdrucker, die Sanitärhandwerker und Rohrreiniger und viele
andere, die dann auch noch, wenn sie den Kredit nun endlich
erhalten haben, ihn nur bröckchenweise, nach Vorlage jeweiliger
abrufbarer bezahlter Rechnungen von den Banken ausbezahlt (C)
bekommen - und ich kenne solche Beispiele wo die Bürg
schaften nicht durch den Staat übernommen werden, sondern
durch Private übernommen werden müssen - wie in einem Fall,
in dem ich selbst als Privatmann die Bürgschaft für einen
Existenzgründer, der aus der DDR gekommen ist, übernehmen
mußte. Wo bleibt da Ihr Engagement, Herr Senator?
[Beifall bei der SPD]
Und nun am Schluß der Aufzählung Ihrer Ablenkungsmanöver
ein ganz dicker Brocken, der Ihnen, wie ich weiß, auch nicht
schmeckt, den Ihre Partei aber mitverantworten muß, der Ihrem
Bemühen um ein gutes Gründungsklima für kleine und mittlere
Unternehmen einen gewaltigen Dämpfer aufgesetzt, wenn nicht
sogar völlig konterkariert hat, im Bund und in Berlin: Das ist das
Ablenken von der Schweinerei - wie es auch Ihre Mittelstands
vereinigung genannt hat -, daß der CDU-Ministerpräsident des
Landes Baden-Württemberg dem Untertürkheimer Großunter
nehmen 160 Millionen DM zur Existenzgründung in den Rachen
wirft mit der Begründung, daß Daimler-Benz sonst möglicher
weise wie ein notleidender Hemdenfabrikant seine Made-in-
Germany-Flaggschiffe in Südkorea oder Taiwan zusammen
bauen lassen würde und dem Ländle Arbeitsplätze verloren
gehen könnten.
[Zuruf von Sen Pieroth]
Diese Maßnahmen Ihres Parteibundesvorstandsmitgliedes, Herr
Pieroth, müssen Sie den Kleinunternehmern erklären, wenn Sie
es können.
[Dr. Neuling (CDU): Was hat denn das mit
Senator Pieroth zu tun?]
- Er und Herr Diepgen sind doch auch in dem Bundesvorstand
in Bonn; und darin sitzt auch Herr Späth,
[Dr. Neuling (CDU): Die Entscheidung hat doch
mit dem Bundesvorstand der CDU nichts zu tun!]
Aber dies konterkariert doch auch in anderen CDU-geführten
Ländern Existenzgründungen von kleinen und mittleren Unter
nehmen, und da werden Ihre Hochglanzerklärungen in Wort oder
Schrift sehr brüchig. Das zeigt sich auch an einigen anderen Bei
spielen.
Es fehlen trotz der Broschüre der IHK Berlin „Ich mache mich
selbständig in Berlin“ - die nun wirklich keine Berliner Initiative
ist, das steht nämlich ganz eindeutig drin, sondern nach einer
Koblenzer IHK-Zusammenstellung vorgelegt wurde - quali
fizierte und erfahrene Unternehmensberater. Dieses hat der Prä
sident des Instituts für Betriebsberatung, Wirtschaftsförderung
und Forschung, Herr Bachmann, in der Zeitschrift „Erfolgreich
selbständig“ ausgeführt. Unfernehmensberater sind Mangel
ware. Die Industrie- und Handelskammern führen zwar Listen von
Beratern, über deren Qualifikation aber nur wenig bemerkt wird.
[Dr. Neuling (CDU): Bringen sie doch mal einen
Hauch von Logik in Ihre Ausführungen, das wäre
ganz hilfreich!]
Und wer nennt sich heute nicht schon alles Unternehmens
berater!
[Dr, Neuling (CDU): Unternehmer brauchen wir,
keine Berater!]
- Wenn die kleinen Leute, die zu mir kommen, mal zu Ihnen
kämen,
[Dr. Neuling (CDU): Sie vergessen, daß ich ein
Kleiner bin!]
- Ich weiß, Herr Neuling, ich war ja mit dabei, als Ihre Gruppie
rung vom Bund junger Unternehmer bei uns draußen ihre
Tagung abgehalten hat.
Ich gestehe Ihnen zu, Herr Senator, daß zu den Rahmenbedin
gungen, die zu Existenzgründungen führen, auch ein gesunder
Optimismus gehört, und auch die Frage der Psychologie in der
Öffentlichkeitsarbeit. Und da sind Sie Berliner Meister, und so
strahlen Sie auch ins Bundesgebiet aus. Das gehört dazu und ist
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