Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
44. Sitzung vom 22. Januar 1987
Reiß
(A) Kosten darf kein Mensch ins Krankenhaus gezwungen wer
den.
Ich fasse zusammen: Die Breitenaufklärung der Bevölke
rung muß drastisch verstärkt werden. Wenn 44% der von der
Caritas betreuten AIDS-Patienten heute schon Frauen sind,
wird das Reden von Risikogruppen zu einer gefährlichen
Hürde für die Informationspolitik. Die Willenserklärungen
müssen eindeutig sein, und widersprüchliche, auch nur inter
ne Papiere müssen korrigiert werden. Verhalten, das dem
immer wieder erklärten Willen entgegenläuft, muß erstens
durch die Information -z. B. bei Richtern und Staatsanwälten -
vorgebeugt werden, indem klargestellt wird, daß grundsätz
lich nicht zu vermuten ist, daß jeder Patient in den Test
stillschweigend einwilligt, und zweitens muß dem durch eine
Dienstanweisung entgegengewirkt werden, die die Einholung
einer schriftlichen Einverständniserklärung vor einem Test
vorschreibt, aus der auch die vorbeugende Aufklärung über
den Zweck und die beschränkte Aussagekraft dieser Untersu
chung dokumentiert wird.
Wenn ich - weil dazu im Senatsbericht über AIDS in Berlin
gerade nichts Präzises steht - mit einer Kleinen Anfrage
versuche, nähere Angaben zu erhalten - das war die Anfrage
Nr. 2414-, und dann mit dem Hinweis auf eben diesen Bericht
abgespeist werde, dann nehme ich das allerdings übel. Ich
habe einfach den Verdacht, daß manche von den Aktivitäten,
die in dem Bericht erwähnt werden, gar nicht wirklich stattfin
den, z. B. der erste Videospot, der nach meiner Erkenntnis
vom Bundesgesundheitsamt und durchaus gegen das Votum
des Senats und auch gegen das Votum der AIDS-Hilfe - ich
habe auch nicht viel von dem Ding gehalten - produziert
wurde, deshalb habe ich mich gewundert, daß der angeblich
vom Senat produziert worden sein soll. Da hat Jemand im
AIDS-Bericht etwas Gutes tun wollen und diesen völlig unsin
nigen Spot untergejubelt- bitte, ich bin heilfroh, daß Sie nicht
(B) dafür verantwortlich sind; Ihre Verwaltung hat’s sicherlich gut
gemeint. Jemand hat gemeint, man müßte sich mit fremden
Federn schmücken, aber diese blassen Federn haben Sie gar
nicht nötig. Es ärgert mich halt, wenn auch an anderen Stellen
solche Unkorrektheiten kommen. Wenn etwas noch nicht
geschehen ist, wovon die Verwaltung oder Sie selber hinter
her einsehen, daß es zukünftig geschehen soll, dann sind wir
bei diesem Thema doch wirklich alle kooperativ genug und
haben eine solche Atmosphäre, daß es ohne weiteres möglich
ist zu sagen: Das wollen wir in Zukunft machen, das ist noch
nicht geschehen. - Aber solche plumpen Herausredereien,
daß dann gesagt wird: „Vergleichen Sie im Bericht!“, in dem
eben nichts steht - darum habe ich ja nachgefragt -, das muß
doch nicht sein! Ich finde, das sollten Sie sich für die Zukunft
verkneifen, einfach deshalb, weil es das gute Klima stört, das
der Sache bisher doch sehr dienlich war; und wir sind damit,
glaube ich, ein ganzes Stück weitergekommen. Wenn wir
unsere Situation mit der in München vergleichen, dann sehen
wir deutlich, daß das für alle Beteiligten, Politiker, Infizierte,
Kranke, sicherlich von großem Vorteil ist.
Und vielleicht - wenn ich hier noch eine Schlußbemerkung
machen darf - sollten wir uns überlegen, ob es nicht sogar
einen Allparteienantrag geben könnte, der zu einer Bundes
ratsinitiative für eine bundesweite stärkere Aufklärungskam
pagne führt, um dem aus Bayern angekündigten Antrag, der
sicherlich bei niemandem hier im Hause auf Gegenliebe
stoßen wird, eine positive Alternative aus Berlin entgegenzu
setzen.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Präsident Rebsch: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete
Dr. Franz.
Dr. Franz (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Eingangs meiner Ausführungen möchte ich hier in aller
Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, daß diese Debatte sich - (C)
und das ist sehr wohltuend bei diesem Thema - von vielen
anderen Debatten hier im Hause durch eine große Überein
stimmung, viel Einfühlungsvermögen und eine faire Haltung
auszeichnet, und ich möchte ausdrücklich meinem Kollegen
Bayer für seine Worte hier danken.
Danken möchte ich auch dem Kollegen Reiß. Er hat hier
zwar - für viele im Hause sicherlich nicht ohne weiteres
verständlich - ganz spezielle Detailfragen angerissen, es
steht aber ohne Zweifel fest, daß diese schwierigen medizini
schen und juristischen Detailfragen, auch versicherungs
rechtliche Probleme, in der Tat der Aufarbeitung bedürfen,
daß hier eine Grauzone vorhanden ist; und ich stelle fest, daß
wir in dieser Sache, in der Fragestellung, wie wir nun an diese
Dinge herangehen, sicher „in einem Boot sitzen werden“,
Herr Reiß. Ihre Anregung zu einer Bundesratsinitiative war
interessant und wird sicher unsere Aufmerksamkeit finden.
Was Sie, Frau Schmid-Petry, vorhin im Hinblick auf doch
nicht so ganz befriedigende internationale Forschung aus
Berlin sagten, dem möchte ich entgegenhalten, daß wir in
Berlin doch ganz große positive Dinge vorweisen können.
Nicht nur, daß von Berlin aus diese entscheidenden Initiativen
in den deutschen Raum ausgegangen sind, sondern auch, daß
wir hier in Berlin sehr leistungsfähige Institute haben, die im
Bereich der Virologie und auf seiten der Institute des Bundes
gesundheitsamtes schon viel Arbeit geleistet haben
Auch in Deutschland insgesamt bewegt sich ja viel in dieser
Sache. Am Heidelberger international hochrenommierten
Krebsforschungsinstitut ist jetzt ein Institut für Tumorvirologie
neu eingerichtet worden, ein nationaler AIDS-Beirat ist erst
kürzlich ins Leben gerufen worden. Ich glaube, wir können
sagen, daß diese Dinge auf gutem Wege sind.
Meine Damen und Herren, in dieser Besprechung stehen
wir vor einem besonders für unsere junge Generation in ' '
Berlin äußerst wichtigen gesundheitspolitischen Problem. Es
gibt-wie schon mehrfach dargestellf wurde-eine neue, sehr
heimtückische Krankheit mit einer sehr hohen Sterblichkeit,
die natürlich auch auf Berlin übergegriffen hat. Eine gezielte
Behandlung dieser Krankheit oder eine vorsorgliche Impfung
ist nicht möglich; es gibt also trotz weltweiter fieberhafter
Anstrengungen vorerst keine positiven Aspekte.
Was uns in absehbarer Zeit bleibt, das ist die Aufklärung der
gefährdeten Menschen, Aufklärung der jungen Generation,
der Generation in den sogenannten „besten Jahren des
Lebens“, die von dieser tückischen Infektion, überwiegend
nach Art einer Geschlechtskrankheit übertragen, bedroht ist.
Somit ist es ein ganz sensibler Bereich menschlichen und
gesellschaftlichen Lebens, der da betroffen ist, für viele ein
Tabu. Es wäre aber unverantwortlich, darauf übergroße
Rücksichten zu nehmen; dazu ist die Sache viel zu gefährlich.
Wir wissen aus den USA und anderen Teilen der Welt sehr viel
über den Verlauf dieser Erkrankung und müssen daraus
lernen. Unsere Zahlen der Erkrankten und Toten entsprechen
genau den dortigen Verhältnissen vor drei bis vier Jahren; wir
wissen also, was auf uns zukommt. Weil die Zeit zwischen
Ansteckung und Ausbruch des vollständigen Krankheitsbildes
mehrere Jahre - man rechnet mit vier bis sechs Jahren, noch
längere Zeiträume werden diskutiert - beträgt, muß davon
ausgegangen werden, daß in der Tat im Sommer 1991, also in
fünf Jahren, in Berlin 10000 manifest an AIDS erkrankte
Menschen leben werden, etwa in dieser Größenordnung. Das
bedeutet, da nach ärztlicher Erfahrung etwa nach drei Jahren
90% der manifest Erkrankten tot sind, daß also mit nicht viel
weniger als 10000 - es sträubt sich alles in mir, diese Zahlen
hier in den Mund zu nehmen -, vielleicht 7000 - vorsichtig
geschätzt- oder 8000 Toten weitere drei bis vier Jahre später,
also zeitversetzt, in Berlin gerechnet werden muß, wenn
nichts dagegen unternommen werden kann im Sinne der
Therapie. Das sind natürlich Dimensionen, die uns zutiefst
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