Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
42. Sitzung vom 12. Dezember 1986
Haberkorn
(A) Das sind kleine Einsparungen, die sich aber summieren, weil
in vielen Bereichen vom Senat Einsparungen vorgenommen
werden. Das ist Ihre Sozialpolitik! Statt für die Leute dazusein,
streichen Sie ihnen weg, was nur geht. Senator Fink ist
deshalb für uns kein Wegbereiter für soziale Gerechtigkeit in
dieser Stadt. Er ist vielmehr ein Stopfmeister, der sich von
einem Loch in seinem sozialen Durchhängenetz zum anderen
hangelt und überall ein bißchen flickschustert, das allerdings
mit großem Agitpropaufwand und - so gesehen - auch nicht
ungeschickt,
[Beifall bei der AL]
So auch in dem wichtigen Bereich der Fürsorge für alte
Menschen. Er stellt mindestens immer eine Populärmaßnah
me vor, in diesem Jahr seine 1 Million DM für Wissensläden.
Dies hat natürlich für den begrenzten Personenkreis alter
Leute seinen Wert; 1 Million DM ausgegeben. Aber wenn wir
um wenige hunderttausend Mark - wenn überhaupt - im
Ausschuß gerungen haben, um alte Leute zu informieren,
welche Ansprüche sie im Bereich der Sozialhilfe haben, da
blockiert man total und gibt keinen einzigen Pfennig dafür her.
Das ist die Art und die Prioritätensetzung, die der Senator
macht.
Parallel dazu müssen wir uns über eins im klaren sein. Egal
welche strukturelle Verbesserungen für alte Menschen Sena
tor Fink vor hat, er hat auch bei seinen Modellen nicht vor, das
Lebensniveau der alten Leute über das Sozialhilfeniveau zu
heben. Das müssen wir testhalten, egal wie er das umformu
liert hat. Das ist ganz klar aus seinen Ankündigungen lesbar.
Was tut er zum Beispiel, wenn wir den Bereich der alten
Menschen nehmen, im Wohn- und Betreuungsbereich? Ich
will einmal auf die strukturellen Ansätze eingehen. Er tut da
nichts. Der Personalschlüssel in Alten- und Pflegeheimen ist
seit Jahren völlig unzureichend. Das wissen Sie alle. Die alten
Menschen werden dort nur noch verwaltet, kein Personal zum
Mobilisieren und Aktivieren der Menschen, keine Konzepte
gegen die unerträgliche Wanderschaft alter Menschen vom
Seniorenheim zum Pflegeheim, vom Krankenheim bis hin zum
Hospital, kein integriertes Heimangebol mit verschiedenen
Betreuungsstufen, das die Zwangswanderschaft überflüssig
machen würde. Wo schaltet sich der Senator ein, wenn aus
den Bezirken dieser Tage und Monate die alten Menschen mit
greulichen Methoden - sowohl von SPD- als auch von CDU-
Bezirken - in Seniorenwohnhäusern ausgetrickst werden,
damit diese nach der Heimmindestbauverordnung umgebaut
werden können? Es wird nicht mit ihnen, sondern nur gegen
sie gearbeitet. Da macht es sich besonders gut, auf der
anderen Seite zu fordern, Seniorenbeiräte zum Zwecke der
Mitbestimmung zu gründen. Aber sie an Ort und Stelle an den
Entscheidungen zu beteiligen, das plant der Sozialsenator
nicht.
Nun zum Behindertenbereich. Was tut der Senator, um die
Behinderten in dieser Stadt wirklich zu integrieren? Behinder
ten- und altengerechte Wohnungen, eine alte Forderung der
AL, in die Förderung des sozialen Wohnungsbaus als Muß-
Vorschrift aufzunehmen, geschieht beim Senat nicht. Es gibt
kein Wohnungsbauprogramm, in dem diese behindertenge
rechten Forderungen von Anfang an im Programm drin sind.
[Schicks (CDU): Sie haben keine Ahnung!]
- Tun Sie von da unten nicht so, als ob das stimmt, und hier
oben sagen Sie dann nichts dazu.
[Dr. Franz (CDU): Der Schicks
weiß darüber viel mehr als Sie!]
Den öffentlichen Nahverkehr behinderten- und altengerecht
umzugestalten, schleppt sich als halbherzige Maßnahme
schon seit Jahren dahin. Zu teuer, heißt es. Bis in das nächste
Jahrhundert wird geplant und geschustert, nicht zielgerichtet, (C)
sondern provisorisch wird vorgegangen. Also auch da keine
strukturellen Veränderungen, die behinderten Menschen eine
Perspektive bieten, um sich normal eingliedern zu können.
Im Behindertenbereich und den -Werkstätten arbeiten die
Menschen schon immer umsonst oder für ein Butterbrot. Da
gibt es auch keine neue Initiative des Senats, Behinderte in die
Arbeitswelt zu integrieren, sie aus der Aussonderung zu
holen, die Förderungsmittel vielleicht anders einzusetzen, so
einzusetzen, daß Betriebe mehr Motivation bekommen, Be
hinderte bei sich in den Betrieben arbeiten zu lassen und sie
für diese Arbeit auch mehr als nur einen Hungerlohn verdie
nen zu lassen. Als kleine Populärmaßnahme, weil die in
diesem Bereich auch nicht fehlen darf, haben wir aus der
letzten Sitzung erfahren, wird es ab nächstem oder übernäch
stem Jahr einen anrechnungsfreien Betrag von 100 DM für die
Behindertenwerkstätten geben. Das ist dann wahrlich ein
Motivationsschub, dort weiter zu arbeiten: wir können uns alle
freuen.
Oder nehmen wir den Bereich der ansteigenden Obdach
losigkeit in dieser Stadt, ein wahres Trauerspiel, wie der Senat
damit umgeht. Art. 19 der Verfassung von Berlin sagt, daß
jedermann das Recht auf Wohnraum hat, nicht auf Abstell
raum. Hier verfährt der Senat getreu dem Motto: Platz ist in der
kleinsten Hüfte - das Gedicht geht dann weiter: für ein
glücklich liebend Paar. Der Platz ist aber nicht da, glücklich
kann man auch nicht sein und leben erst recht nicht. Und es
sind immer mehr, die in diesen Einrichtungen leben müssen.
Die Behandlung unseres Antrages auf strukturelle Verbesse
rungen im Bereich der Obdachlosigkeit zeigt auch, daß hier
nichts geändert werden soll. Ich war vor kurzem in einem
Obdachlosenheim in der Teuplitzer Straße in Neukölln. Da
kann man sehen, wohin die Tendenzen gehen. Da wohnen 600
Leute in einem Heim miteiner Betreuung von vier Sozialarbei
tern in Vier- und Mehrbettzimmern, und es ist überhaupt nicht (°)
absehbar, daß dort Verbesserungen vorgesehen sind. Nichts
passiert da durch den Senat. Er läßt dies zu und pfercht die
Leute auch in Zukunft in Vier- und Mehrbettzimmern zusam
men und läßt sie dort verkommen. Da ist es schon makaber,
wenn der Senator durch die Berliner Lande zieht, Notüber
nachtungseinrichtungen für Obdachlose oder auch Schuld
nerberatungsstellen einweiht und den Betroffenen freude
strahlend über die Häupter streicht, ihnen viel Glück in ihrem
Elend wünscht. Auf solchen Veranstaltungen steht er dann da
wie der unentwegt lächelnde Hoffmannstropfen, als Gesund
beter mit mittelschwerem Heiligenschein und rettet immer nur
sich selbst, aber nicht die Betroffenen.
[Beifall bei der AL]
Er merkt gar nicht, daß ihm sein Heiligenschein über die
Augen gerutscht ist und ihn blind macht, strukturelle Defizite
im Gesundheits- und Sozialbereich noch zu erkennen.
[Beifall bei der AL]
Fazit aus diesen drei Teilbereichen als Beispiel: Der
Senator schafft forciert Randgruppen in dieser Stadt, statt
diese verstärkt zu integrieren und abzubauen. Gesundbeten
und Krankenhausplan passen auch gut zusammen. Die Moti
vation, Betten zu streichen, kam eindeutig aus dem Sparwillen
des Senats, nicht aus der Überlegung, Strukturen des Gesund
heitswesens prinzipiell neu zu überdenken. Seit langem liegt
die Tatsache auf dem Tisch, daß es in Berlin ungleiche
Gesundheitszustände in den Bezirken gibt. In den Arbeiferbe-
zirken liegt die Säuglingssterblichkeit höher als in den Außen
bezirken. Das sind alles soziale Indikatoren, die man auf einen
Nenner bringen kann: je ärmer, desto kranker. Hier schweigt
der Senator beharrlich, hier ist er stumm wie ein Fisch im
Rhein. Umfassende Gesundheitsplanung ist durch Betten
streichung nichtzu ersetzen. Ich schwöre Ihnen, Herr Senator,
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