Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
39. Sitzung vom 27. November 1986
Sen Dr. Scholz
(A) Gang gekommen. Auf Wunsch des Senats haben sich die
Alliierten zu einem solchen Rechtsbereinigungsverfahren
auch ihrerseits bekannt bzw. sich mit einem entsprechenden
kooperativen Vorgehen einverstanden erklärt, innerhalb des
sen die zuständigen Instanzen der Alliierten, gemeinsam mit
dem Senat, die Regelungen des alliierten Rechts unter dem
Aspekt der Bereinigung zusammenstellen, erfassen und über
prüfen.
Dieser Prozeß ist jedoch durchaus von längerfristiger
Qualität. Er hat bereits einige wesentliche Ergebnisse gezei
tigt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Es wäre jedoch
völlig abwegig zu erwarten, daß dieser Prozeß bereits abge
schlossen werden könnte oder die in unmittelbar absehbarer
Zeit sein könnte. Jene alliierten Rechtsbestimmungen sind
äußerst vielfältiger Art, sie stammen ebenso aus der unmittel
baren Nachkriegszeit wie aus Folgezeiten, in denen auch
deutsche Rechtsetzungsorgane wieder tätig waren; sie stam
men von unterschiedlichen Normsetzern, zum Beispiel einzel
nen Stadtkommandanten, allen drei Stadtkommandanten der
Westsektoren, der Alliierten Kommandantur in ihrer Gesamt
heit etc.; sie stehen teilweise auf unterschiedlichen Norm-
bzw. Geltungsstufen usw. Alles dies muß sorgfältig mitbe
dacht und mitgeprüft werden, wobei von vornherein eines
definitiv ausscheidet: nämlich die Berührung des alliierten
Rechts in seinen statusrechtlich relevanten Regelungen. Wo
es um den Status der Stadt geht, dort ist alliiertes Recht von
vornherein nicht antaslbar, da wäre es für die Stadt schädlich,
wenn in insoweit wahrhaftiger Voreiligkeit über die Bereini
gungsfähigkeit oder gar Bereinigungsnotwendigkeit gespro
chen werden würde. Alles dies hebe ich nicht nur deshalb
hervor, um auf die zeitlichen Bedingtheiten der Rechtsbereini
gung hinzuweisen, sondern dies hebe ich auch deshalb
hervor, um einigen, in der Öffentlichkeit entstandenen oder
auch erweckten Mißverständnissen entgegenzutreten.
(B) Bei dem alliierten Recht handelt es sich namentlich nicht
um einen die Bürgerrechte und die rechtsstaatlichen Frei
heitsgarantien etwa ignorierenden Komplex von Rechtsnor
men, die bestimmte Siegermächte nach dem Zweiten Welt
krieg im Rahmen ihrer Besatzungshoheit mehr oder weniger
willkürlich gesetzt hätten. Nein! Es handelt sich um Rechtsnor
men, die größtenteils erst die Grundlage des freiheitlichen,
des rechtsstaatlichen und demokratischen Lebens in Berlin -
also für die Berliner - begründet haben. Dieses alliierte
Recht diente und dient sicherlich auch spezifischen Zwecken
der Alliierten selbst. Aber gerade auch in solchen spezifi
schen Eigengesetzlichkeiten und Eigenzwecken ist das alliier
te Recht nur ganz selten in Konflikt mit dem deutschen Recht
getreten. Die Alliierten haben von Anfang an, sobald nämlich
wieder deutsche Rechtsetzungsorgane in Berlin und im Bund
tätig geworden waren, darauf geachtet, daß auch für die
Berliner vor allem deutsches Recht und nicht alliiertes Recht
gilt, daß alliiertes Recht wirklich nur eine ergänzende Rolle —
den spezifischen besatzungsrechtlichen Gegebenheiten ge
mäß - zu spielen hat bzw. spielt. Gerade auf der Grundlage
dieser besonderen Rücksichtnahme auf das deutsche Recht
und damit auch auf die Besonderheiten deutscher Rechts
überzeugungen ist es gelungen, zwischen deutschem Recht
und alliiertem Recht insgesamt ein so gutes Miteinander zu
entwickeln, daß bis heute keien wirklichen Konflikte oder
wirklichen Gegensätze zu konstatieren waren, obwohl die
Rechtsüberzeugungen etwa der Angelsachsen zu uns Deut
schen, aber auch die Rechtsüberzeugungen der Angelsach
sen etwa zu den Franzosen durchaus konträr sein können. Die
in diesem Zusammenhang als Konfliktfälle meist zitierten
Fälle des Schießplatzes Gatow und der Wohnanlage in Düppel
sprechen nicht etwa gegen diese von mir getroffene Feststel
lung — im Gegenteil. Gerade diese beiden Konfliktfälle
offenbaren mit besonderer Deutlichkeit, daß es im Grunde
kaum Konflikte gegeben hat, daß beide Rechtskreise im
Grunde und wirklich gut miteinander leben konnten und
miteinander leben.
Im Sinne der von mir eingangs zitierten rechtsstaatlichen (C)
Selbstverständlichkeit, in regelmäßigen Abständen jedes
Recht auf seine Zeitgemäßheit, seine fortgeltungsmäßige
Notwendigkeit hin zu überprüfen, ist jedoch der Rechtsberei
nigungsprozeß auch hinsichtlich des alliierten Rechts mit
Recht in Gang gebracht worden. Der Senat bekennt sich zu
ihm. Der Senat hält diesen Prozeß für richtig und er unterstützt
die Alliierten bei diesen Arbeiten mit Nachdruck.
Nun zu Ihren Einzelfragen, zu den Fragen 1 bis 4 zunächst;
Auf den verschiedenen Arbeitsebenen werden sowohl die
grundsätzliche Problematik als auch die Details, die das
Verhältnis des alliierten und des deutschen Rechts betreffen,
ständig mit den Schutzmächten erörtert. Soweit diese Detail
fragen konkrete Fälle betreffen, in denen etwa die Anwendung
alliierten Rechts zu Schwierigkeiten geführt hat oder zu führen
droht, werden durchweg rasch einvernehmliche Lösungen
gefunden. Soweit über die bereits in den Vorjahren veröffent
lichten Ergebnissen hinaus die Bereinigung bestimmter Be
reiche in Angriff genommen worden ist, zeigt die jüngste
Aufhebung von 67 Vorschriften auf dem Gebiet des Geld- und
Währungswesens durch die BK/O (86) 8 vom 8. Oktober 1986
das kontinuierliche Fortschreiten auf dem gemeinsam be-
schrittenen Wege.
Was die konkrete Frage nach Erörterungen über Aufhebun
gen von Strafvorschriften anbetrifft, die über die BK/O (85) 6
vom 23. August 1985 hinausgehen, so muß zunächst einmal
darauf hingewiesen werden, daß es wohl nur ganz wenige
Sfrafvorschriften geben dürfte, die nicht die im 1. Spiegelstrich
der Frage 4 aufgestellten Voraussetzungen für ihr Fortbeste
hen, vor allem also den unmittelbaren Schutz der Alliierten
selbst, erfüllen. Betrachtet man beispielsweise die im Straf
rechtsbereich grundlegende Verordnung Nr. 511, so fällt auf,
daß die Beeinträchtigung der Sicherheit der Schutzmächte
bereits vielfach ein Tatbestandsmerkmal ist und der in der
Anfrage verwendete Schutzbegriff wohl durchweg allen Nor- (D)
men zugrunde liegt.
Im übrigen berücksichtigt die Begrenzung auf den unmittel
baren Selbstschutz der Alliierten nicht deren Verantwortlich
keiten für Berlin und die Sicherheit seiner Bewohner und
damit denjenigen Bereich, für den Schutznormen entwickelt
werden müssen. Im Abschnitt 2 der Erklärung über Berlin vom
5. Mai 1955 haben die Alliierten unter anderem ausdrücklich
auf ihre Rechte und Verantwortlichkeiten zur Sicherung der
öffentlichen Ordnung und zur Erhaltung des Status und der
Sicherheit Berlins, seiner Wirtschaft, seines Handelns und
seiner Verbindungslinien hingewiesen. Das alles schließt
nicht aus, daß auch die bestehenden Strafnormen von den
Alliierten gemeinsam mit dem Senat, zum Beispiel aus Anlaß
deutsch-rechtlicher Regelungen in diesem Bereich überprüft
werden. So dürfte zum Beispiel die Einführung des fäl
schungssicheren Personalausweises Anlaß sein, auch Arti
kel 3 Nr. 4 der Verordnung Nr. 511, der das Nichtvorzeigen des
Personalausweises gegenüber einer Behörde der Alliierten
besonders unter Strafe stellt, zu überarbeiten und gegebenen
falls etwa zugunsten einer Bußgeldvorschrift aufzuheben.
Im 3. Spiegelstrich der Frage 4 fragen Sie danach, wieweit
es dem Senat gelungen sei - ich zitiere wörtlich: „eine
Institution mit richterlichen Unabhängigkeit zur Überprüfung
von Entscheidungen der Alliierten in Berlin einzurichten". —
Auch zu dieser Frage bedarf es einer sehr differenzierten
Antwort, differenziert deshalb, weil hier ebenso vor Voreilig
keit wie vor Einseitigkeit gewarnt werden muß. Der Senat
bekennt sich auch insoweit zum seinerzeitigen Beschluß des
Abgeordnetenhauses, verweist zum anderen aber darauf, daß
es hier um eine äußerst vielschichtige und besonders kompli
zierte Materie geht, die noch keine abschließende Lösung
gefunden hat, wobei im übrigen auch die Frage durchaus offen
zu lassen ist, ob eine Lösung tatsächlich in der Richtung der
Großen Anfrage der SPD — also in Richtung einer gerichtli
chen, einer justiziellen Instanz - liegen kann oder liegen
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