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Volume Nr. 30, 29. Mai 1986

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1986, 10. Wahlperiode, Band II, 19.-35. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
30. Sitzung vom 29. Mai 1986 
1665 
Dr. Rüter 
(A) Wie zu hören ist, sollen die Messungen stark reduziert 
werden, von Versorgungs- bzw. Vorsorgekonzepten ist nichts 
zu hören. Ist das, so frage ich, Handlungsunfähigkeit des 
Senats? Ist es seine Ignoranz gegenüber einem Teil der 
Wissenschaft? Oder ist er noch nicht einmal fähig, Zeitungen 
zu lesen oder die Nachrichten zu hören? - Da kommt ein 
Eisenbahnzug aus Rußland in Braunschweig an mit einer 
Kontamination von 700000 Becquerel; er muß dekontaminiert 
werden, natürlich, wie das heute noch üblich ist, in den Boden 
hinein, und hier in Berlin soll es noch Vollmilch-Trockenpulver 
geben, das hochgradig radioaktiv ist, das die Grenzwerte 
überschreitet. Und im übrigen wird Blattgemüse nur noch 
sporadisch und stichprobenartig untersucht. 
Dabei ist die aktuelle und absehbare radioaktive Belastung 
der Berliner Bevölkerung und des Berliner Bodens, auf dem 
wir leben, noch nicht abgeschlossen, beziehungsweise sie 
kann sich jederzeit wiederholen. Denn es dürfte bekannt sein, 
daß die radioaktive Wolke durch die Kraft des Feuers über 
dem Kernkraftwerk Tschernobyl bis in 10000 Meter Höhe 
aufgestiegen ist und nicht nur das Isotop Jod 131 enthielt, 
sondern infolge der Kernschmelze alles das in die Luft 
geschossen ist, was die Brennelemente enthalten haben. Das 
waren neben dem Jod Strontium, bekannterweise Plutonium, 
Cäsium und elf weitere Nuklide. Diese radioaktive Wolke 
kreist zwar nicht mehr kompakt um die Welt, sie ist auseinan 
dergerissen, aber Teile von ihnen vagabundieren durch die 
Atmosphäre. Es geht möglicherweise Regen in Gebieten 
herunter, radioaktiv versucht, aus denen wir unser Gemüse 
beziehen, wobei nicht nur Westeuropa eingeschlossen ist, 
sondern wegen des Vagabundierens möglicherweise Grie 
chenland, die Türkei und der Nahe Osten, der ja Lebensmittel 
herstellt, auf die man in der ersten Woche nach der Katastro 
phe gerne zurückgegriffen hat. Es besteht die Gefahr, daß 
Gebiete in unserer Nähe, aus denen wir unsere Lebensmittel 
B) beziehen, zum zweiten oder zum dritten Mal belastet werden. 
Es ist sehr schwer abzuschätzen, so ist zu lesen - ich bin 
kein Chemiker und kein Physiker -, wie sich diese Nuklide im 
Boden und der Nahrungskette unterschiedlich verhalten. 
Neben der unmittelbaren Kontamination von Gemüse durch 
Luft und Regen dringen diese Radionuklide in den Boden ein, 
gelangen in die Pflanzen und von dort in den Körper des 
Menschen oder über das Fleisch der Fische oder der Säuge 
tiere dann in den Körper. Dieser sogenannte radio-ökologi 
sche Transfer ist fast vollkommen unerforscht. Es gibt nur 
wenige Institute in der Welt, in Deutschland nur eines, das sich 
dieser Forschung widmet. Es sind lediglich Erfahrungswerte 
bekannt, die aus früheren Kontaminationen des Menschen 
oder Bodens mit der Radioaktivität bekannt sind. Es ist 
bekannt, daß aut dem Bikini-Atoll, als die dortigen Bewohner 
zurückkehrten, der Boden fast strahlungsfrei gewesen ist. 
Trotzdem stellte man innerhalb kürzester Zeit fest, daß der 
Großteil der Bevölkerung, der zurückgekehrt war, strahlen 
kontaminiert war und daß die Krankheiten, die mit der 
Radioaktivität zusammenhingen, in exorbitanter Weise zuge 
nommen hatten, und zwar deshalb, weil im Boden zwar nicht 
mehr die Nuklide vorhanden waren, aber dieser ökologische 
Transfer stattgefunden hat und über die Lebensmittel die 
Radioaktivität von der Bevölkerung aufgenommen wurde. 
Wenn Forschungen und Theorien in der Wissenschaft zutref 
fen, sind es gerade die Alpha-Partikel, die von der im Laufe 
der menschlichen Evolution vorgegebenen Abwehr gegen die 
natürliche Radioaktivität nicht beherrscht werden und im 
Körper ungeheures Unheil anrichten können. Dieses wird 
möglicherweise erst in 10, 20 oder 30 Jahren sichtbar. Auch 
dieses zeigen Erfahrungen. Es gibt Berichte über amerikani 
sche Soldaten, die häufig, angeblich in sicherer Entfernung 
geschützt, Atomexplosionen zugesehen haben und die in 
überdurchschnittlicher Weise an Krebs erkrankt sind. Es ist zu 
hören und zu lesen, daß die Atomkatastrophe in Harrisburg 
auch dazu geführt hat, daß die durch Radioaktivität bedingten 
Erkrankungen in stärkerem Maße aufgetreten sind als im (C) 
übrigen Teil der Bevölkerung. 
Und so meine ich, daß es voreilig ist, zu behaupten - ich 
sage das als Laie-, daß zwar längerfristige Gesundheitsschä 
den theoretisch nicht auszuschließen seien, sie würden sich 
aber im Rahmen der normalen Raten bewegen. Das hat 
Professor Kaul, den wir ja in einer Anhörung in einer 
gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für Stadtenfwicklung 
und Umweltschutz kennengelernt haben, auf dem zweiten 
Weltkongreß „Lebensmittelinfektion und Intoxikation“ be 
hauptet. Das ist ja auch die Behauptung, die eben Dr. Franz 
aufgestellt hat. 
[Dr. Franz(CDU): Das stimmt ja gar nicht! Ich 
nicht, die Wissenschaftler! -Klinski (AL): Die 
Wissenschaftler!? - Dr. Franz (CDU): Angesehene 
Wissenschaftler!) 
Ich frage mich, woher hat dieser Wissenschaftler die Erfah 
rung, woher hat er diese positive Prophetie, die sich an den 
bisherigen Erfahrungen nicht messen lassen kann. Es gibt 
eben einen anderen Teil der Wissenschaft, der davon ausgeht, 
daß derartig theoretische Vorstellungen, wie sie Professor 
Kaul vermittelt, in der Tat zu theoretisch sind, sozusagen 
Modellrechnungen, die nicht alles einbeziehen, was in der 
Praxis und im menschlichen Körper passieren kann. Ich 
persönlich, und ich denke, auch meine Partei, wir stellen uns 
auf die Seite derer, die sagen: Gefahren sind möglich, sie 
können sich praktisch umsetzen, und deswegen müssen wir 
den sicheren Teil der Vorsorge ergreifen.-Dieses ist in Berlin 
in den letzten vier Wochen leider vernachlässigt worden. 
Ich wende mich auch gegen diejenigen, die sagen, daß der 
Fallout etwa in der Zeit zwischen 1955 und 1965 durch 
oberirdische Experimente von Atombombenexplosionen so 
stark gewesen sei, zumindest so stark wie der von Tscherno- (D) 
byl. Dort hätten sich keine Folgewirkungen gezeigt. Es ist nur 
erstaunlich, daß von Krebsforschern beklagt wird, daß genau 
während dieser Zeit, nämlich während des Zeitraumes von 10 
bis 15 Jahren Krebserkrankungen in einem ungeheuren Maße 
zugenommen haben. 
[Liepelt (CDU): Das ist nicht der Fall! Über 25 
Jahre keine Krebsgefahr!] 
Das hängt natürlich auch damitzusammen, daß die Menschen 
älter werden und daß Krebs dann in verstärktem Maße auftritt. 
Aber dieses ist auch nur Spekulation. Es ist nicht auszuschlie 
ßen, daß mit dem Fallout während der Zeit von 1955 bis 1976 in 
der Folgezeit die Zahl der Krebstoten zugenommen hat. 
Schlußfolgerung aus allem ist, daß auf jeden Fall hier in 
Berlin Messungen sowohl des Bodens als auch der hier 
produzierten Lebensmittel, ebenso wie der eingeführten, 
beibehalten, wenn nicht gar verstärkt werden müssen. 
[Beifall des Abg. Dr. Meisner (SPD) 
Dieses zumindest noch bis zum Ende des Jahres, da, wenn 
man der Karlsruher Leitstelle für Nahrungsmittelkontrolle 
Glauben schenken will, in einigen vom radioaktiven Nieder 
schlag besonders betroffenen Gebieten bis zum Herbst durch 
die Wurzeln so viel Cäsium und Strontium in die Pflanzen 
gelangen wird, daß die Ernte vernichtet werden muß. Diese 
Gefahr bestünde dann für ganz Europa, Westeuropa und 
Osteuropa eingeschlossen. Mir ist eigentlich unverständlich, 
daß hier in Berlin in der Vergangenheit und für die Zukunft 
nicht wie in Hessen beispielsweise das Frischfleisch regelmä 
ßig untersucht wird, das dem Verbraucher angeboten wird, 
neben den anderen Lebensmitteln, die Herr Klinski eben 
genannt hat. Aber nicht nur Messungen müßten hier durchge 
führt werden, sondern in Berlin vermissen Bauern, 48000 
Kleingärtner und rund 100000 Eigenheimer Handlungsanwei-
	        
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