Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
29. Sitzung vom 15. Mai 1986
1584
Schenk
(A) niemand mehr, er ist der Lüge überführt. Nichtsdestoweniger
stellen sich heute wieder Landowskys, Kohls und andere hin
und behaupten, wir könnten nicht sofort aussteigen, aus wirt
schaftlichen Gründen ginge das nicht. Ich möchte Ihnen nur in
einigen ganz wenigen Argumenten sagen, daß wir als Grüne in
Bonn in Gutachten und verschiedenen Gesetzesanträgen
eindeutig nachweisen können, daß uns der sofortige Ausstieg
aus der Atomenergie nicht eine Stunde ohne Elektrizität las
sen wird. Wir haben jetzt schon eine Überkapazität an Strom
von fast 40%.
[Beifall bei der AL]
Würde man japanische Maßstäbe nehmen und von einer
Reservekapazität für Strom von 8% ausgehen, dann würde
man beim Abstellen aller Atomkraftwerke heute in der Bun
desrepublik noch immer mehr Reserve haben wie in Japan,
nämlich 10% Reserve. Es gibt also keinerlei wirtschaftliche
Gründe, sich auf Kernenergie stützen zu müssen. Es sind aus
schließlich Gründe des Exportgeschäfts, militärische und
staatsdoktrinäre Gründe, die hier zu einem Religionskampf
für die Atomlobby führen, die vor allem in der CDU ihre stärk
sten Verfilzungen hat.
[Beifall bei der AL]
Die Bevölkerung in der Bundesrepublik - und das vor allem an
die SPD gewandt - ist heute zu etwa 70% der Auffassung -
das ist der tiefgehendste Wandel politischer Meinungen nach
dem Zweiten Weltkrieg -, daß der Ausstieg aus der Atomener
gie jetzt notwendig ist. 12 % sind für den sofortigen Ausstieg,
54% stellen sich das in einem Übergangsfahrplan vor. Das
heißt, es gibt heute eine Mehrheit für diesen konkreten Fahr
plan in Richtung sofortigen Ausstiegs aus der Atomenergie.
Es liegt vor allem in der Verantwortung der Sozialdemokratie,
(B) ob sie sich gegenüber der Mehrheit ihrer eigenen Anhänger
und der Mehrheit der Bevölkerung offen genug zeigt, sich von
ihren Verfilzungen mit der Kernenergie löst und diesen Schritt
mit uns in allen Landtagen und dem Bundestag geht oder
nicht.
Wir sind der Auffassung, daß sich die Atomenergie letztlich
nicht in einem Land wird abschaffen lassen können und es
keine „Insel der Glückseligen“ gibt. Natürlich nicht, Österreich
hat viel Radioaktivität abbekommen, obwohl es keine Atom
kraftwerke hat. Es muß also eine europaweite Lösung gefun
den werden. Das einzig richtige, was Herr Diepgen vorhin
gesagt hat: Trotz und nach Tschernobyl müssen Ost und West
weiterhin Zusammenarbeiten - dies aber nicht mit dem Ziel
des weiteren Ausbaus der Kernenergie, sondern für die Ab
schaltung aller Atomkraftanlagen und die Abschaffung aller
Atomwaffen in Ost und West.
Es muß betont werden, daß wir uns natürlich einen Ausstieg
aus der Atomenergie - beginnend in unserem Land - letztlich
nur auf gesamteuropäischer Ebene vorstellen können. Aus
diesem Grund ist es dringend notwendig, daß sich alle
Gegner/innen der Atomenergie und Atomwaffen, alle
Umweltschützer/innen in West- und Osteuropa - von Portugal
bis Polen - gegenseitig bei ihrem Widerstand gegen die men
schenfeindliche Atom- und Desinformationspolitik ihrer
Regierungen solidarisch unterstützen.
Weiterhin ist es für uns - insbesondere aus Berliner Sicht -
von größter Wichtigkeit, die von der DDR-Regierung ohne
Rücksicht auf die menschliche Gesundheit und Umwelt vor
angetriebene Atomenergiepolitik deutlich zu kritisieren. Nicht
zufällig wird Zimmermann im „Neuen Deutschland“ spalten
lang zitiert, um so der DDR-Regierung etwas mehr „Glaubwür
digkeit“ und Rückendeckung zu geben.
Zum Schluß möchte ich betonen, daß wir als AL uns weiß
Gott nicht wünschen, als einzige Partei heute glaubwürdig
den Mehrheitswunsch der Bevölkerung nach einem schnellen
Ausstieg aus der Atomenergie zu repräsentieren. Wir hoffen (C)
noch immer, daß nach Tschernobyl auch in den anderen Par
teien ähnlich denkende Menschen in diesem Sinne aktiv wer
den. Ich fordere Sie, Herr Dr. Lehmann-Brauns, Sie, Frau Ilse
Reichel, Frau Schneider sowie andere, von denen ich weiß,
daß sie sich Gedanken machen, auf, diesen Konflikt, falls es
einer sein sollte, mit Ihrer Parteiführung durchzustehen und
weniger Angst vor Parteiführung zu haben als vor den Folgen
radioaktiver Bestrahlung. Wir appellieren an alle, in dieser
Jahrhundertfrage für eine gesamteuropäische Entwicklung
einzutreten, die - wie in Dänemark und Österreich - ohne
Atomenergie auskommt, die den Zukunftsaussichten unserer
Kinder und ihrem Recht auf körperliche und seelische Unver
sehrtheit endlich einen höheren Stellenwert zubilligt als den
Interessen einer menschenverachtenden Atomlobby.
Atomenergie ist lebensgefährlich radioaktiv, militärisch
nutzbar, für die Gesellschaft viel zu teuer, für Wirtschaft,
Umwelt und Mensch unberechenbar und deshalb eine Fehl
entwicklung, die endlich gestoppt werden muß.
Wir fordern die Berliner Bevölkerung auf, ihre Unterschrift
für den „Berliner Appell“ zu geben, damit die Mehrheitsmei
nung gegen die Atomenergie in dieser Stadt gegenüber der
Bundesregierung politisch eindeutig zum Ausdruck kommt.
Nach den schrecklichen Erfahrungen in Tschernobyl sind
Konsequenzen gefragt. Es muß sich eine .Koalition der Nach
denklichen' bilden, die rechtzeitig vor dem nächsten wahr
scheinlichen Super-GAU die Stillegung aller Atomkraftanla
gen politisch durchsetzt. Niemand soll sagen können, er hätte
von den Risiken nichts gewußt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Stellv. Präsident Longolius: Das Wort hat jetzt der Kollege
Rasch. (B)
Rasch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir sind ja, wenn man sich das sehr ernsthaft vor Augen führt,
zwar einerseits der geeignete Ort, um gegenüber der Bevöl
kerung die Einschätzungen der jeweiligen Parteien und auch
des Senats deutlich zu machen, welche Konsequenzen aus
Tschernobyl zu ziehen sind, auf der anderen Seite sollten wir
uns im klaren sein, daß unsere - das ist keine Ohnmacht, son
dern eine realistische Einschätzung der Gegebenheit - Mög
lichkeiten begrenzt sind, konkret hier Politik als Landesparla
ment zu machen. Insofern verstehe ich auch die Appelle des
Kollegen Schenk, die ja mehr von seiner persönlichen politi
schen, emotionalen Einstellung getragen worden sind und
weniger von der Einschätzung einer konkreten politischen
Gestaltung durch dieses Haus hier in unseren Aufgaben. Ich
glaube schon, daß sich die Bewußtseinslage in unserem Land
nach Tschernobyl geändert hat, das haben die Damen und
Herren Vorredner gesagt. Ich glaube auch, daß man heute
nachdenklich feststellen muß, daß wir in Berlin, in der Bundes
republik und Europa aus dieser Katastrophe mit einem blauen
Auge davongekommen sind. So scheint es zunächst zu sein.
Die Werte und die Belastungen gehen zurück. Aber wir kön
nen uns nicht einfach zurücklehnen, und wenn man die
Debatte bis hierhin betrachtet, dann ist es deutlich geworden,
daß keiner sich zurücklehnen und zur Tagesordnung über
gehen will.
[Haberkorn (AL); Was ist denn das?]
Ich bin schon sicher, daß das Verhältnis zur Kernenergie in
allen politischen Parteien neu überdacht werden wird. Wir
haben als F.D.P. 1979 - auf dem Bremer Bundesparteitag -
sehr früh eine Position eingenommen, die damals noch sehr
heftig von CDU und SPD kritisiert worden ist, weil wir seiner
zeit die Kernenergie als einen Energieträger definiert haben,
der schlicht die Energielücke schließen sollte, die zwischen