Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
29. Sitzung vom 15. Mai 1986
1582
Landowsky
(A) Dennoch muß dieser Unfall in Tschernobyl uns zu dreierlei
befleißigen. Es wird ein Umdenken in der Tat geben, und
das Umdenken wird sein müssen, weniger Kernenergie zu
benötigen:
1. Es muß eine neue Welle der Energieeinsparung einset-
zen als Folge dieses Unfalls.
2. Tschernobyl muß zu einer erhöhten Sicherheit aller sich
in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke führen.
3. Tschernobyl muß langfristig zu einem grundsätzlichen
Umdenken in der Priorität der Energieträger führen, so daß die
heutige Form der Energiegewinnung, der Kernenergiegewin
nung durch Kernspaltung sich in die Geschichte als eine
Durchgangstechnik darstellt.
Zur Energiesparung gibt es noch viele unentdeckte Mög
lichkeiten. Wenn wir genausoviel Geld in die Energiesparung
und in die Entwicklung alternativer Energien einsetzen wür
den, wie nach dem ersten Ölpreisschock in der Kernenergie
verwandt worden ist, wird es möglich sein, in wenigen Jahr
zehnten diese Phase als Durchgangsphase bezeichnen zu
können. Dies ist das Ziel: Risiko zu minimieren. Kerntechnik ist
keine Hurra-Technik. Ich finde es auch nicht richtig zu sagen,
unsere Antworten auf die Fragen der Menschen ist, jedes Jahr
ein zusätzliches Kernkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Nein, wir
müssen erkennen, daß sie notwendig ist als Ergänzungsbe
darf, daß sie keine Hurra-Politik ist, daß sie unter der Abwä
gung von Nutzen und Risiko akzeptabel
[Glocke des Präsidenten]
und hinnehmbar ist. Zu dieser Erkenntnis müssen wir unsere
Anstrengungen zur Überwindung dieser technologischen
Phase machen. Dies sind wir den Menschen schuldig, und
dafür will ich mich auch einsetzen.
(B)
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Stellv. Präsident Longolius: Das Wort hat jetzt der Kollege
Schenk.
Schenk (AL): Meine Damen und Herren! Hier war zu Beginn
der Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters
die Rede von einer offenen Informationspolitik dieses Senats
gegenüber der Bevölkerung, derzufolge überhaupt kein Anlaß
zur Beunruhigung bestanden habe. Dazu steht im Gegensatz,
daß eine solche Debatte nach wochenlangen Ängsten, nach
Gefühlen der Panik in der Bevölkerung nicht einmal live,
direkt, aus diesem Hause übertragen wird. Herr Momper hat
vorhin richtig gesagt: Diese Debatte führen wir für die Bevöl
kerung - und eine solche Debatte nach Wochen der Angst
wird nicht einmal direkt übertragen. Menschen werden daran
gehindert, an ihr teilzunehmen. Da kann ich nur sagen, dies ist
die Fortsetzung der alten Desinformationspolitik, die die Men
schen eben nicht wirklich über all das informiert, was sie be
wegt.
[Beifall bei der AL]
Nach Tschernobyl ist die Welt anders geworden. Die Situa
tion für viele Menschen ist so, wie sie es sich nie in den
schlimmsten Träumen vorher haben vorstellen können. In der
Sowjetunion, genauer gesagt in der Ukraine, werden wahr
scheinlich noch einige tausend Menschen an Krebskrankhei
ten erkranken, dahinsiechen und sterben. Für uns ist dies kein
Anlaß, nur darauf hinzuweisen, daß in der Sowjetunion eine in
der Tat schlimme und üble Desinformation betrieben wird und
ein schlimmer Mangel an Aufklärung gegenüber der eigenen
Bevölkerung herrscht. Denn Atomenergie und schwere Un
fälle mit schlimmen Folgen und radioaktiver Verstrahlung sind
nicht das Monopol eines Gesellschaftssystems. Es besteht
nicht der geringste Anlaß für westliche Selbstgerechtigkeit, (C)
wenn man sich die Geschichte der verschwiegenen und nur
durch indirekte Kanäle an die Öffentlichkeit gelangten Kern
kraftwerksunfälle der letzten 20 Jahre bei uns ansieht.
[Beifall bei der AL]
Das, was von Fachleuten, Regierungsvertretern und Propa
gandisten der Atomenergie in Ost und West seit über 15 Jah
ren immer wieder als unwahrscheinlich, als Panikmache, als
Hysterie, als Maschinenstürmerei, als Steinzeitsyndrom ab
getan wurde, ist nun leider eingetreten. Nach Harrisburg, nach
Windscale, nach verschiedenen Beinahe-Katastrophen -
hören Sie zu - in Würgassen und in Brunsbüttel war dies
eigentlich für unsere sogenannten Experten etwas völlig Un
vorhersehbares. Dabei ist interessant, daß das Ausmaß des
Unglücks von Tschernobyl eigentlich in nur zwei Kurzmel
dungen wirklich prägnant auf den Punkt gebracht wird. Die
erste Meldung lautete: Das Unglück hat nach Berechnungen
schwedischer Wissenschaftler die zweitausendfache Menge
von Radioaktivität der Hiroshimabombe freigesetzt. Zeigen
Sie mir irgendeine Werbebroschüre der Atomindustrie, von
denen es ja so viele gibt, in denen dieser Vergleich bezüglich
eines Super-GAUs annähernd erwähnt wird; wo darauf hin- I
gewiesen wird, welche Gefahren in solchen Atomkraftwerken
liegen. Sie werden nichts finden! Dafür aber werden Ver
gleiche mit Taschenuhren, mit Armbanduhren, mit angeblich
ungefährlicher, natürlicher Radioaktivität gezogen, aber nir
gends finden Sie den wirklichen Vergleich, der heute Realität
wurde, den mit der Hiroshimabombe. Und wer sich auf Hiro
shima als schlimme Erfahrung eines Weltkriegs und eines
Atombombenabwurfs beruft und bei Atomkraftwerken nicht
den sofortigen Ausstieg bzw. die Stillegung dieser gefähr
lichen indirekten Bomben fordert, der hat bis heute nicht die
Konsequenzen aus Tschernobyl gezogen.
[Beifall bei der AL]
Zweiter Punkt: Viele Menschen, gerade hier in Berlin, wo
sich viele wirklich wie in einer Mausefalle vorkamen, viele
Eltern und Schwangere sind zutiefst beunruhigt und fragen
sich: Was wird mit meinem Kind? Was wird mit meinem
zukünftigen Kind, wenn es noch im Mutterbauch heran
wächst? Viele tragen sich mit Fluchtplänen. Viele haben sich
überlegt, ob sie abtreiben lassen sollen. Die Behörden in Ber
lin erzählen jeden Tag, daß es keine akute Gefährdung gebe.
Aber danach sind sie gar nicht gefragt worden. Kein Mensch |
ist doch der Meinung, daß hier am nächsten Tag schon Tau- ,
sende tot auf der Straße Umfallen werden. Die Frage lautet
doch: Was wird mittelfristig geschehen? Wie werden unsere
Kinder aufwachsen unter einer jetzt verdoppelten Strahlen
menge, die sich über Jahrzehnte nicht abbauen läßt? - Auf
diese schlichten und einfachen Fragen nach Jahrzehnten der
Atomenergie wissen die Behörden und wissen die verschie
denen Fachleute, wenn 20 zusammen sind, 50 verschiedene
Antworten, denn niemand kann garantieren, was noch an
schlimmen Folgen, an Krebserkrankungen, gerade für die
Schwächsten in unserer Gesellschaft, für die Kinder, auf uns
zukommt.
In einer solchen Situation haben der bundesdeutsche Mi
nister für Desinformation und Verharmlosungskunde. Herr
Zimmermann, die Bundesregierung und die Strahlen-Ver-
steckspiel-Kommission beim Wettbewerb der verschiedenen
Systeme, wie man die eigene Bevölkerung am besten be
lügen und desinformieren kann, einen guten zweiten Platz
gemacht. Es ist eine dreiste Volksverdummung, wenn Zim
mermann behauptet: Wir sind zweitausend Kilometer weg -
schon das stimmt nicht! -, eine Gefährdung der Bevölkerung
ist ausgeschlossen. - Es ist verantwortungslose Ignoranz,
wenn Regierungssprecher Ost im fernen Neu-Delhi erklärt:
Wir bauen die sichersten Kernkraftwerke; sie sind absolut