Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
17. Sitzung vom 6. Dezember 198S
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Schicks
(A) ten Mittel der Allgemeinheit nicht schematisch ausgestreut,
sondern auf diejenigen konzentriert werden, die wirklich
hilfsbedürftig sind.
(Krebs (CDU): Sehr richtig!]
Das haben wir in Berlin getan; und es ist kein Zufall, daß in der
Sozialpolitik außerhalb Berlins schon anerkennend von dem Ber
liner Modell, von dem „Sozialmodell Berlin“ gesprochen wird.
Woran liegt das? - Soziale Gerechtigkeit in Zeiten voller Kas
sen zu propagieren, ist leicht - das ist sehr leicht -, soziale Ge
rechtigkeit aber umzusetzen auch in Zeiten knapper Kassen, ver
langt Mut, die notwendigen Prioritäten zu setzen. Und das
„Sozialmodell Berlin“ heißt doch nichts weiter, als an überholte
Besitzstände heranzugehen, um notwendige neue Aktivitäten an
packen zu können.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Da sind die sozialdemokratisch geführten Länder für uns kein
Vorbild,
[Momper (SPD): Jetzt kommt es: Bremen! -
Roß (SPD): Eine tibetanische Gebetsmühle ist das!]
weder was gezielten Einsatz von Sozialhilfe und Sozialleistungen
betrifft noch deren Höhe. Ich brauche nicht besonders darauf
hinzuweisen, daß es in der Frage des gezielten Einsatzes öffent
licher Mittel solche Prioritäten - anders als früher - auch gerade
in der Bundespolitik gibt; und wo es in Einzelfällen eine Überein
stimmung nicht gibt oder gab, haben wir und insbesondere der
Regierende Bürgermeister im Hinblick auf die besondere soziale
Situation unserer Stadt unsere warnende und hinweisende
Stimme erhoben. Natürlich sind die gesellschaftspolitischen Pro
blemstellungen hier schärfer als anderswo: In 20 % aller Familien
mit Kindern ist in Berlin nur ein Elternteil vorhanden; in der übri
gen Bundesrepublik sind es nur halb so viele. Der Anteil der Ein-
Personen-Haushalte beträgt in Berlin - das wissen Sie alle -
über 50 %, im Bundesdurchschnitt dagegen nur 31 %. Der Anteil
der älteren Mitbürger über 65 Jahre beträgt im Bundesdurch-
(B)
schnitt etwa 15%, in Berlin über 20%. Andere Problemstellun
gen bedingen andere Einschätzungen und Vorgaben für die So
zialpolitik; sicher haben wir da auch für andere Ballungsgebiete
in der übrigen Bundesrepublik gesprochen.
Weil Sie es angesprochen haben, Herr Momper, nehme ich
die Stichworte Rentenerhöhung und ausreichende Rente für die
Menschen in unserem Land, die ihr Leben lang gearbeitet haben,
auf. Hier haben sich Berlin und sein Regierender Bürgermeister
im Interesse der Rentner fordernd in die Diskussion einge
schaltet,
[Momper (SPD): Wann? Wann war denn das?]
und Sie machen uns heute den Vorwurf, daß das nur eine Ein
tagsfliege gewesen sei. Nicht indem man, Herr Momper, wieder
holt, sondern indem man sie zur richtigen Zeit an der richtigen
Stelle mit Nachdruck glaubhaft anbringt, macht man gute Politik!
[Beifall bei der CDU]
Das wird die CDU - und ich bin sicher: auch der Regierende
Bürgermeister - auch in Zukunft tun.
In diesem Zusammenhang haben Sie, Herr Kollege Momper,
auch wieder von der „neuen Armut“ als einer neuen Wortschöp
fung gesprochen und sie zum Gegenstand Ihres Redebeitrages
gemacht.
[Pätzold (SPD): Das war eine Erfindung
von Herrn Geisslerl]
Ich möchte hierzu nur einmal folgendes klarstellen: Es hat in den
früheren Jahrhunderten Armut, und zwar furchtbare Armut ge
geben, und dann später und dann auch in Ihrer Zeit, als sie in
Bonn die Regierung gestellt haben, und es gibt sie auch heute.
Aber es gibt keine „neue Armut“, sondern es ist heute eine
andere Armut als damals, und die Armut morgen und übermor
gen wird auch wieder anders sein als heute.
[Roß (SPD): Wahrscheinlich noch schlimmer!]
Mil „neuer Armut“ wollen Sie doch, Herr Momper, bloß sugge
rieren, daß es eine Armut jetzt erstmals gebe - und das ist doch
nicht der Fall. Aber wenn Sie wirklich von „neuer Armut“ (C)
sprechen, dann sage ich - und so sehen das Draußenstehende
bei objektiver Betrachtung mit Recht auch -: Die „neue Armut“
hat zu Ihren Zeiten, zu Zeiten Ihrer Regierung Ende der 70er
Jahre begonnen, als die Sozialhilfe, die Sie ja x-mal in Ihren Rede
beiträgen angesprochen haben, gedeckelt worden ist, daß heißt
nicht mehr den Preissteigerungsraten angeglichen worden ist.
[Krebs (SPD): Sehr richtig! So ist es!]
Wir haben 1984 die Deckelung wieder aufgehoben, daß heißt
das Bedarfsdeckungsprinzip wieder eingeführt. Ein Jahr später,
am 1. Juli 1985, hat es eine Sprozentige Anhebung der Sozial
hilfesätze gegeben - das Vierfache der Netto-Renfenanhebung.
Damit ist neben dem Preissteigerungsausgleich eine teilweise
Abdeckung des Nachholfbedarfs vorgenommen worden. Ich er
wähne nur am Rande die 20prozentigen Zuschläge für alleiner
ziehende Mütter und für Sozialhilfeempfänger ab dem 60. Le
bensjahr. Vor diesem Hintergrund - Herr Momper, da spreche
ich Sie ganz besonders an - ist das von Ihnen erwähnte Beispiel
der alleinstehenden Sozialhilfeempfängerin mit Kindern und in
der Art, wie Sie es gebracht haben, ein reiner Mompitz - Mum
pitz mit o!
[Beifall bei der CDU - Momper (SPD): Das ist
aber eine tolle Geistesleistung!]
Ich meine nicht - um das klarzustellen - Mumpitz;
[Pätzold (SPD): Aber Herr Schicks! Das schickt
sich nun wirklich nicht, Herr Schicks!]
denn die tatsächlich genannten Zahlen stimmen. Wir wissen
ganz genau, daß man mit den Sozialhilfesätzen weder Sprünge
noch große Sprünge machen kann.
Meine Damen und Herren! Nun kann ich an dieser Stelle zur
Haushaltsdebatte nicht ein Referat über soziale Maßnahmen und
Sozialleistungen in der ganzen Breite halten; über den Bereich
der Gesundheits- und Krankenhauspolitik wird im übrigen im
Rahmen der zweiten Runde der Kollege Braun sprechen. Dazu ®
fehlt mir jetzt einfach die Zeit.
Lassen Sie mich stellvertretend aber den Komplex Behinderte
und Senioren ansprechen, der insbesondere von der Alternati
ven Liste mit der rhetorischen Frage bedacht worden ist: Wo
bleiben die Behinderten? - Wie sieht es mit ihrer Integration
aus, leben sie nicht in einem Ghetto? - Hierzu frage ich zurück:
Vergessen Sie wirklich den Behindertenbericht und die danach
vorgesehenen und begonnenen Maßnahmen? - Ich verweise
weiter auf die Psychiatrie-Enquete von 1975 und erinnere an den
Berliner Psychiatrieplan, den wir in der letzten Legislaturperiode
- leider erst so spät, muß ich hinzufügen - angepackt haben
und den der Senat im Herbst 1984 als Planungs- und Aktions
grundlage vorgelegt hat. Stichworte dazu: Weg von psychiatri
schen Großkrankenhäusern! - Möglichst weg von stationären
Einrichtungen! - Keine Hospitalisierung! - Ausbau der ambulan
ten, komplementären und teilstationären Einrichtungen!
[Frau Reichel-Koß (SPD): Wo sind die?!]
Ein Beispiel für die Verbesserung der Situation der körperlich
Behinderten: Vor Jahren mußten Rollstuhlfahrer, die bestimmter
Hilfen anderer bedurften, in ein Heim, wenn der familiäre Be
treuer entfiel, die betreuende Mutter, der rüstige Ehegatte, ein
anderer Angehöriger, Bruder, Schwester oder wer auch immer.
Furchtbare Einzelschicksale gab es dabei, wenn zum Beispiel
Vierzigjährige in ein Seniorenhaus mußten mit einem Durch
schnittsalter der Bewohner zwischen 75 und 80 Jahren. Seit ein
bis zwei Jahren steht eine größere Anzahl von Rollstuhlfahrer-
Wohnungen in Berlin zur Verfügung, und in spätestens einem
Jahr wird der Bedarf zahlenmäßig abgedeckt sein, nämlich mit
400 bis 500 dieser Wohnungen, und zwar nicht in einem Ghet
to, sondern in Häusern für Nichtbehinderte und Behinderte, mit
einem Anteil von höchsten 20% Rollstuhlfahrer-Wohnungen.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Diese Rollstuhlfahrer-Wohnungen sind in unserer Zeit erstellt
worden, das ist aber gar nicht das wichtigste, funktionieren tun
sie erst durch die Sozialstationen, die die notwendigen ambulan-