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Volume Nr. 4, 23. Mai 1985

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1985, 10. Wahlperiode, Band I, 1.-18. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
4. Sitzung vom 23. Mai 1985 
166 
Frau Dr. Schramm 
(A) tage, Wehrdienstverweigerung, Zusammenarbeit mit auslän 
dischen Geheimdiensten u. ä. immer noch nicht als legitimer 
Widerstand angesehen werden. Diese Abwertung bestimmter 
Formen des Widerstandes geistert z. B. auch in einem Brief von 
1983 von Herrn Stadtrat Magen vom Senator für Inneres anläß 
lich einer Bitte um Akteneinsicht. Es handelt sich dabei um eine 
polnische Minderheit, die mit dem polnischen Geheimdienst in 
London zusammengearbeitet hatte, Material gesammelt hatte 
und die deswegen hingerichtet wurde. Herr Magen schreibt: 
Die Tätigkeit der genannten Personen entspricht auch nicht 
dem Widersfandsbegriff in dem Sinne, daß sie sich gegen 
das nationalsozialistische Unrechtsregime aufgelehnt 
hätten. 
Zwei weitere Fragen der AL beziehen sich auf die vergesse 
nen Teile der NS-Geschichte Berlins und darauf, wie die Arbeit 
von Personen und Gruppen, die sich um eine Aufklärung dieser 
NS-Geschichte bemühen, von dem Senat stärker als bisher 
bürokratisch und materiell unterstützt werden kann. Es ist ja 
keineswegs so - für Leute, die sich damit beschäftigt haben, ist 
das klar -, daß für Berlin alles erforscht wäre. Gerade verglichen 
mit manchen anderen Städten in Westdeutschland ist Berlin 
sogar, was die lokale Geschichtsbetrachtung angeht, sehr rück 
ständig. Es gibt hier fast weiße Flecken. Ich nenne hier nur einige 
Punkte. Das bezieht sich auf den innerbetrieblichen Widerstand. 
Das bezieht sich auf den ganzen Komplex der K2-Außenlager. 
Das bezieht sich auf die Arbeit von Zwangsarbeifern, von sowje 
tischen, aber auch anderen Kriegsgefangenen. Es bezieht sich 
aber auch auf Teile der Frauengeschichte. Und es bezieht sich 
auch auf die Gruppen, die ich vorhin als Minderheiten genannt 
hatte, denn die ausgegrenzfen Opfer sind auch die vergessenen 
Opfer. Man weiß kaum etwas über die Verfolgung der Homo 
sexuellen in Berlin, obwohl es sie gegeben hat, schon gar nicht 
der Frauen, die als Asoziale eingeliefert wurden. Die Akten, die 
hier noch in den Bezirksämtern liegen, z. B. zur Zwangssterilisa 
tion, sind erst für Wilmersdorf ausgewertet. Dasselbe gilt für die 
(B) Euthanasie usw. usw. 
Mich selbst hat sehr gewundert, als ich mich jetzt erneut mit 
diesem Thema beschäftigte, wie wenig über die Parlamentarier 
und speziell über die Parlamentarier auf Bezirks- und Stadtebene 
bisher überhaupt recherchiert ist. Wir dachten, wir beantragen 
eine Tafel und schreiben die Namen drauf, aber es war uns nicht 
möglich, weil niemand die Namen weiß. Also bevor Erinnerungs 
tafeln in den Bezirken oder hier in Schöneberg für die Stadt 
verordneten angebracht werden können, muß - und es ist in der 
Tat erstaunlich 40 Jahre nach Kriegsende - erst mal For- 
schungs- und Quellenarbeif usw. gemacht werden. Ich brauche 
kaum zu erwähnen, daß es sehr eilt. Die wenigen lebenden 
Zeugen, die es noch gibt, die uns Spuren und Hinweise geben 
könnten, werden sehr bald nicht mehr leben. 
Ich hoffe, daß der Senat in seiner Arbeit nicht nur nachzu 
weisen versucht, was alles getan wurde für die Opfer des 
Faschismus und die Aufarbeitung der NS-Geschichte in der 
Stadt. Niemand behauptet, daß wir 40 Jahre nach Kriegsende 
am Punkt Null anfangen müssen. Ich meine aber, auch Herr 
Lummer und andere sollten aus ihrer Sicht die Defizite benen 
nen, die bestehen, damit wir gemeinsam ein Stück in der Sache 
weiterkommen. 
[Beifall bei der AL] 
Alterspräsident Poritz: Das Wort zur Beantwortung der 
Großen Anfrage hat nun Herr Bürgermeister Lummer. 
Lummer, Bürgermeister und Senator für Inneres: Herr Präsi 
dent! Meine Damen und Herren! Die Nähe des 8. Mai ist sicher 
lich ein hinreichender Grund, sich mit der Frage der Aufarbei 
tung unserer Vergangenheit und deren Bewältigung zu be 
schäftigen, und sicherlich war das auch der Grund für die Frak 
tion der Alternativen Liste, nicht nur die Große Anfrage, sondern 
auch eine Reihe von Anträgen und Kleinen Anfragen, die den 
Gesamtkomplex betreffen, einzubringen. Und gewiß darf sich 
niemand diesem Versuch einer solchen Aufarbeitung entzie 
hen, auch heute nicht entziehen, obwohl ich der Meinung bin, 
daß eine wirkliche Bewältigung der Vergangenheit letztendlich 
darin liegt daß wir die Gegenwart und die Zukunft meistern und 
uns nicht nur in dem Blick zurück verlieren. 
Ein solcher Versuch der Aufarbeitung muß natürlich auch 
davon gekennzeichnet sein, daß er so weit wie möglich lücken 
los ist, nicht bewußt etwas ausspart oder ausgrenzt, obwohl ich 
fest davon überzeugt bin, daß ein großer Teil des Widerstandes 
gegen den Nationalsozialismus auch in der Zukunft ungenannt 
und namenlos bleiben wird, trotz aller Bemühungen, die wir an 
stellen werden. Das soll nicht Entschuldigung sein, sondern 
deutlich machen, daß da Grenzen gesetzt sind auch demjenigen, 
der sich redlich bemüht. Aber das wiederum ist ganz gewiß 
verlangt. 
Und wenn an dieses redliche Bemühen gedacht wird, dann 
meine ich schon, sagen zu dürfen, daß die Bundesrepublik 
Deutschland ganz unbeschadet von der jeweiligen parteipoli 
tischen Couleur, die da im Parlament oder in der Regierung vor 
handen war, sich der Aufgabe der Aufarbeitung und Wiedergut 
machung des nationalsozialistischen Unrechts in ebenso an 
ständiger wie großzügiger Weise unterzogen hat; und sie hat 
sich auch deshalb dabei große Verdienste erworben, weil sie 
eine Aufgabe übernommen hat zu einem Teil, die die andere 
Seite Deutschlands, die DDR, nicht geleistet hat. 
In der Präambel des Grundgesetzes ist da von stellvertreten 
dem Handeln die Rede, und ich glaube, das hat die Bundesre 
publik Deutschland in finanzieller Hinsicht auch zu einem 
großen Teil getan. Ich sage das ja deshalb, weil ich eine Bemer 
kung in der Begründung der Großen Anfrage der Alternativen 
Liste doch einmal geklärt wissen möchte, denn wenn ich sie 
lese, kann ich sie nur so verstehen, daß hier der Bundesrepu 
blik Deutschland etwas gesagt wird, was sie sich nicht sagen 
lassen muß. Wenn da die Rede davon ist, daß verschiedene 
Gruppen nicht als Verfolgte des nationalsozialistischen Regi 
mes anerkannt wurden, weil eine „ideologische und rechtliche 
Kontinuität“ nach 1945 praktiziert worden sei, 
[Frau Künast (AL): Rehse!] 
- Jaja, Sie können ja diesen Zwischenruf machen, aber machen 
sie ihn bitte ganz leise! Die Bundesrepublik Deutschland muß 
sich nun wahrlich und wirklich einen solchen Vorwurf nicht 
gefallen lassen, 
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.] 
denn nun weiß ich, was Sie gemeint haben. Und Sie müssen 
gerade an diesem Tage, wo 1949 am 23. Mai das Grundgesetz 
der Bundesrepublik verabschiedet wurde, deutlich zur Kenntnis 
nehmen, daß die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland 
keine „ideologische Kontinuität“ bedeutet; und die Bewährung 
dieser Verfassung in 36 Jahren spricht dafür Bände. 
[Beifall bei der CDU und der F.D.P. - 
Widerspruch bei der AL] 
- Dann, bitte, machen Sie es uns doch — 
[Schenk (AL): Entschuldigung, Herr Lummer, in der 
Großen Anfrage finde ich das nicht)] 
- „Verschiedene Personengruppen, wie Homosexuelle, 
Zwangssterilisierte, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma wurden 
auf Grund ideologischer und rechtlicher Kontinuität nach 1945 
nicht als Verfolgte anerkannt.“ Der Satz steht doch nun mal so 
da, und wenn Sie ihn mir nicht anders erklären als durch den 
Zwischenruf, der eben folgte, dann muß ich es eben so verste 
hen, wie es der Unbefangene liesL und dann muß ich die Bun 
desrepublik Deutschland an eben dieser Stelle im Namen aller 
demokratischen Parteien verteidigen, die diesen Staat auf 
gebaut und gestaltet haben. Machen Sie es uns doch nicht 
unnötig schwer, denn wir wollen doch diese Aufgabe gemein 
sam lösen; es ist doch keiner hier im Hause, der sich den natio 
nalsozialistischen Verbrechen in der Weise nähert, daß er nicht 
die Verantwortung und die Schuld, die wir auf uns geladen 
haben, spürt und diese auch zu beseitigen trachtet. 
In einer Reihe von Äußerungen, die in den Anfragen und Anträ 
gen enthalten sind, wird auf finanzielle Dinge hingewiesen. Ich
	        
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