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Volume Nr. 3, 9. Mai 1985

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1985, 10. Wahlperiode, Band I, 1.-18. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
3. Sitzung vom 9. Mai 1985 
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Momper 
(A) Es ist wohl auch der Rücksichtnahme auf die deutsch 
nationale Hinterbank Ihrer Fraktion zuzuschreiben, 
[Widerspruch bei der CDU] 
daß Sie eine Reihe von Fragen überhaupt nicht ange 
sprochen haben. Ich nenne beispielsweise Ihren Verzicht 
auf eine klare Absage an eine Parteibuchwirtschaft, die 
Ihr Vorgänger noch gewagt hat. Ich stimme Ihnen aller 
dings darin zu, daß das angesichts des Falles Antes auch 
ganz unpassend gewesen wäre. Zu Frau Lauriens Schul 
politik haben Sie interessanterweise ganz und gar ge 
schwiegen. Ich gestehe Ihnen zu, daß man als moderner 
CDU-Politiker den Illiberalismus dieser christlich-konser 
vativen Geschichtsbuchzensorin am klügsten mit Nicht 
beachtung übergehen sollte. 
[Gelächter bei der CDU — Beifall bei der SPD] 
Der Mangel an praktisch-politischen Zielen in Ihrer 
Rede wird durch die Aufforderung zum Wettstreit der 
Ideen nicht kompensiert. Das gilt insbesondere für die 
Berlin- und Deutschlandpolitik, wo Sie in Ihrem Mut oder 
vielleicht auch in Ihrer Fähigkeit zur Gestaltung deutlich 
(unter Hem vcn Weitaacker zuriick.fa.lten. Auch die Ihnen 
wohlgesonnene Presse wird inzwischen unsicher, was Sie 
eigentlich wollen. Seit Ihrem Amtsantritt haben Sie keine 
einzige deutschlandpolitische Initiative ergriffen. 
Sie haben jüngst im Deutschlandfunk, Herr Regieren 
der Bürgermeister, davor gewarnt, daß die zunehmenden 
Kontakte der alliierten Schutzmächte mit der Regierung 
der DDR „nicht an Berlin oder der Bundesrepublik vor- 
beigeführt werden und sozusagen im Rahmen der allge 
meinen Aufwertung der DDR an der Bundesrepublik und 
(B) West-Berlin mit Nachteilen für die Funktionsbestimmung 
des Westteils der Stadt geführt werden". Ähnlich haben 
Sie sich zuvor in Washington geäußert. Sie erwecken den 
Eindruck, als wollten Sie die Westmächte bei deren Poli 
tik mit der DDR bremsen. Da aber kann nicht im Inter 
esse unserer Stadt sein. 
Von ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer zentralen Lage 
her ist die DDR einer der Staaten, deren Gewicht in der 
europäischen Politik stetig zunehmen wird. Wir werden 
eine solche Entwicklung nicht verhindern, wir müssen sie 
für uns nutzen. Aufgrund der Geschichte und der Lage 
unseres Landes sind wir Deutschen in Ost und West dar 
auf angewiesen, daß beide deutsche Staaten, jeder in 
seinem Bündnis, mit Aussicht auf Erfolg seine Interes 
sen vertritt. Es kann nur von Vorteil für die deutschen 
Interessen insgesamt sein, wenn beide deutsche Staaten 
Kontakte zu allen europäischen Nachbarn halten und ihre 
Interessen unmittelbar formulieren. In dem Maße, wie die 
DDR als Gesprächspartner der europäischen Politik ak 
zeptiert wird, verbessern sich die Chancen dieses deut 
schen Staates, bei seinen Verbündeten für seine Inter 
essen mehr Gehör zu finden. Und dieses können durch 
aus auch gemeinsame — also gesamtdeutsche — Inter 
essen sein, insbesondere wenn es um Entspannungs 
politik und die Erhaltung des Friedens geht. Das ist kein 
Wandel von heute auf morgen, sondern ein langwieriger 
Prozeß, den wir Sozialdemokraten eingeleitet haben und 
von dem wir jedenfalls nicht ablassen werden. 
[Beifall bei der SPD] 
Das wird auch stabilisierende Rückwirkungen auf die 
deutsch-deutschen Beziehungen haben. Je isolierter die 
DDR in der internationalen Politik war, desto skrupel 
loser konnte sie auf unseren Teil Berlins Druck ausüben, 
desto rücksichtsloser konnte sie brutale Gewalt gegen 
Menschen an der Mauer anwenden. In dem Maße, wie die (C) 
DDR seit 1972 an der internationalen Politik teilnimmt, 
hat sie lernen müssen, daß Skrupellosigkeit und Brutali 
tät auf sie selbst zurückfallen und ihre Stellung im Ver 
kehr mit den anderen Staaten schwächen. Wir müssen 
uns davor hüten, die DDR des Jahres 1985 noch immer 
mit der Brille des Jahres 1965 zu betrachten. Wir Sozial 
demokraten wollen eine verantwortliche DDR, die sich 
ihrer Verantwortung auch bewußt wird. Wir wollen keine 
DDR im Abseits, sondern eine DDR-Regierung, die für 
ihre Handlungen vor der Gemeinschaft der Völker auch 
einzustehen und zu haften hat. 
[Beifall bei der SPD] 
Die Hallstein-Doktrin — in welchem Gewände auch im 
mer — ist passä. Wir müssen aufpassen, daß der West 
teil unserer Stadt nicht durch eine falsche Politik in die 
Isolierung gerät. Denn natürlich ist eine solche Wand 
lung des politischen Stellenwertes der DDR mit Proble 
men für die Rolle unseres Teils der Stadt Berlin ver 
bunden. Berlin (West) darf sich nicht als Querulant in die 
Isolierung bringen, sondern es muß durch eigene Ideen 
und Anregungen Interesse wecken, damit der Dialog auch 
diesen Teil der Stadt eiascWießf. Hier liegt die Aufgabe 
des Regierenden Bürgermeisters, und dazu - ich be 
dauere das sehr, Herr Regierender Bürgermeister — ha 
ben Sie in Ihrer Regierungserklärung nicht geboten. Ihrer 
Rede war zu entnehmen, daß Sie die Ergebnisse der so 
zial-liberalen Entspannungspolitik der 70er Jahre und 
das Viermächte-Abkommen in den Bestand der CDU- 
Politik aufnehmen. Deshalb werden wir auch Punkt 1 der 
Richtlinien zur Regierungspolitik zustimmen. Aber dar 
über hinaus haben Sie eine Chance vertan, der Stadt im 
Ost-West-Feld eine über den derzeitigen Stand hinaus- 
reichende politische Perspektive zu bieten. 
Wir Berliner Sozialdemokraten plädieren für eine qua 
litativ neue Stufe in der Deutschland- und Berlinpolitik. 
Diese Politik fußt auf der Erfahrung, daß die großen 
Schritte über den europäischen Graben nicht gangbar 
sind, wenn die kleinen Spielräume von den Nachbarn mit 
unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und unterschied 
licher Blockzugehörigkeit nicht genutzt werden. Natürlich 
darf eine solche Politik keinen Zweifel daran aufkommen 
lassen, daß die europäischen Staaten an den Bündnissen 
festhalten, die sich aus der Nachkriegsentwicklung er 
geben haben. Auf der Grundlage der Bindung an den 
Westen ist die Bundesrepublik Deutschland moralisch 
verpflichtet, die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas 
zu suchen. 
[Beifall bei der SPD und der AL] 
40 Jahre und einen Tag nach dem 8. Mai kann niemand 
mehr umhin, anzuerkennen, daß Hitlers Krieg zum Ver 
lust von Schlesien und den anderen Ostprovinzen ge 
führt hat. Wer heute den Status quo in Frage stellt, ge 
fährdet den Spielraum in der Deutschlandpolitik. Herr 
Regierender Bürgermeister, erinnern Sie zukünftig auch 
die Lernunfähigen in Ihrer Partei an diese Realität! Ver 
hindern Sie zukünftig Versuche der verbalen Zurückerobe 
rung von Schlesien! 
[Beifall bei der SPD und der AL] 
Schweigen Sie nicht, sondern nehmen Sie die Inter 
essen Berlins auch gegenüber den Deutschnationalen in 
CDU und CSU wahr! 
[Beifall bei der SPD]
	        
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