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Volume Nr. 78, 15. November 1984

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1984/85, 9. Wahlperiode, Band V, 71.-86. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
78. Sitzung vom 15. November 1984 
(A) Präsident Rebsch: Das Wort hat nunmehr der Kollege Tietz. 
Tietz (AL): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich 
möchte auf die Beiträge des Kollegen Preuss und der Frau 
Senatorin Laurien eingehen. Ich halte es für einen starken 
Hammer, Herr Preuss, wenn Sie heute, nachdem Ihre Partei 
anfangs, etwa vor einem Vierteljahr, uns den Vorwurf gemacht 
hat, eine antidemokratische Organisation zu sein, nun heute 
wieder mit einer neuen Variante aufwarten, indem Sie sagen, 
wir seien destruktiv. Das ist wirklich ein Witz und ein Hammer. 
Denn wer in dieser Stadt destruktiv ist, das sollten Sie sich mal 
selber fragen, wenn ich sehe, wie im vorigen Jahr die Junge 
Union die „Konversative Aktion“ unterstützt hat, oder wenn 
ich mir die Vorkommnisse bei Ihrem Bezirksverband der Jun 
gen Union in Tiergarten ansehe, wo es rechte Leute gab - 
oder die Ereignisse auf einer Versammlung in Charlottenburg, 
wo sich Leute geprügelt haben, weshalb die Polizei kommen 
mußte. Das, finde ich, ist viel destruktiver und viel schlimmer. 
[Beifall bei der AL] 
In diesem Zusammenhang steht doch die Frage, die Sie auf 
geworfen haben, nämlich die Ratlosigkeit oder die Frage: 
„no future“ ist nicht mehr aktuell. Ich finde, es geht gar nicht 
darum, daß wir einer No-future-Generation oder einer No- 
future-Betrachtung dieser Gesellschaft das Wort reden - das 
ist hier überhaupt nicht passiert -, sondern was wir machen, 
ist: Wir halten nur die Finger auf die Wunden dieser Gesell 
schaft und auf die Probleme und auf die Ursachen. Wir sind 
auch offen, uns mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, 
uns diesen Problemen zu widmen. Ganz im Unterschied zu 
Ihnen! Was ist denn Ihre Politik, was tun Sie? - Sie machen 
Schönfärberei, Sie reden nur immer von Ihren Erfolgen, aber 
die wirklichen Probleme behandeln Sie in Wirklichkeit nicht! 
Dabei komme ich auf die Senatorin Laurien zu sprechen, 
(B) weil Sie sagten - auch Sie, Herr Preuss -, man müsse den 
Jugendlichen helfen, von ihrer Abhängigkeit in eine Unabhän 
gigkeit zu kommen. Wie Sie das hier vortragen, ist das eine 
reine Phrase. Denn was ist denn mit den 30000 Jugendlichen 
in dieser Stadt, die Hilfe brauchen? Was tun Sie denn für diese 
Jugendlichen? Wie sieht denn Ihre Hilfe aus? Was machen Sie 
wirklich mit den Jugendfreizeitheimen, die in dieser Stadt 
brachliegen? - Sie sollten selber zugeben, was mit diesen 
städtischen Jugendfreizeitheimen los ist. Es ist ein Witz, wenn 
die Senatorin in ihrer Rede nur von Jugendfreizeitheimen 
spricht, die von freien Initiativen und freien Trägern betrieben 
werden. Woher kommt denn das? - Das müssen Sie sich doch 
mal fragen. Dann müssen Sie doch Lösungen anbieten, 
pädagogische Konzepte oder neue Initiativen starten oder 
- genau das fordern wir - offen sein für die jungen Menschen 
und Initiativen in dieser Stadt, die es gibt, zum Beispiel in 
Charlottenburg mit der Engelhardt-Brauerei. Es gibt aber 
noch mehr, zum Beispiel das Projekt in Neukölln. Was ist denn 
damit passiert? - Aus internen Kreisen hört man: Als der ehe 
malige Regierende Weizsäcker noch hier war, hatte er sich 
jede Woche danach erkundigt, was mit der Neuköllner Braue 
rei in der Wissmannstraße passiert. Das sollte ein internatio 
nales Begegnungszentrum werden, zusammen mit Auslän 
dern. Inzwischen gibt es dieses Projekt noch immer nicht. Das 
liegt, wie es scheint, brach. Die Zukunft mit diesem Projekt ist 
vollkommen unsicher. Offensichtlich gibt es immer wieder 
neue Interessenten aus der Wohnungsbaubranche, die diese 
Brauerei abreißen wollen, und dann wäre dieses Projekt wie 
der gestorben. Dazu sollten Sie sich mal äußern. Ein drittes 
Beispiel ist die alte Kreuzberger Schultheiß-Brauerei am 
Tempelhofer Berg, für die es auch Interessenten gibt, die 
was gestalten, was machen wollen. Geben Sie doch diesen 
Jugendlichen, diesen jungen Menschen eine Zukunft! Dazu 
brauchen Sie nicht zu reden, Sie brauchen nur zu handeln, 
indem Sie materielle Möglichkeiten geben - statt hier Phrasen 
zu dreschen, man wolle ihnen behilflich sein, sie unabhängig 
zu machen. 
[Beifall bei der AL] 
Präsident Rebsch: Einen Moment, Herr Kollege Tietz! - (C) 
Meine Herren dort hinten auf der Zuschauertribüne! Es ist 
nicht erlaubt, Mißfallen oder Beifall zu bekunden. - Bitte Herr 
Kollege Tietz! 
Tietz (AL): Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich 
noch weiter auf die Frage eingehen, die Herr Preuss zusam 
men mit dem Punkt behandelt hat, „no future“ sei nicht mehr 
aktuell. Plötzlich wird entdeckt, daß die Jugend von heute 
Umweltprobleme aufgegriffen hat, antiinstitutionell oder post 
materialistisch denkt. Und plötzlich findet er diese Haltung der 
Jugend positiv und entdeckt sie als eine neue Bewegung, die 
im Grunde genommen die Parteien auf ihre Probleme hin 
weist. Auch das, glaube ich, Herr Preuss, ist im Grunde ge 
nommen eine reine Anbiederung und wirft die Frage auf: Wo 
ist denn in der Praxis die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik? - Dann 
müßten Sie schon konkrete Initiativen folgen lassen und ent 
sprechend auf die Beispiele eingehen, die wir genannt haben. 
Ich meine auch, daß die Art und Weise, wie die Senatorin in 
einer allgemeinen Form von Motivieren und Aktivieren spricht, 
vollkommen unzureichend ist. Es muß wirklich darum gehen 
- das möchte ich Ihnen auch noch ausdrücklich sagen -: Wir 
reden nicht staatlichen Aktivitäten oder Einrichtungen das 
Wort, aber wir reden davon, daß es eine sozialpolitische Ver 
antwortung dieses Staates gibt. Vor allem; Wie Gelder in die 
sem Staat investiert und ausgegeben werden, steht in keinem 
Verhältnis dazu, wie sozialpolitische Maßnahmen unterstützt 
werden. Im Gegenteil, da werden Maßnahmen ergriffen, näm 
lich Sparmaßnahmen, die sich praktisch gegen die Menschen 
richten in diesem Lande, die unter bestimmten sozialen Pro 
blemen zu leiden haben. 
Die Frage, die Sie dann ansprechen, die in unserer Organi 
sation ein Ausdruck von politischen Differenzen zu sein 
scheint, ist aus unserer Sicht etwas ganz Produktives, Was 
haben Sie denn dagegen, wenn es Differenzen gibt zwischen 
Petra Kelly und anderen - Sie haben den Jo Leinen genannt; (D) 
der ist ja nicht Mitglied bei den Grünen, der ist SPD-Mitglied -? 
Diese Widersprüche, die es bei uns gibt, sind aus unserer 
Sicht überhaupt kein Problem. Wir sind offen für Wider 
sprüche, wir diskutieren sie frei. Das kann man zum Beispiel 
daran sehen, wie wir intensiv und lange inhaltliche Fragen auf 
unseren Mitgliedervollversammlungen diskutieren. Darüber 
müssen Sie sich doch mal Gedanken machen. 
[Zuruf des Abg. Adler (CDU)] 
- Herr Adler, melden Sie sich doch. Die Zwischenrufe versteht 
man leider nicht. - Ich möchte nur noch einmal darauf hinwei- 
sen, daß gerade unsere Organisation in diesem Sinne eine 
Vertreterin der Jugend ist, weil sie zum Ausdruck bringt, daß 
wir eben nicht käuflich sind und daß wir auch nicht bürokra 
tisch sind, sondern beweglich, und daß es bei uns keine klassi 
schen Machtstrukturen gibt, so wie man aus der CDU weiß, 
was da für Betonfraktionen existieren, die die Postchen unter 
einander verschieben und vermitteln. Das ist das, was die 
Jugendlichen an diesen Parteien und Institutionen abstößt in 
der Politik. 
Aber ich möchte noch auf zwei konkrete Punkte eingehen, 
die Sie. Frau Senatorin, angesprochen haben, einmal das 
Problem, daß Sie bezüglich der Kindertagesstättensituation 
eine positive Bilanz ziehen, der ich überhaupt nicht folgen 
kann. Es ist schon auffällig, daß Sie, wie sie neuerdings immer 
wieder betonen, im ersten Halbjahr 1984 fast 500 Plätze in 30 
Eitern-Kindertagesstätten geschaffen haben. Wir haben über 
haupt nichts dagegen, wenn solche Initiativen gefördert wer 
den, aber der Witz ist, daß keine einzige staatliche Einrichtung 
im letzten halben Jahr geschaffen wurde. Das heißt, daß 
gerade für die Eltern, die alleinerziehend sind oder wo beide 
Eltern arbeiten - und das sind 61 % in unserer Stadt -, der 
Bedarf überhaupt nicht gedeckt wird, das heißt, daß man 
genau den Wartelistenzahlen, nämlich 6626 in der Dringlich 
keitsstufe 1, nicht gerecht geworden ist - insgesamt sind es 
nach wie vor 22 000. Hier werden im Grunde genommen keine 
4840
	        
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