Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
78. Sitzung vom 15. November 1984
Preuss
Starken. Zu diesen Zielen gehört aber auch, daß das Leben zu
Hause, das Leben in der Schule, am Ausbildungs- oder am
Arbeitsplatz und auch die Freizeit wieder überall den Anforde
rungen an eine menschlich gestaltete Lebensumwelt gerecht
werden. Jugendpolitik soll dabei insbesondere auch Lern
motivationen aufbauen helfen, ein Grundverständnis von der
Arbeit, ihren Mechanismen und Institutionen vermitteln und
jungen Menschen dabei helfen, soviel Selbstvertrauen, Eigen
initiative und Kreativität zu entwickeln, daß sie fundierte Ent
scheidungen für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft auch
wirklich selbst treffen können. Die schwierigste Aufgabe liegt
nach meiner Überzeugung im übrigen darin, junge Menschen
für den Weg aus der Situation einer Abhängigkeit in die Situa
tion der Unabhängigkeit zu rüsten. Jugendpolitik muß somit
vor allen Dingen eine Hilfe zur Unabhängigkeit schaffen; führt
sie jedoch in neue Abhängigkeiten - wie zum Beispiel in die
Abhängigkeit vom Staate -, so hätte sie sicherlich ihr Ziel ver
fehlt. Mich macht deshalb eigentlich immer erschrocken, wie
überwiegend negativ, pessimistisch, resignierend, ja in Teilen
sogar destruktiv Jugendpolitik gerade auch von seiten der
Alternativen Liste erörtert wird.
[Beifall bei der CDU]
Es gibt kaum eine Diskussion, in der wir aus dieser Ecke
positive Züge aufnehmen können. Ich glaube, mit Politikern ist
es ähnlich wie mit Erziehern
[Tietz (AL): Wir repräsentieren doch die
alternativen Jugendlichen!]
- Herr Tietz, dazu können Sie ja nachher Stellung nehmen.
Wenn man bei Ihnen dauernd „Frechheit“ dazwischengeru
fen hätte, dann wären Sie gar nicht mehr zum Reden gekom
men. -
[Beifall bei der CDU]
Mit Politikern, auch gerade Politikern vom linken Spektrum, ist
es genauso wie mit Erziehern aus derselben Ecke; Wer sich
täglich hörbar in Frage stellt, der entschlüpft nun einmal sei
ner Vorbildrolle. Jugend kann eben mit solchen Partnern
nichts anfangen: Als Vorbilder sind sie zu schlüpfrig, und als
Sachwalter jugendlicher Interessen und Anliegen kann man
ihnen nicht trauen.
[Beifall bei der CDU]
Der Jugend muß deshalb zuallererst genau das eröffnet
werden, was der Kollege Tietz der Jugendpolitik versagt hat:
Jugendpolitik muß insbesondere Perspektiven eröffnen - wie
gesagt: dem Schwachen wie dem Starken -, Perspektiven
durch Hilfestellung und Unterstützung auf der einen Seite,
genauso wie auf der anderen Seite durch Anreiz und Heraus
forderung. Jugendpolitik ist deshalb auch mehr als nur eine
Summe von Einzelmaßnahmen, die sich aufgrund irgendeines
Geschäftsverteilungsplanes ergibt; Jugendpolitik ist all das.
was in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen die
Rahmenbedingungen schafft, ja geradezu den Grundstein
legt für junge Menschen, eine ehrliche Chance zu erhalten,
ihre persönliche Entfaltung mitzugestalten.
Die CDU-Fraktion fragt deshalb konsequent in ihrer Großen
Anfrage nach Art, Umfang und Inhalten, der Gestaltung einer
Fülle von ganz konkreten Maßnahmen der praktischen Ju
gendpolitik in Berlin. Wir greifen damit Bereiche auf, die sich in
der Vergangenheit als besonders problematisch erwiesen
haben oder denen aufgrund der sozial- und bevölkerungs
politischen Struktur dieser Stadt besondere Bedeutung zu
wächst. Wir wollen mit dieser Anfrage aber letztlich auch
einen ganz bewußten, an der Vielfalt der täglichen Praxis
orientierten Kontrapunkt zur Anfrage der Alternativen Liste
setzen - ein Gegengewicht, das dem breiten Spektrum sich
tatsächlich vollziehender positiver Jugendarbeit eine Darstel
lungsmöglichkeit verschafft, ein Gegengewicht, das wegführt (C)
von der ununterbrochen nörgelnden, mäkelnden und zerset
zenden Jugenddiskussion der Alternativen Liste. Es sind eben
genau die Grundüberzeügungen und die Grundeinstellungen,
die im Ergebnis dazu führen, ob Jugendpolitik ihren Nieder
schlag darin findet, mit positivem Engagement junge Men
schen für die Zukunft zu begeistern, oder ob Jugendpolitik
dazu verkümmert, eine Perspektivlosigkeit der Zukunft durch
das Herumtrampeln auf der eigenen Gegenwart zu suggerie
ren. Gerade weil es diese elementaren Unterschiede in diesen
Grundeinstellungen gibt oder - vielleicht besser gesagt - weil
es eine unterschiedliche Einschätzung von Grundwerten gibt,
fragen wir auch ganz bewußt danach, welche Grundsätze und
Leitlinien die Jugendpolitik des Senats bestimmen.
Ich möchte auf das eingehen, was unter anderem auch
heute wieder vom Kollegen Tietz dargestellt worden ist, und
eine grundsätzliche Frage in diesem Zusammenhang stellen.
Ich frage mich ernsthaft, ob dieses so oft heraufbeschworene
Symptom „no future“ eigentlich wirklich noch die Aktualität
hat, wie wir es noch vor einigen Monaten oder vielleicht auch
Jahren angenommen haben.
[Tietz (AL): Na, was ist denn da mit
30000 arbeitslosen jungen Menschen?]
Was unter dem Motto der Zukunftsangst in der Vergangenheit
gehandelt wurde oder auch heute noch gehandelt wird, ist
doch eigentlich nichts anderes als die Ratlosigkeit gegenüber
der Gegenwart. Ich frage mich wirklich allen Ernstes, ob dies
nicht ein Stadium ist, aus dem wesentliche Teile unserer
Jugend längst heraus sind oder zumindest dabei sind, dieses
Stadium zu überwinden.
[Tietz (AL): Weiche Jugendlichen meinen Sie?]
Wir alle haben feststelien müssen, daß eine sich anders arti
kulierende Jugend neue Themen ins politische Bewußtsein (D)
gerückt hat: Umweltschutz, Stadterneuerung, Friedenserhal
tung. Verwunderlich erscheint mir das deshalb nicht, weil sie
sich auch neue Felder suchen mußte, die von der etablier
ten Politik vernachlässigt worden waren, und alle anderen
Bereiche für sie schon besetzt waren. In ihrem Engagement
für diese nur vermeintlich neuen Fragen hat sie dann doch
auch Werte erlebt und gefunden, die ihnen die Erwachsenen
welt eigentlich gar nicht zugetraut hatte: Geborgenheit, Auf
gaben und ihre Erfüllung und nicht zuletzt auch die Erbringung
von Leistungen; denn gerade die Tatsache, andere für diese
ihre eigenen Fragen und Vorstellungen sensibilisiert zu haben,
ist nach meiner Auffassung eine dieser großen Leistungen der
Jugend. Wäre eigentlich - und ich komme zurück auf die
Frage: Ist „no future“ noch aktuell? - eine solche Leistung
möglich ohne eine positive Zukunftserwartung? - Das erfor
dert nach meiner Überzeugung unsere Anerkennung auch
dann, wenn wir nicht jede Form der Artikulation oder des Auf
tretens akzeptieren. Wenn heute noch exponierte Vertreter -
ich zeige wieder in dieselbe Ecke - diese Bewegung „no
future“ öffentlich proklamieren, dann frage ich mich ange
sichts dieser Überlegungen, ob sie nicht selbst schon begon
nen haben, ihre eigene Klientel nicht mehr zu verstehen,
genau wie wir vor Jahren anfingen, die Jugend nicht mehr zu
verstehen.
[Gelächter des Abg, Tietz (AL)]
Eine weitere Leistung dieser Jugend war mit Sicherheit
auch die Forderung nach menschlicher und zukunftsorientier
ter Politik. Wir alle, auch unsere Vorgänger, die politisch tätig
waren, haben dieses ja gewollt. Offensichtlich ist es aber in
der Verflechtung von Teilinteressen im politischen Alltag uns
nicht möglich gewesen, in ausreichendem Maße dieses den
Menschen und insbesondere den jungen Menschen deutlich
zu machen. Aufgabe unserer Politik muß es daher sein oder
zumindest werden, allen, aber insbesondere den Jugend
lichen, zu vermitteln, daß auch Politik ohne Orientierung und
persönliche Entfaltung des einzelnen nicht denkbar ist.
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