Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
78.Sitzung vom 15.November 1984
Sen Fink
(A) gesetzes, das auch nicht erwerbstätigen Ehefrauen einen eige
nen Rechtsanspruch auf Weiterbildungs- und Umschulungs
maßnahmen einräumte und das leider in den 70er Jahren von
der sozial-liberalen Koalition in wesentlichen Teilen wieder zu
rückgenommen worden ist, erhalten Frauen wie Männer nur
dann eigenständige Sozialversicherungsanwartschaften, wenn
sie in einem lohn- und sozialabgabepflichtigen Arbeitsverhältnis
stehen. Die Erziehung der Kinder und die Führung des Haus
halts werden sozialversicherungsrechtlich also nicht als eine
der Erwerbstätigkeit gleichwertige Tätigkeit angesehen, obwohl
diese Tätigkeiten der Frau nicht nur dem Mann in der Regel erst
die volle Erwerbstätigkeit ermöglichen, sondern darüber hinaus
gesellschaftlich kaum hoch genug bewertet werden können.
[Beifall bei der CDU]
Die Selbstverständlichkeit, mit der eine Hausfrau für ihre
Familie unentgeltlich tätig ist, darf uns nicht übersehen lassen,
daß hier Dienste bereitgestellt werden, die von hohem mensch
lichem aber auch von einem sehr hohen ökonomischen Wert
sind. Würde man die in den Haushalten verrichteten Tätigkeiten
der Hausfrau auch in den Sozialproduktberechnungen berück
sichtigen, was ja bisher nicht geschieht, so würde das Brutto
sozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland z. B. für das
Jahr 1973 statt auf 926 Milliarden DM auf rd. 1,3 Billionen DM
zu beziffern sein. Der Senat von Berlin begrüßt es deshalb aus
drücklich, daß die Bundesregierung zum erstenmal seit hundert
Jahren, also seit Bestehen des Sozialversicherungssystems,
beschlossen hat, durch die Anerkennung von Erziehungsjahren
in der Rente einen ersten entscheidenden Durchbruch zugun
sten der Frauen in dieser Frage zu erzielen.
[Vetter (CDU): So ist es! - Beifall bei der CDU]
Der Senat von Berlin sieht dies als eine ganz große familien
politische Leistung an. Er weiß, daß es schmerzlich ist, daß nur
die Jahrgänge ab 1921 in den Genuß dieses Erziehungsjahres
kommen. Vielleicht aber läßt sich in den Beratungen auch noch
^ einiges korrigieren. Der Senat weiß aber auch, daß die Einfüh
rung eines Erziehungsjahres für alle Frauen einen Kostenauf
wand von 4 bis 5 Mrd DM jährlich verursacht hätte und daß dies
nicht zu finanzieren gewesen wäre. Die Entscheidung der Bun
desregierung war mutig; sie hat sich nicht nach dem Prinzip
„alles oder nichts“, wie in der Vergangenheit zu oft geschehen,
für das Nichts entschieden, sondern einen ersten entscheiden
den Schritt getan.
[Beifall bei der CDU]
Alle diejenigen, die diese Entscheidung der Bundesregie
rung politisch kritisieren, müssen sich fragen, was sie denn in
ihrer Regierungszeit für die Anerkennung von Erziehungsjahren
getan haben.
[Vetter (CDU): Gleich Null!]
Damit habe ich auch gleichzeitig die Frage 13 beantwortet.
Ich komme zur Beantwortung der verbliebenen Fragen 14
sowie 1 und 2. Ich halte die Frage 14 für die bedeutsamste für
die Berliner Politik. Hier wird gefragt nach den Sozialen Dien
sten für die älteren Frauen. Damit ist auch gleichzeitig die Frage
angesprochen, die über die wirtschaftlichen Fragen hinausgeht,
nämlich wie sich diese Gesellschaft zu dem Problem der Iso
lation und der Einsamkeit älterer Menschen stellt. Wer Abhän
gigkeit und Isolation empfindet, wird materielle Not natürlich
noch drückender empfinden. Wer, wie manche ältere Frau,
aus einem besonderen traditionellen Rollenverständnis heraus
nur schwer Kontakte knüpfen kann, der hat es doppelt schwer,
ein auswärts gerichtetes erfülltes Leben zu führen. Besonders
schwierig aber ist die Lebenssituation für jene älteren Berline
rinnen, deren Familienmitglieder im anderen Teil der Stadt woh
nen, so daß sie von deren menschlicher Nähe und täglicher
Hilfe getrennt sind. Unsere Statistiken geben nicht her, wie viele
und welche Berliner Familiengenerationen auf diese Weise
voneinander getrennt sind. Aber die Kenntnis von Zahlen würde
auch hier nicht weiterhelfen. Entscheidend ist, daß der Senat
und die Stadt Hilfen anbieten, diese besondere Isolation und
Abhängigkeit wenigstens zu mildern, auch wenn wir noch
längst nicht alle Wünsche erfüllen können.
Gerade in den letzten Jahren haben wir in Berlin auf der Basis
anerkennenswerter Anstrengungen der Vorgängersenate die
Leistungen und Angebote für ältere Menschen stark ausgewei
tet. Die Schwerpunkte liegen für Männer und Frauen gleicher
maßen auf den Angeboten von ambulanten häuslichen Dien
sten, seniorengerechten Wohnungen und Wohnformen, Heim
plätzen mit bedarfsorientiertem Pflegeangebot, Freizeit und Er
holung, Information und Beratung. Der Senat hat klar
entschieden, dem Bereich der ambulanten Dienste gegenüber
allen stationären Angeboten soweit irgend möglich Priorität zu
geben. Die Grundlagen dieser Entscheidung sind sowohl
humanitär als auch finanzpolitisch begründet. Die Verwirkli
chung dieser Zielvorstellungen bedeutet für die älteren Bürger
vor allem Unterstüzung der selbständigen Lebensführung und
in der Regel die Erhaltung der eigenen Wohnung im gewohnten
Lebensumfeld durch den Ausbau der häuslichen Dienste. Sie
ermöglicht es weiterhin, den Umzug in ein Heim oder eine ent
sprechende Einrichtung auf die unumgänglich notwendigen
Fälle zu begrenzen bzw. einen solchen zumindest zeitlich
hinauszuschieben. Bilanz dieser Politik sind zur Zeit fünfzig
Sozialstationen, über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Sie bie
ten flächendeckend häusliche Riege an. Die Sozialstationen
stehen darüber hinaus für Beratung und Informationsangebote
in sozialen Fragen nicht nur für ältere Bürger zur Verfügung.
Die Sozialstationen sind gerade für die älteren Frauen von
besonderer Bedeutung. Drei Viertel aller Dienstleistungen der
Sozialstationen kommen den älteren Frauen zugute. Noch im
nächsten Jahr werden - dem steigenden Bedarf entspre
chend - weitere fünf Sozialstationen in Berlin eingerichtet.
Damit wird dem Grundgedanken der Überschaubarkeit von
ganzheitlicher Versorgung älterer und kranker Menschen Rech
nung getragen. Der Ausbau wird auch in Zukunft bedarfsorien
tiert fortgesetzt werden. Ein besonderer Schwerpunkt in den
Sozialstationen liegt auf der Gewinnung und Begleitung ehren
amtlicher und nachbarschaftlicher Helfer, die zur Ergänzung
und Unterstützung der professionellen Helfer unentbehrlich für
die humane Versorgung alleinlebender älterer und kranker Men
schen sind.'
Der Sorge vieler älterer alleinlebender Menschen kann durch
dieses Bündel an sozialen Dienstleistungen und Einrichtungen
wirksam begegnet werden. Diese Politik wird auch künftig kon
sequent fortgesetzt werden. Im Bereich der stationären Riege,
insbesondere der Vorhaltung von Plätzen in Seniorenheimen,
steht aus der rückläufigen Entwicklung der Zahlen der älteren
Menschen in Berlin - die Zahl wird sich bis Mitte der 90er Jahre
fast halbieren, und Berlin wird sich damit in seinem Alters
aufbau dem anderer Großstädte annähern - die Modernisie
rung nicht mehr zeitgemäßer Seniorenheime im Vordergrund.
Sie wissen, daß zwei Drittel aller Seniorenheime in Berlin
keinen zeitgemäßen Wohnstandard haben. 70 Mio DM stehen
in den nächsten Jahren zur Modernisierung der Seniorenheime
zur Verfügung.
Auf folgendes kommt es mir ganz besonders an: Der alte
Mensch im Heim darf nicht gezwungen sein, seine Individualität
an der Heimpforte abzugeben. Ein eigener Briefkasten, die
Möglichkeit, in Zukunft die Rente selbst überwiesen zu bekom
men, all das sind Schritte, die Würde des alten Menschen auch
im Heim noch stärker als bisher zu betonen.
[Beifall bei der CDU - Mertsch (SPD): Zum Teil haben Sie
entsprechende Anträge von uns abgelehnt!]
Darüber hinaus werden auch künftig von und mit älteren Men
schen konzipierte Selbsthilfeaktivitäten in gleicher Weise wie
entsprechende Selbsthilfeaktivitäten anderer Bevölkerungs
gruppen unterstützt Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die
Aktivitäten und Leistungen einzelner Initiativen aus dem Kreis
der älteren Generation, zum Beispiel das „Sozialwerk Berlin“
unter der Leitung von Frau Tresenreuter, verwiesen. Über 3 500
Menschen waren im letzten Monat im neugebauten Alten
selbsthilfe- und Beratungszentrum im Grunewald - das Fünf
fache von früher. Die Menschen fühlen sich dort wohl, weil die
älteren Menschen halt dieses Haus selbst konzipiert haben und
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