Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
74. Sitzung vom 27. September 1984
Tietz
(A) schließlich zeigt das, daß diese Berufe, in denen dort ausge
bildet wird, überhaupt keine Arbeitsplätze in der Zukunft
bieten können.
Diese Ausbildung in Berufen mit Überkapazitäten wird noch
verstärkt gefördert durch das Gießkannenprinzip des Senats
mit einer Prämie von 5000 DM pro eingerichteten Ausbil
dungsplatz in diesen Branchen, Letztlich führen also Ausbil
dungsmaßnahmen, die dieser Senat durchführt, eher in die
Arbeitslosigkeit als in zukunftweisende Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen.
Hinzu kommen - und das kann man überhaupt nicht trennen
-Arbeitslosenzahlen insbesondere im Bereich der Jugendli
chen. Wir haben zur Zeit eine aktuelle Zahl von über 4250
Jugendlichen bis 20 Jahre, die arbeitslos sind. Das sind 5,5%.
Eine weitere Verschleierung der Jugendarbeitslosigkeit findet
aber in dreifacher Hinsicht statt. Das eine Beispiel ist die
Sozialhilfe, auch hier heute schon genannt. Wenn man mal
zugrunde legt, daß in der Europäischen Gemeinschaft die
Norm ist, daß die Jugendarbeitslosigkeit bis 25 Jahre gerech
net wird, dann kommen im Zusammenhang mit der Sozialhilfe
gerechnet zirka 20000 Jugendliche bis 25 Jahre dazu, die
durch Sozialhilfe arbeitslos sind.
Ein zweites Beispiel sind die sogenannten Berufsförde
rungsmaßnahmen. Allein 3500 junge Menschen sind in diese
Maßnahmen gesteckt, ohne eine Perspektive zu haben.
Und ein letztes, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; 6652
Menschen sind dort untergebracht, für eine kurze Zeit geparkt,
ohne Zukunft. Ein Großteil dieser Leute sind junge Leute.
Insgesamt kommen wir dann auf eine Zahl von 40- bis 50000
jungen Arbeitslosen in unserer Stadt bis 25 Jahre. Hinzu
kommt jährlich eine hohe Zahl von Schulabgängern.
Was folgt daraus? - Der Senat ist offensichtlich nicht in der
Lage, das Problem grundsätzlich zu verändern. Im Gegenteil,
1 ' nach unserer Ansicht sind alle Maßnahmen rein kurzsichtig
und kurzfristig, noch nicht einmal mittelfristig, geschweige
denn langfristig. Die Öffentlichkeit wird durch Flickschusterei
mit ABM-Programmen und Berufsförderungsmaßnahmen ge
täuscht. Auf Kosten der jungen Generation wird eine Politik
gemacht, vor deren Folgen wir nur warnen können, ebenso
wie vor der Augenwischerei, die hier geschieht, während man
sich den wirklichen Problemen nicht widmet. Denn letztlich
behandelt man nur Erscheinungsbilder, ohne die wirkliche
Problematik anzugehen.
Ich kann nur bemerken, daß es nicht verwundert, daß dann
Jugendliche protestieren und Häuser besetzen oder wenn sie
in Drogen- oder Alkoholproblemen landen, oder die vielen
Punks, die man am Kottbusser Tor findet, die dort rumhängen
und keine Zukunft haben, und wenn letztlich dabei heraus
kommt, daß das die No-future-Generation ist. Das muß hier
noch mal festgehalten werden.
Ein aktuelles Beispiel ist hier nicht zu vergessen: daß diese
Bundesregierung den BAföG-Empfängern für einen Monat im
Jahr das Geld streicht.
Wir meinen, Berufsausbildung darf nicht dem Zufall und
auch nicht den „Heilkräften“ der freien Wirtschaft überlassen
werden. Wir wollen, daß staatliche Subventionspoiitik orien
tiert wird auf qualifizierte, zukunftsorientierte Ausbildung. Es
muß Schluß sein mit dem Gießkannenprinzip.
Wir fordern ein umfassendes Berufsausbildungsprogramm,
orientiert daran, daß es grundsätzliche Kriterien geben muß,
ökologisch verträgliche Produktionsweisen, daß Arbeitswei
sen geschaffen werden müssen, die für Menschen und Natur
und Umwelt sinnvolle Produkte bringen. Wir fordern alternati
ve Betriebs-, Arbeits- und Ausbildungsorganisation. Wir mei
nen, daß es aktuell notwendig ist, mindestens 5000 Ausbil-
dungs- und Arbeitsplätze zu schaffen in Bereichen der behut
samen Stadterneuerung und Stadtreparatur, wie es auch
aktuelle Beispiele der IBA-Ausstellung zeigen. Oder im öffent
lichen Nahverkehr gibt es Möglichkeiten, speziell für Ver- (C)
kehrsplanung und -entwicklung, die sich an Lebens- und
Wohnqualität der Menschen orientieren, Arbeitsplätze und
Ausbildungsplätze zu schaffen. Selbst in Bereichen des Natur-
und Umweltschutzes sowie in den öffentlichen Diensten
könnten noch Arbeitsplätze geschaffen werden.
Darüber hinaus fordern wir außerbetriebliche Berufsausbil
dungsträger, die kurzfristig mindestens 5000 und mittelfristig
10000 Ausbildungsplätze schaffen müssen. Zum Beispiel
stellen wir uns Werkhöfe mit neuen Formen vor, besonders in
Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten und Wedding, mit Schwer
punkten in der Altstadtreparatur und -Sanierung, Ausbildungs
genossenschaften mit Branchenschwerpunkten ohne Markt-
und Konkurrenzdruck, die Aufträge von der öffentlichen Hand
bekommen, und Kooperationsverbünde zwischen außerbe
trieblichen Ausbildungsträgern, die in Zusammenarbeit mit
Klein- und Mittelbetrieben das Ziel haben, eine bessere
Ausbildung mit praktischen Erfahrungen und auf einer qualifi
zierten Grundlage zu erreichen.
Wenn ich hier heute ein düsteres Bild male, dann deshalb,
weil wir glauben, daß man die Augen vor den Realitäten nicht
verschließen darf. Wir meinen, daß es in Zukunft darauf
ankommt, Maßnahmen zu ergreifen, die insbesondere die
junge Generation in dieser Stadt als Kraft für diese Stadt am
Leben erhalten und dadurch die Existenz dieser Stadt fördern,
und deshalb glaube ich an das Wort eines großen Staatsman
nes erinnern zu sollen, eines Staatsmannes, der einmal
gesagt hat: „Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft.“ - Nun
bleibt nur noch die Frage, wer das war. Was meint ihr denn?
[Zurufe von der AL: Mao!]
-MaoTseTung, ganz richtig! Und ich bin der Meinung, meine
Damen und Herren, wir haben die Zukunft vor uns und die
Jugend hinter uns, und insofern werden wir auch diese (D)
Probleme mit lösen. Ich hoffe, daß das mit der SPD in gewisser
Weise klappen kann.
[Beifall bei der AL - Zurufe von der CDU: Genau!
Sie haben die Zukunft schon hinter sich!]
Präsident Rebsch; Meine Damen und Herren! Bevor ich dem
Kollegen Fabig das Wort gebe, bitte ich doch, auch bei
Situationsbeschreibungen Ausdrücke aus der Fäkalsprache
in diesem Hause zu unterlassen. - Bitte, Herr Kollege Fabig!
Fabig (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es
ist wirklich auffällig, mit welcher Penetranz die AL ab heule
offensichtlich auf Steuerkosten Wahlwerbung betreibt.
[Zurufe von der AL: Wieso denn das?]
-Immerhin, die Diäten und was ihr sonst an Fazilitäten hier so
zur Verfügung habt, das sind doch Steuergelder, Herr Tietz.
Also diese Penetranz, mit der Sie sich hier als die Heilsbringer
darstellen, Herr Tietz, die ist schon ein bißchen geschmack
los.
[Widerspruch bei der AL - Kunzeimann (AL):
Wollen Sie die erste Aktuelle Stunde noch mal
beginnen, Herr Fabig? Wir sind dazu gerne bereit!]
Ich will zunächst einmal meine Übereinstimmung mit mei
nem Vorredner Wagner, dem Kollegen von der SPD, bekun
den. Es ist richtig: Kein einziger darf in Berlin ohne Ausbil
dungsplatz bleiben! - Und es hilft auch nichts, wenn sich der
Senat mit einer gewiß guten Bilanz, was die Ausbildungsplät
ze in Berlin angeht, darstellen kann. Es ist auch richtig, wir
stehen gegenüber dem Bundesdurchschnitt sehr gut da. Auch
wenn das stimmt, was der Herr Wagner gesagt hat, daß die
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