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Volume Nr. 74, 24. September 1984

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1984/85, 9. Wahlperiode, Band V, 71.-86. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
74. Sitzung vom 27. September 1984 
Wagner 
(A) auch, daß durch die Steigerung des Angebots der außerbe 
trieblichen Ausbildungsträger in erheblichem Umfang zusätz 
liche Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Wir anerkennen 
auch das Bemühen des Handwerks, aber wir registrieren doch 
mit Sorge, daß die Industrie das Ausbildungsplatzangebot 
nicht in gleichem Umfang gesteigert hat. 
Bei all dem Lob über die Zunahme des Ausbildungsplatzan 
gebots in Berlin darf aber eines nicht verschwiegen werden; 
Die Zahl der Auszubildenden, gemessen an der Zahl der 
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, ist hier in Berlin 
immer noch - und ich betone das - am niedrigsten von allen 
Ländern der Bundesrepublik Deutschland, und das, meine 
Damen und Herren, ist nun wahrlich kein Ruhmesblatt für 
diese Stadt. Hier kommnen auf 100 Arbeitnehmer 5,7 Auszubil 
dende, in Hamburg sind es immerhin 6,1 - das ist die 
zweitschlechteste Position -, und der Bundesdurchschnitt 
liegt bei 8,2 auf 100 Arbeitnehmer. Ich meine, mit dieser Zahl 
muß man sich auch noch auseinandersetzen. 
Die Zahlen, die wir diskutieren und die wir uns vielleicht 
gegenseitig verhalten, sagen noch immer nicht die ganze 
Wahrheit. Ich streite doch nicht über die Zahl der jungen 
Menschen, die Jahr für Jahr auf der Strecke bleiben, weil sie 
keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das ist doch nur ein Teil 
der jungen Menschen, die ohne Weiterbildung, ohne weitere 
Ausbildung bleiben. Bei dem System unserer statistischen 
Erfassung sind die genauen Zahlen immer nur sehr schwer zu 
belegen. Aber auch in diesem Jahr werden etwa 2000 
Schulabgänger in berufsvorbereitende Maßnahmen überge 
hen, 2000 werden weiter beschult, 2500 erfahren ABM- 
Maßnahmen, alle also eigentlich nicht die Berufsausbildung, 
die wir meinen. Und auf rund 3000 ist die Zahl nach den 
Erfahrungen der letzten Jahre zu schätzen, die noch im ersten 
Jahr ihre Ausbildung abbrechen. 
Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen bis 25 Jahren 
beträgt rund 17 000; wenn ich zusammenzähle, sind das 
26500, und das ist erschreckend. Unter diesen befinden sich 
viele, die das Heer der 14 000 jungen Sozialhilfeempfänger 
vermehren werden, wenn sie ohne Ausbildung und ohne 
Hoffnung auf eine anständige Arbeit bleiben, weil sie in 
diesem System auf der Strecke bleiben. 
Sie sind dann durch die Roste gefallen, wie es so abscheu 
lich heißt, sie sind - und das sollten wir uns vor Augen halten - 
eine soziale Anklage an unsere Gesellschaft, die nicht in der 
Lage war, das Verfassungsrecht einzulösen, das heißt, jedem 
einen Ausbildungsplatz zu gewähren. 
Bei unserer Diskussion um die Versorgung junger Men 
schen mit Ausbildungsplätzen wird leicht die Qualität der 
Ausbildung übersehen. Die Ausbildungsplatznot hat doch 
dazu geführt, daß der Senat froh ist über jede Ausbildungsstel 
le, egal ob sie was taugt oder nicht. Die Folge schlechter 
Ausbildung sind katastrophale Prüfungsergebnisse. Durch 
fallquoten, wie sie zum Beispiel im Elektro- oder Kfz-Hand- 
werk vorhanden sind, geben doch zu größter Besorgnis Anlaß. 
Ausbildung ist kein Selbstzweck. Wer heute ausbildet, muß 
darüber nachdenken, was nach der Ausbildung geschieht. Auf 
uns kommen Probleme zu, daß all jene, denen die Ausbildung 
gewährt wurde, anklopfen werden nach einem Arbeitsplatz. 
Junge Leute wollen arbeiten, sie wollen Geld verdienen, sie 
wollen eine Familie gründen, und das ist nur das natürliche 
Recht für alle. 
Wir Sozialdemokraten haben in einer guten Berufsausbil 
dung immer eine entscheidende Grundlage für die Lebensge 
staltung eines Menschen gesehen. Und weil das so ist, haben 
wir uns hier in dieser Stadt immer darum bemüht, allen 
Ausbildungswilligen eine Ausbildung zu ermöglichen. 
Wir sollten uns in diesem Hause einig sein: Der Staat (C) 
versagt, wenn auch nur ein einziger, der ausbildungswillig ist, 
nicht ausgebildet wird. 
[Beifall bei der SPD] 
Präsident Rebsch: Das Wort hat der Abgeordnete Tietz für 
die Fraktion der AL. 
Tietz (AL): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als 
erstes möchte ich noch mal auf den Herrn Dr. Neuling 
eingehen, der offensichtlich in Unkenntnis der Lage nur 
Fragen an den Senat stellen kann, wenn es sich eigentlich um 
eine Aktuelle Stunde handelt und in dieser Aktuellen Stunde 
vorher angekündigt wurde, daß man sich um die Sorgen der 
Jugendlichen kümmern will. Und hier hören wir dann nichts 
anderes als Fragen. An dieser Stelle können wir nur noch mal 
darauf verweisen, daß der parlamentarische Stil, unsere 
Große Anfrage nicht zu verbinden mit dieser Aktuellen Stunde 
- denn diese Anfrage behandelt ja gerade Probleme der 
Ausbildung und der Jugendarbeitslosigkeit, die Frage der 
Situation in der Freizeit und die Frage zum Beispiel, welche 
ideologischen Vorstellungen zur Eliteförderung die CDU hat 
und welche Gelder sie dafür aufwendet-, daß diese Verbin 
dung hier nicht stattgefunden hat, ist ein Zeichen Ihres 
parlamentarischen Stils. 
[Beifall bei der AL] 
Wenn man davon ausgeht, daß die Schulabgänger dieses 
Jahr vor einem Dilemma stehen - Zahlen wurden hier schon 
genannt: zwischen 1000 und 2000 -, und andere werden in 
Maßnahmen gesteckt, ohne eine wirkliche Ausbildung zu 
bekommen, und wenn man dann die Zahl des DGB nimmt, die (D) 
mit 11 500 fehlenden Ausbildungsplätzen genannt wird, dann 
zeigt das nur, daß die Lage für die Jugend beschissen ist. Ich 
würde sagen, daß das im Grunde genommen nur Ausdruck 
davon ist, daß die Frage der Jugendarbeitslosigkeit von 
diesem Senat auf keinen Fall gelöst worden ist geschweige 
denn in der Zukunft gelöst werden wird. 
Diejenigen aber, die vielleicht einen Ausbildungsplatz fin 
den oder einen haben, müssen das nehmen, was ihnen 
geboten wird, und zum großen Teil sind das Ausbildungsberu 
fe ohne Perspektive und Zukunft. Nehmen wir zum Beispiel 
den vor kurzem in der Presse groß als Traumberuf herausge 
stellten Beruf Friseuse. Jeder weiß, wie wenig dort gezahlt 
wird, jeder weiß, wieviel gearbeitet wird und daß diese 
Ausbildung ganz sicher nicht eine langfristige Zukunft hat, 
Zahlen zum Beispiel beweisen, daß gerade nach der Ausbil 
dungszeit Arbeitskräfte entlassen werden, weil sie dann mehr 
Geld kosten als in der billigen Zeit, wo sie ausgebildet werden. 
Ein Beweis dafür ist, daß im vorigen September, also 1983, 
allein 438 Friseusen sich arbeitslos melden mußten. Noch 
schlimmer war es bei Arzthelferinnnen, und in die Tausende 
ging es bei Verkäuferinnen. Nämlich allein 5000 Verkäuferin 
nen mußten sich im vorigen Jahr nach ihrer Ausbildung 
arbeitslos melden, und noch einmal 5000 waren es bei den 
Bürokräften. Ähnliche Zahlen, die in die Hunderte gehen, gibt 
es bei Malern, Elektroinstallateuren. Tischlern und Kfz- 
Schlossern. Immer nach dem Abschluß der Lehre gehen die 
Arbeitslosenzahlen in die Höhe. Letzendlich zeigt das, daß 
hier in einer Perspektive gehandelt wird, die keine Lösung 
anbietet. 
Selbst die Landespostdirektion Berlin hat sich in diesem 
Jahr nicht in der Lage gesehen, ihre Lehrlinge zu überneh 
men. Das heißt also, hier in unserer Stadt werden Ausbil 
dungsplätze angeboten, die nicht mehr unter dem alten Motto 
zu bezeichnen sind: Handwerk hat goldenen Boden,-sondern 
letztlich ein Handwerk mit sumpfigem Boden sind. Denn 
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