Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
73. Sitzung vom 13. September 1984
Sen Oxfort
(A) spruch auf Vollständigkeit erhebe. Da ist einmal die geopoli-
tische Lage Berlins einschließlich der Mauer und des Stachel
drahts. Da gibt es die Viermächte-Rechte und -Verbindlichkei
ten nach wie vor für ganz Berlin. Da gibt es den Vorbehalt der
Drei Mächte über Berlin vom 5. Mai 1955 und die damit verbun
dene Einschränkung der Souveränität des Bundes und Berlins
in bezug auf das Land Berlin. Ich erinnere beispielsweise an die
Pflicht zur Übernahme von Gesetzen, an die Berlin-Klausel bei
völkerrechtlichen Verträgen, an die Wahlen zum Europäischen
Parlament und zum Deutschen Bundestag, bei denen wir nicht
direkt wählen können, an die Einschränkung des Stimmrechts
im Bundestag und im Bundesrat, an die Nichtzuständigkeit des
Bundesverfassungsgerichts für Berlin. Ich erinnere daran, daß
im Berliner Landeswahlgesetz die Zahl der Mitglieder dieses
Parlaments, für das Hans Apel kandidieren will, sich bemißt im
Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl von ganz Berlin und daß
§ 8 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes dies nur eine vorläufige
Lösung nennt, die Platz greift, solange in einem Teil Berlins die
Durchführung der Wahl durch höhere Gewalt verhindert wird.
[Ulrich (SPD): Das wissen wir doch alles!
Sie langweilen uns!]
- Das ist langweilig für Sie?
[Ulrich (SPD): Wir wissen das alles!]
- Wenn Sie das alles wissen, dann frage ich mich allerdings,
warum Sie in den vergangenen Monaten keine Gelegenheit
wahrgenommen haben, dies auch Ihrem Spitzenkandidaten zu
erklären,
[Beifall bei der F.D.P. und der CDU]
damit er uns nicht in den Zwang bringt, über alle diese Fragen
hier sprechen und sie in Erinnerung rufen müssen.
[Ulrich (SPD): Das weiß er besser als Sie!]
- Nein, das weiß er offenbar nicht, verehrter Herr Kollege, sonst
1 ' hätte er nämlich die umstrittene Äußerung in dieser Form nicht
getan.
[Thomas (SPD); Da quatscht ein Fachbeamter,
den das gar nichts angeht!
- Zuruf des Abg. Ulrich (SPD)]
- Ihre Erregung, verehrter Herr, ist schon sehr bemerkenswert,
wie ich es auch bemerkenswert finde,
[Thomas (SPD); Sie stehlen uns ungerechtfertigt
die Zeit]
daß in einer solch wichtigen Frage, die für Berlin lebenswichtig
ist, der Fraktions- und Landesvorsitzende nicht einmal ein Wort
in der Debatte sagt. Das ist bezeichnend.
[Beifall bei der F.D.P. und der CDU
- Ulrich (SPD): Aber der Justizsenator! -
Dr. Meisner (SPD): Aber er wäre so gern
Bundessenator geworden!]
Ich will auch daran erinnern, daß den Berlinern von seiten der
DDR der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit bestritten
wird und statt dessen eine „ständige Einwohnerschaft von
West-Berlin“ konstruiert wird. Ich will daran erinnern, daß im
Viermächte-Abkommen die vorgesehene Einbeziehung Berlins
in internationale Verträge der Bundesrepublik von der anderen
Seite als bloße Möglichkeit betrachtet wird - mit der Folge, daß
die Einbeziehung Berlins oft abgelehnt wird. Ich könnte diese
Liste fortsetzen. Ich will es lassen; ich habe sie nur als Beispiele
aufgezählt, wie sehr es mit der Hand zu greifen ist, daß Berlin
von der Lösung der deutschen Frage abhängig ist Aber ich will
es gar nicht auf die juristische Seite allein stützen, sondern ich
möchte schon noch etwas ganz anderes sagen.
Ich meine nämlich, wir haben allen Anlaß, darüber nach
zudenken - und auch darüber waren wir uns in Berlin immer
einig -, daß eine der wesentlichen Voraussetzungen für das
Überleben Berlins in Freiheit der Umstand ist, daß die Men
schen in dieser Stadt an die Lösung der deutschen Frage glau
ben, daran glauben, daß sie eines Tages in einem Volk und
einem Staat wieder Zusammenleben können.
[Beifall bei der F.D.P. und der CDU]
Nun gibt es niemand, der behaupten wollte, er hätte eine Patent
lösung dafür bereit oder er könnte einen Zeitpunkt nennen,
wann dies alles verwirklicht werden könne. Aber dies ist nicht
das Entscheidende. Andere Völker haben unter Umständen
jahrhundertelang Besatzung und Spaltung ertragen müssen.
Ich muß hier nicht erst an die Polen erinnern, um deutlich zu
machen, daß die Deutschen trotz des verlorenen Krieges und
des Umstandes, daß sie ihn angezettelt haben, einen Anspruch
darauf behalten, eines Tages als ein Volk in einem Staat zusam
menzuleben.
[Beifall bei der F.D.P. und der CDU]
Und gewiß, Herr Kollege Longolius, haben wir keinen Grund,
etwas lautstark und revanchistisch - wie das die andere Seite
nennt - Gebietsansprüche oder ähnliches geltend zu machen.
Allerdings meine ich eines: daß derjenige die Voraussetzungen
der Entspannungspolitik verkennt, der etwa der Meinung wäre,
wir Deutschen dürften in unserem eigenen Interesse und nach
unserem eigenen Selbstverständnis unser Ziel nicht mehr for
mulieren.
[Beifall bei der F.D.P. und der CDU]
Wenn Sie unter diesem Gesichtspunkt, Herr Kollege Longolius,
- ich sehe, daß Sie das nicht interessiert - untersuchen, welche
[Longolius (SPD): Das steht Ihnen nicht zu,
Sie Oberlehrer! - Pätzold (SPD): Und das sagt
der mandatslose Justizsenator!]
Äußerung Ihr Spitzenkandidat gemacht hat, dann werden Sie
feststellen, daß er in seinen weiteren Bemerkungen - insbeson
dere in seinen Erläuterungen, die er anschließend und später
gegeben hat - zur Frage der Zustandsbeschreibung etwas
durchaus Richtiges gesagt hat, was auch keiner bestreitet Er
hat zum Beispiel darauf hingewiesen, daß es für die deutsche
Frage auch europäische Zusammenhänge gibt, daß die Blöcke
entsprechend ausgebildet und die beiden Seiten in die Blöcke
eingebunden sind. All das bestreitet keiner. Man muß eben die
Zustandsbeschreibung vom Ziel unterscheiden. Ich meine, wir
haben allen Anlaß, an dem Ziel festzuhalten, das die anderen
drei Fraktionen - ich nehme die AL aus - dieses Hauses bisher
vereint hat, daß nämlich auch im Interesse unserer Bevölkerung
der Anspruch auf Wiedervereinigung aufrechterhalten bleiben
muß - ich habe das einmal die Vision der Normalität genannt
das sollte zwischen den politischen Parteien unstreitig sein.
[Zuruf des Abg. Kunzeimann (AL)]
- Wenn Sie dazu eine Bemerkung hören wollen, bitte. Die AL
jedenfalls ist mit ihrer Politik dabei, eine der Existenzgrundlagen
dieser Stadt zu zerstören.
[Kunzeimann (AL): Wo ist denn die Bindung
an den Bund?]
- Hören Sie doch erst einmal zu, bevor Sie dazwischenrufen.
Eine der Existenzgrundlagen ist die Bindung an den Bund.
[Kunzeimann (AL): Wo ist die denn?]
Damit meine ich die rechtliche Bindung an den Bund.
[Kunzeimann (AL): Was heißt denn „rechtliche Bindung
an den Bund“?]
Sie gefährden mit Ihren Anträgen und Redebeiträgen bei den
Übernahmegesetzen diesen Punkt ganz entscheidend.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P. - Kunzeimann (AL);
Die Bindung an den Bund kann doch wegen
statusrechtlicher Fragen nicht einmal überprüft werden!]
- Herr Kunzeimann, nun schreien Sie doch nicht so. Wer so
schreit, hat unrecht Es ist die seit vielen Jahren bestehende
Überzeugung dieses Hauses, daß die Übernahme der Bundes
gesetze eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Auf-
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