Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
73. Sitzung vom 13. September 1984
Löffler
(A) ja um Ausklammerung nicht überwindbarer gegensätzlicher
Positionen. Der typische Satz in der ganzen Vertragspolitik der
sozial-liberalen Koalition, die auf Ausgleich mit den osteuropä
ischen Staaten gerichtet war, auch aus dem Grunde, daß es für
deutsche Politik eine moralische Verpflichtung ist und bleibt,
diesen Ausgleich zu suchen, weil diese Staaten unter dem
Überfall Hitler-Deutschlands in einer unsäglichen Weise gelit
ten haben - ich will das nur noch erwähnen -, das typische Bei
spiel dieser Ausklammerung war der Satz im Grundlagen
vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR - ich zitiere
wörtlich - „unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen
der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Repu
blik zu grundsätzlichen Fragen, darunter der nationalen Frage“.
Dieser dialektische Prozeß, der begonnen wurde, hat eine neue
politische Dynamik - das kann heute keiner bezweifeln - in die
deutsch-deutschen, allgemein in die Ost-West-Beziehungen
oder West-Ost-Beziehungen gebracht.
Dabei ging es uns konkret aus der Erkenntnis, daß die DDR
als souveräner Staat eingebettet in den Ostblock nicht wegzu
wischen sei, um den Zusammenhalt der deutschen Nation. Und
wir werden das ja bei einem anderen Tagesordnungspunkt
noch einmal in den Blick nehmen können, wie 20millionenfache
Begegnungen jedes Jahr ein entscheidener Beitrag zum
Zusammenhalt der deutschen Nation im geteilten Deutschland
sind.
Nun komme ich zu der Äußerung des Spitzenkandidaten der
SPD, die für Sie Anlaß war, diese Rede zu halten, Herr Kollege
Buwitt, wie Sie sie gehalten haben. - Man darf in diesem
Zusammenhang nicht auf dpa zurückgreifen; dpa ist bereits
eine Verkürzung des Interviews. Herr Apel beantwortete
zunächst eine Frage des Journalisten, die sich auf einen Grund
satzvortrag von Herrn Genscher bezog, in welchem Herr Gen
scher die These vertrat, man müsse auch die DDR stabilisie
ren. Das war der Ausgangspunkt der Frage. Hierauf antwortete
Herr Apel - ich zitiere wörtlich:
(B) Beginnen wir einmal mit den Fakten, und die Fakten sind
die, daß es zwei deutsche Staaten gibt, die für einander
nicht Ausland sind. Aber die deutsche Frage ist insofern
nicht offen. Deutsche Zukunft gibt es nur miteinander und
nicht gegeneinander, und deutsche Zukunft gibt es auch
nur im europäischen Verbund.
- Insofern nicht offen, aber deutsche Zukunft! Ich muß das
noch vertiefen.
Die nächste Frage des Journalisten war:
Bedeutet diese dialektische Aussage ein Abschiednehmen
vom Grundgesetzgebot, die Wiedervereinigung anzustre
ben?
Antwort von Herrn Apel:
Nein, natürlich nicht. Das Grundgesetz gilt und bleibt wei
terhin gültig, keiner will diesen Teil ändern.
- Das ist der ganze Zusammenhang.
Wir halten die Erkenntnis nicht für widerlegbar, daß die deut
sche Frage von der Frage des Friedens in Europa nicht zu tren
nen ist und in ihrem Kern eine europäische Frage ist.
[Beifall bei der SPD]
d. h., eine europäische Antwort auf die Frage ist nur vorstellbar,
wenn sie beide deutsche Staaten und die europäische Völker
gemeinschaft in Ost und West gemeinsam geben. Und solange
diese gemeinsame Antwort Europäs - und ich füge hinzu: und
der Vereinigten Staaten von Amerika - nicht in Aussicht steht,
solange und insofern ist in der Tat politisch heute die deutsche
Frage nicht offen. Sie bleibt offen in dem von uns allen —
[Starke Unruhe bei der CDU und der F.D.P.]
Sie bleibt offen in dem von uns gemeinsam gewünschten
politsch-historischen Prozeß, der sehr schwer zeitlich bestimm
bar ist. Ich halte es für redlich, wenn Hans Apel in einem glei
chen Zusammenhang an anderer Stelle erklärt, er fürchte, daß
er als Fünfziger nicht mehr das Ergebnis dieses europäischen
Prozesses erleben wird. Ich halte das für redlich; ich identifi- (C)
ziere mich damit.
Der Bundeskanzler hat nach dem Interview von Herrn Apel
und in Kenntnis dieses Interviews von Herrn Apel am 2. Sep
tember in Braunschweig in dieser Frage folgende Formulierung
gebraucht;
Die beiden deutschen Staaten sind und bleiben verläßliche
Partner in ihren Bündnissystemen.
Meine Damen und Herren! Ich bitte zu bedenken, was der Satz
„sie sind und bleiben“ politisch heute bedeutet Ich darf
doch wohl unwidersprochen sagen: Solange sie verläßliche
Partner in ihren Bündnissen bleiben, ist de facto die deutsche
Frage für diesen Zeitraum nicht offen. Sie können es anders
nicht sehen.
[Unruhe bei der CDU und der F.D.P. -
Glocke des Präsidenten]
Ich wende mich jetzt dem Thema zu, inwieweit Berlin Symbol
der offenen deutschen Frage ist. Ich finde, daß die Äußerungen
des Herrn Regierenden Bürgermeisters am 6. September in
Paris vor dem Institut für Internationale Beziehungen eine Ant
wort geben, der wir uns anschließen können. Ich zitiere wört
lich;
1. Berlin ist sichtbares Ergebnis und unmittelbarer Ausdruck
des Ost-West-Konfliktes.
2. Berlin symbolisiert als geteilte Stadt zugleich die Teilung
Deutschlands und Europas.
3. Berlin ist das politische Herzstück der politischen West
bindung der Bundesrepublik Deutschland.
[Krüger (CDU): Eine völlig klare Analyse!]
- Völlig klar, ja! Da ist noch nicht der Satz enthalten - der Regie
rende hat ihn wohlweislich nicht gesagt in Paris -, daß Berlin
Symbol der offenen deutschen Frage ist, weil es bestenfalls
auch eines unter mehreren Symbolen der nicht gelösten euro- * '
päischen Frage in Mitteleuropa ist.
[Adler (CDU); Das widerspricht sich doch gar nicht! -
Unruhe]
Wir sind fest davon überzeugt, daß die heutige Lage in Mittel
europa vor der politisch-historischen Entwicklung nicht
Bestand haben wird, daß sie nicht nur überwunden werden
muß, sondern daß sie überwunden werden wird. Aber nur in
diesem Zusammenhang des europäischen Verbundes ist über
haupt die Chance für eine nicht unter nationalen Kategorien zu
betrachtende deutsche Frage zu sehen!
[Adler und Krüger (CDU): Bravo!]
Herr Diepgen hat als Regierender Bürgermeister in seinem Vor
trag vor dem Institut einen zweiten, von uns Sozialdemokraten
voll akzeptierten Satz gesagt, den ich wörtlich zitiere: „Freiheit
geht uns über Einheit“. „Das war so“ - fügte er hinzu - „und
wird so bleiben!“ - Ist das nicht auch eine faktische Einschrän
kung
[Zurufe von der (CDU): Nein! - Unruhe]
der nur unter nationalen Gesichtspunkten von manchen von
Ihnen betrachteten deutschen Frage?
Nachdem ich den Herrn Regierenden Bürgermeister in zwei
Punkten völlig zustimmend zitiert habe, komme ich im letzten
Teil meiner Ausführungen auf einen Punkt zurück, wo ich ihm
unter keinen Umständen folgen kann. Der Regierende Bürger
meister ist von einem Journalisten des „Rheinischen Merkur“
gefragt worden: Angenommen, die deutsche Frage wäre tat
sächlich erledigt, wie es Hans Apel gesagt hat - er hat es nie
gesagt -
[Unruhe - Zwischenrufe von der CDU]
Die Antwort des Regierenden Bürgermeisters lautet - ich zitiere
wörtlich und kommentiere das dann:
Die Formulierung von Herrn Apel läßt zwingend die
Schlußfolgerung zu, er sei der Auffassung, daß Mauer und
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