Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
68. Sitzung vom 24. Mai 1984
Dr. Ferberg
(A) fristige Politik, es zeigte keine Perspektiven, keine Hoff
nungen; es provoziert nicht und setzt auch dementspre
chend keine neuen Ideen frei. Wer keine Visionen hat,
wird gegenüber den Realisten der Haushaltspolitik immer
im Nachteil sein. Berlin kann selbstverständlich keine
großen Alleingänge unternehmen — das sehen wir ein —,
aber wir haben auch nicht zuletzt gefragt nach den Initia-j
tiven im Bildungsbereich, die der Senat im Bundesrat ver
anlassen möchte. Darauf ist keine Antwort erfolgt.
Die Bereitschaft zum Unkonventionellen, die innerhalb
der Berliner Lehrerschaft sicherlich vorhanden ist, würde
dem Senat Chancen bieten, bisher nicht Genutztes zu er
proben, aber alles das, was die CDU bisher vorgeschlagen
hat, ist ein Beitrag zur Überwindung des Lehrerüber
hangs — der übrigens ohnehin untergebracht werden muß,
soweit es sich um Beamte handelt —, aber er weist keine
Wege zu neuen Ufern.
Präsident Rebsch: Herr Dr. Ferberg, gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sauberzweig?
Dr. Ferberg (SPD): Bitte schön!
Dr. Sauberzweig (SPD): Herr Kollege Ferberg, wie,
meinen Sie, ist die Tatsache zu beurteilen, daß die F.D.P.-
Fraktion im Augenblick überhaupt nicht mehr vertreten
ist — ob sie schon den Zustand nach der nächsten Wahl
übt?
[Heiterkeit und Beifall bei der SPD]
Dr. Ferberg (SPD); Genau das wollte ich sagen, Herr
Kollege, Sie nehmen mir mit Ihrer Frage diese Ausfüh
rungen aus dem Mund. Aber da es ohnehin nur der Kol
lege Fabig ist, der von der F.D.P. für diesen Bereich vor
gesehen wird, kann ich manches an seinen Frustrationen
nachempfinden. Das Wechselbad — ich habe vorhin schon
versucht, das anzudeuten —, das er so permanent nach
vollziehen muß bis zum heutigen Tag, ist ja auch kein
leichtes Brot.
[Wachsmuth (AL); Das gilt aber auch für den
Senat, wenn Sie sich das mal ansehen!]
— Ja, aber Sie wissen ja, lieber Herr Kollege: Frau Dr.
Laurien kann sicherlich mit einem gewissen Anspruch
sagen, daß sie der wirkliche Mann im Senat ist — nach
dem Herr von Weizsäcker gegangen ist. —
Wenn ich an meine ersten Jahre parlamentarischer Er
fahrungen zurückdenke: Ende der 60er Jahre hatten wir
das Problem, die 40er-Frequenz an der Berliner Grund
schule zu überwinden. Es gab eine ganze Reihe von
Klassen, in denen wir 40 Schüler präsent hatten. Heute
ist die Zahl 25 unseres Erachtens durchaus realistisch.
Hier hätte ich Herrn Fabig einige Antworten auf seine
Ausführungen zu geben — leider ist er nicht da. Die
Zahl 25 ist, wenn wir sie heute schon haben, durch In
anspruchnahme von Stunden entstanden, die zumindest
keine legale Rechtfertigung besitzen.
[Liepelt (CDU): Da kommt der Kollege
Fabig wieder!]
Aber das Interessante ist, daß die Zahl 25 heute bei den
Lehrern keinesfalls den Grad von Dankbarkeit und En
thusiasmus erweckt, den man eigentlich erwarten müßte
nach 15jährigem mühevollen Abbau von 40er-Frequenzen,
sondern es wird darauf hingewiesen, daß aufgrund der
Änderungen auch des Schülerverhaltens in der Schule —
bedingt durch Fernsehkonsum, Video-Flut und vieles
andere mehr — der Lehrer keinesfalls eine Erleichterung (C)
in seiner konkreten Arbeit findet, gemessen an der Ver
gangenheit. Und daß es deshalb eine notwendige Forde
rung nach Frequenzsenkung ist, um die Schule den rea
len gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Diese
Forderung wird in Verbindung mit der individuellen För
derung nach binnendifferenziertem Unterricht und Tei
lungsstunden erhoben. Während früher der sogenannte
kompensatorische Unterricht — ich denke auch wieder an
die 60er Jahre — in erster Linie für sogenannte Rand
gruppen gedacht war, so kann man diesen Begriff heute
auf weite Teile der Schule übertragen. Die Forderung
nach geringen Klassenfrequenzen ist also kein Rechen
exempel, bedingt durch den Lehrerüberhang, sondern
ganz einfach die Folge von gesellschaftlichen Prozessen
in den vergangenen Jahren. Während früher Verhaltens
auffälligkeiten in der Grundschule erst in den letzten
Grundschuljahren bestimmte pädagogische Maßnahmen
erforderten, können Sie heute feststellen, daß wir bereits
Klagen über extreme Verhaltensweisen in den Vorklassen
finden. Unter diesem Aspekt der besonderen Belastun
gen der Lehrer in unserer Schule ist auch die Forderung
nach Arbeitszeitverkürzung und die Vorverlegung des
Ruhestands zu sehen. Es ist also nicht sosehr die Anpas
sung an die Gegebenheiten von Stellenplänen und Finan
zierung, sondern die Anpassung der Schule an das, was
wir gesellschaftlich vorfinden. Eine solche Sicht würde
die Kultusminister aus der Peinlichkeit befreien, immer
als Bittsteller aufzutreten und etwas für eine Institution
zu fordern, die es eigentlich gar nicht rechtfertigt.
Die Berliner Schule hat in der Vergangenheit Beacht
liches geleistet; Sie ist durch hohe Zuweisungen von
Personal- und Sachmitteln durch das Parlament, das heißt
durch die Volksvertretung, gestützt worden. Jetzt frage
ich mich allerdings: Steht der Grad der Zufriedenheit, den (q)
wir durch diesen hohen Mitteleinsatz erreicht haben, in
entsprechender Relation zu den Bemühungen? — Ich
glaube, mit der Frage der Mittelzuweisungen ist auch die
Frage nach der Effektivität zu stellen; und hier bietet sich
gerade das Beispiel der Vertretungsmittel an, die Pro
blematik aufzuzeigen. Ich bin völlig mit der Senatorin
einer Meinung, daß eine Erhöhung dieser Mittel auf 6, 7
oder 8% inhaltlich wenig bewegen würde. Der Grad der
Unzufriedenheit über ausfallende Stunden würde wahr
scheinlich bleiben. Man würde auch inhaltlich hier etwas
Neues tun, wenn man diese Stunden dann tatsächlich an
die einzelne Schule delegierte und sie zumindestzu einem
Teil darüber entscheiden ließe, was damit zu geschehen
hat.
Wir haben ferner ein sehr gut ausgebautes Sonder
schulwesen für behinderte Kinder. In oer Vergangenheit
hat sich doch gezeigt, daß der Trend der Bemühungen,
behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu er
ziehen, zugenommen hat. Der Eifer derjenigen, die sich
für diese Lösung engagieren, wird dadurch gebremst, daß
sie den Eindruck haben, von der Senatsverwaltung für
Schulwesen und von der Senatorin nicht genügend ge
fördert zu werden.
Der Landeselternausschuß hat vor einiger Zeit in einem
Papier die Aussage getroffen, daß bestimmte Schüler
gruppen in der Grundschule nicht genügend gefördert
werden, weil die Methoden zum binnendifferenzierten
Unterricht von den Lehrern nicht beherrscht und dement
sprechend auch nicht angewandt werden. Hier hätte die
Senatorin durchaus die Möglichkeit, die Motivation, sich
solche Fähigkeiten anzueignen, zu unterstützen; sie hätte
die Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen, zum Beispiel: in
dem sie die Tempelhofer Paul-Klee-Grundschule besucht,
einen Ort, in dem das schon seit längerer Zeit praktiziert
wird. Man hat allerdings in der Schule den Eindruck, daß
sie um diese Bemühungen einen weiten Bogen macht.
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