Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
54. Sitzung vom 7. Dezember 1983
Sen Franke
I (A) zum Mietengefüge im öffentlich geförderten sozialen Woh-
’ nungsbau vorliegen.
Zu 10: Über die sozialpolitisch motivierten umfänglichen
Maßnahmen zur Senkung der für einzelne Bürger nicht trag
baren Mietbelastung habe ich auch im Rahmen dieser Antwort
Aussagen getroffen. Eine abschließende und bis 1990
reichende Aussage über die Einkommens- wie über die Miet
belastungssituation kann derzeit selbstverständlich nicht
gemacht werden. Es wäre daher verfrüht, jetzt schon Maßnah
men für den Zeitraum nach 1988 zu beraten. Die von der
GEWOS im Rahmen der Wohnungsmarktprognose 1982
ermittelten Daten sind inzwischen aktualisierungsbedürftig. Bei
der beabsichtigten Fortschreibung dieser Wohnungsmarktana
lyse wird die Ermittlung der Einkommens- und Mietbelastungs
situation nach spezifischen sozialen Gruppen und Wohnungs
teilmärkten einen besonderen Schwerpunkt bilden.
Sicher ist aber, daß eine Vielzahl von Einzelhilfen nicht aus
reichend und befriedigend, sondern auch strukturelle Verände
rungen erforderlich sind. Hierüber wird im Rahmen der Vor
schläge des Senats zur Änderung des Finanzierungssystems
im öffentlich geförderten Wohnungsbau und des Schlußbe
richts über das Mietengefüge im sozialen Wohnungsbau zu
reden sein.
Ich möchte abschließend bemerken, daß die Initiativen des
Senats auf dem Gebiet der Wohnungspolitik die Fehleinschät
zungen Ihrer, von der SPD zu verantwortenden Wohnungs
politik ausgleichen. Ich möchte nicht, daß wünschenswerte
Regelungen durch Parteienstreit nicht realisiert werden können.
Und bei allen Auseinandersetzungen über dieses Problem
würde ich es begrüßen, wenn es trotzdem zu einer weiteren bis
her guten Zusammenarbeit im Bauausschuß und damit in
dieser Frage auch im Parlament kommen würde. - Schönen
Dank!
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
(B)
Stellv. Präsident Longolius: Erster Redner in der Bespre
chung ist der Abgeordnete Nagel.
Nagel (SPD); Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Von einem Senator, der eines der wichtigsten Res
sorts des Berliner Senats politisch zu verantworten hat, darf
man erwarten, daß er in einer so zentralen Frage wie der künfti
gen Wohnungsbau- und Mietenpolitik in Berlin ein gewisses
Minimum an politischer und sachlicher Kompetenz eindeutig
unter Beweis stellt. Das aber, was Herr Senator Franke soeben
hier vorgetragen hat, läßt weder den Schluß zu, daß sich der
Senat über die wichtigsten wohnungs- und mietenpolitischen
Probleme in Berlin in ihrer Tragweite im klaren ist, noch daß er
auch nur annäherungsweise, wenigstens in Teilbereichen, über
das bislang Bekannte hinaus einigermaßen schlüssige Kon
zepte vorlegt.
[Beifall bei der bei der SPD]
Es ist unbestritten, daß der Senat zwar ansatzweise einige
Probleme richtig beschrieben hat. Über ein hilfloses Achsel
zucken, wie wir es neulich schon im Bauausschuß erleben durf
ten, ist der Senator auch heute nicht in seiner Antwort hinausge
gangen. Lassen Sie mich einmal Ihr beschwichtigendes, ein
wenig schönfärberisches Bild von der Wohnungs- und Mieten
situation in Berlin durch einige Fakten der Berliner Wirklichkeit
illustrieren.
-Erstes Beispiel: Frau L bewohnt in Spandau eine kleine, ihrer
Rente in Höhe von 855 DM angemessene Einzimmerwohnung
einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Frau L war Trüm
merfrau, hat jahrelang bei einem Berliner Großunternehmen
gearbeitet, ist jetzt Rentnerin und zahlte 156 DM Miete. Mitte
November erhält sie aufgrund der Ertragsberechnungsverord
nung eine Mieterhöhungsankündigung, kurze Zeit später den
Bescheid über eine Wohnungsmodernisierungsumlage,
anschließend den Bescheid über die Grundmietenerhöhung.
Die Miete von Frau L erhöht sich von 156 auf 485 DM im
Monat Die Wohnungsbaugesellschaft empfiehlt ihr, Wohngeld (C)
zu beantragen, das ihr schließlich in Höhe von 72 DM gewährt
wird. Unter Einbeziehung des Wohngeldes beträgt ihre künftige
Mietbelastung 55%.
Beispiel zwei: Eine städtische Gesellschaft plant im Rahmen
einer Modernisierung in einer Wohnanlage in Britz, Wärmedäm
mungsmaßnahmen durchzuführen, deren Kosten auf die Mieter
verteilt werden. Daß erforderliche Instandsetzungsmaßnahmen,
die eigentlich zu Lasten des Eigentümers gehen müssen, gleich
mit auf die Miete umgelegt werden, davon wollen wir an dieser
Stelle gar nicht reden. Im Ergebnis wird den Mietern vorgerech
net, daß für eine Einsparung von 450 DM Heizkosten im Jahr
künftig 1 450 DM mehr Miete zu zahlen sind. Auf Beschwerden
der Mieter reagieren Beauftragte dieser Wohnungsbaugesell
schaft mit den Worten, wem die Maßnahme nicht passe, der
könne ja ausziehen, - nebenbei bemerkt, eine Wohnungsbau
gesellschaft, für die der gegenwärtige Bausenator kürzlich
noch Verantwortung trug!
Drittes Beispiel: Nach einem Eigentümerwechsel werden die
Wohnungen eines Charlottenburger Allbaues in Eigentums
wohnungen umgewandelL Da die Mehrheit der Mieter nicht
bereit ist, die Wohnungen zu kaufen, führen in diesem Zusam
menhang durchgeführte Modernisierungsmaßnahmen zu uner
träglichen Zuständen im Haus, in der Folge zu erheblichen Miet
steigerungen. Von den 22 Mietparteien halten schließlich noch
vier Mieter die ständigen Repressalien aus, die übrigen sind
verzogen, zum Teil nach Westdeutschland, zum Teil in Senio
renheime. Zwei Mieter haben ihre Wohnung gekauft.
Viertes Beispiel: Überregionale Tageszeitungen veröffent
lichen unter der Rubrik „Kapitalanlagen und Beteiligungen“
Annoncen, die für Steuerabschreibungen im öffentlich geför
derten sozialen Wohnungsbau in Berlin werben. Als jährliche
Durchschnittsrendite wird für die Zeit von 1987 bis 1996 ein
Betrag von 27,82 % in Aussicht gestellt!
Und letztes Beispiel - und das hat unmittelbar mit der künfti-
gen Mietenpolitik zu tun -: Unter der Überschrift „Berliner
Stadtwohnungen - die schönste Art Steuern zu sparen (und die
sicherste)“ - das steht da darin - wird für Kapitalanlagen in Ber
lin geworben, deren Anzeigenformulierungen der Öffentlichkeit
hier nicht vorenthalten werden sollen:
Die Wohnungen liegen in ausgesuchten Lagen der City.
Da Berlin wegen der Wohnungsnot als letzte deutsche
Stadt noch die Mietpreisbindung hat, sind die Mieten trotz
dem billig und damit der Einstandspreis. 1990 soll die
Mietpreisbindung fallen, dann ist mit Preisschüben zu
rechnen.
Diese Beispiele sind die wohnungs- und mietenpolitische
Wirklichkeit 1983!
[Beifall bei der SPD]
Daß nach wie vor Wohnungs- und Mietenprobleme zu einem
der Schwerpunkte des Petitionsausschusses des Abgeord
netenhauses gehören, daß die Mietersprechstunden bei den
Bezirksverwaltungen ständig überbucht sind, daß der Zulauf zu
den Berliner Mietervereinigungen anhält, all dies zeigt doch,
welchen zentralen Punkt die Mietenpolitik im Bewußtsein der
Bürger unserer Stadt einnimmt. Ihre Wohnungs- und Mieten
politik, die Wohnungs- und Mietenpolitik dieser Koalition geht
ganz offensichtlich davon aus, daß mehr marktwirtschaftliche
Elemente in der Lage seien,
[Beifall des Abg. Dr. Dittberner (F.D.P.)]
die anstehenden Probleme zu lösen. Wir halten diese Politik für
grundsätzlich falsch konzipiert, denn es bestehen erhebliche
Zweifel,
[Swinne (F.D.P.): Wo denn?]
ob unter den politischen und geopolitischen Bedingungen
West-Berlins überhaupt jemals, wenn sie denn unverändert
bleiben, die Wohnungsbau- und Mietenpolitik dem Markt über
lassen werden darf. Denn warum wollen Sie ausgerechnet
diesen Teil der Berliner Wirtschaftspolitik stärker dem freien
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