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Volume Nr. 60, 9. Februar 1984

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1983/84, 9. Wahlperiode, Band IV, 54.-70. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
60. Sitzung vom 9. Februar 1984 
Stellv. Präsident Longolius 
(A) möchte ich darauf hinweisen, daß auch hier die Redezeit nicht 
klar geregelt ist und daß deswegen ein Vorschlag herbeizufüh 
ren war. Es ist in diesem Falle vorgeschlagen, daß jeder Fraktion 
30 Minuten Redezeit zur Verfügung stehen. Ich höre keinen Wi 
derspruch, dann ist das so beschlossen. Das Wort hat die Kol 
legin Zieger. 
Frau Zieger (AL); Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 
Man kann sicherlich sehr viel Negatives zu und sehr viel Kritik 
an diesem neuen Senat und an diesem neuen Regierenden 
Bürgermeister äußern; aber das Schlimmste, was dieser Regie 
rende Bürgermeister dieser Stadt wieder antut, ist, daß er den 
Innensenator Lummer erneut aufstellt. 
[Beifall bei der AL] 
Mit Heinrich Lummer steht ein Mann zur Wiederwahl in das 
Amt des Innensenators an, der in dieser Stadt und weit über die 
Grenzen dieser Stadt hinaus zur negativen Symbolfigur gewor 
den ist für eine repressive Politik. Angetreten mit dem An 
spruch, mit allen Mitteln Ruhe und Ordnung zu schaffen, ist er 
es gewesen, der seit Beginn seiner Amtszeit eine nachhaltige 
Vergiftung des politischen Klimas in dieser Stadt zu verantwor 
ten hat. Sei es das polizeistaatliche Vorgehen gegen die Haus 
besetzerbewegung, sei es seine menschenverachtende Aus 
länderpolitik, sei es sein rigoroses Ausrichten des Polizeiappa 
rates auf seine „Hau-drauf-Linie“: Lummers Eingreifen garan 
tiert immer eine gründliche Störung des sozialen Friedens in 
dieser Stadt. 
[Beifall bei der AL] 
Zuletzt war es der schreckliche Tod von sechs Ausländern in 
der Abschiebehaftanstalt Augustaplatz gewesen, der ein schril 
les und grelles Licht auf die menschenverachtende Asyl- und 
Ausländerpolitik in dieser Stadt geworfen hat. Jahrelange Pro 
teste gegen die Behandlung von Abschiebehäftlingen und Asyl- 
(B) bewerbern haben bei Lummer lediglich ein kaltschnäuziges 
Achselzucken hervorgerufen. An der faktischen Ausfüllung des 
Asylrechts wurde indessen nichts geändert. 
Nach den Berichten der letzten Tage über neue Selbstmord 
versuche und Verzweiflungstaten ist zu befürchten, daß nach 
der Wiederwahl von Lummer sich die Ereignisse in der Sil 
vesternacht wiederholen können. Lummer hat nicht erkennen 
lassen, daß er irgend etwas, auch nur irgend etwas an seiner 
bisherigen Abschiebepraxis ändern wird. An die von seiner Poli 
tik ausgehenden Gefahren für das Leben von Abschiebehäftlin 
gen sollen besonders diejenigen Liberalen in der F.D.P. denken 
oder - besser - diejenigen F.D.P.-Leute, die meinen, daß 
Lummer offenbar noch einen Fehler gut habe. Das könnte noch 
einmal passieren. Was ist das für ein Verständnis von liberaler 
Politik, das einen Mann stützt, der als sogenannter Verfassungs 
minister Grundrechte von Ausländern nach Belieben „hin und 
her“ betrachten möchte, einen Mann, der mit schnoddrigen 
Bemerkungen wie: „Das fängt beim Geruch an und hört bei der 
Straße auf“ der in der Bevölkerung vorhandenen Ausländer 
feindlichkeit immer neue Nahrung gibt, einen Mann, der nicht 
müde wird, mit Hilfe von Kriminalstatistiken unterschwellig 
Angst vor Ausländern zu schüren. 
[Beifall bei der AL] 
Von welcher geistigen Grundhaltung Lummers Politik 
geprägt ist, das offenbart auch sein Auftreten gegenüber poli 
tischen Protestbewegungen in dieser Stadt. Obwohl niemand 
bestreiten kann, daß die Hausbesetzerbewegung beispiels 
weise eine Reaktion auf den Wohnungsleerstand und die 
Bodenspekulation war, geht es Lummer nicht um politische 
Lösungen derartiger Probleme. Er war es, der mit allen Mitteln 
friedliche Regelungen der einzelnen besetzten Häuser verhin 
dert hat. Er war es, der sich widersetzte, daß Verträge abge 
schlossen wurden. Es war es auch, der zum Beispiel in den 
Fällen Maaßenstraße in Schöneberg sowie Heimstraße in 
Kreuzberg unterschriftsreife Verträge durch überraschende 
Räumungen unterlief. Um diese Politik propagandistisch zu be 
gleiten, betrieb Lummer eine breite Hetzkampagne gegen Haus 
besetzer und Kriminelle, die in der Theorie der „westdeutschen 
Chaoten“ gipfelte. 
[Beifall bei der AL - Glocke des Präsidenten] 
Stellv. Präsident Longolius: Frau Zieger, Moment, ich muß 
Sie einmal unterbrechen. Ich bitte die Fotografen, wieder geord 
nete Verhältnisse eintreten zu lassen. Schönen Dank! 
Frau Zieger (AL): Derartige Äußerungen sollten allein Vor 
urteile und Haßgefühle in der Bevölkerung wecken, um sie 
gegen den berechtigten Protest zu mobilisieren. Mit der Theorie 
der „kriminellen Fluchtburgen“ entwickelte Lummer ein weiteres 
Propagandamittel, um damit das gesunde Volksempfinden 
gegen bestimmte Kreise zum Brodeln zu bringen. Auf der Welle 
der von ihm mobilisierten Gefühle konnte Lummer es sich 
leisten, zu solchen Feldzügen wie am 22. September 1981 an 
zutreten, als er acht besetzte Häuser räumen ließ und einen 
großen Auftritt als Feldherr im geräumten Haus Bülowstraße 89 
hatte. Höhepunkt dieses provokatorischen Spektakels war es, 
daß ihm zu Ehren vor dem Haus eine Räumung inszeniert 
wurde, bei der flüchtende Demonstranten auf die Straße getrie 
ben wurden und bei der Klaus-Jürgen Rattay in den Tod getrie 
ben wurde. 
Sein gebrochenes Verhältnis zum demokratischen Protest in 
der Bevölkerung zeigte auch sein forsches Eindreschen auf die 
Bewegung gegen die Volkszählung im März 1983. Wer etwas 
gegen die Volkszählung sage, der sei lediglich an der Demon 
tage der staatlichen Handlungsfähigkeit interessiert. Das ließ er 
lauthals verkünden und beehrte Aufrufe zum Boykott mit Buß 
geldbescheiden. Peinlich ist an dieser Sache nur, daß ihn der 
Spruch des Bundesverfassungsgerichts als Propagandisten 
einer verfassungswidrigen Regel im Regen stehen ließ. 
Daß Lummers Politik an die Substanz der demokratischen 
Freiheiten geht, läßt sich schließlich auch an dem Verhalten 
gegenüber seinen eigenen Angestellten, gegenüber seinen 
eigenen Untergebenen in der Polizei und der Verwaltung ab 
lesen. Polizeibeamte, die sich mehr oder weniger öffentlich 
unter Wahrnehmung ihres Rechtes auf freie Meinungsäuße 
rung positiv zu den Zielsetzungen der Hausbesetzer geäußert 
hatten, wurden - ganz gleich, ob in hohem oder niedrigem Rang 
befindlich - aus der Polizei herausgesäubert. Gleichzeitig konn 
ten sich bei der Polizei rechtsradikale und antisemitische Ten 
denzen breitmachen. Rechte Gesinnung, Duckmäusertum und 
Korpsgeist verhinderten, daß die Quälereien eines jüdischen 
Polizeischülers rechtzeitig unterbunden werden konnten. 
Auch für die gesinnungsmäßige Ausrichtung seines Nach 
wuchses in der Verwaltungsfachhochschule setzte sich Lum 
mer mit Vehemenz ein. Die Leistungsbereitschaft und die Ein 
satzfreude der Beamten solle nicht durch Diskussionen über 
gesellschaftliche Zusammenhänge und abweichende poli 
tische Meinungen beeinträchtigt werden. Um in diesem Sinne 
seine Beamten zu willfährigen Werkzeugen einer totalen Über 
wachung zu machen, legte sich Lummer sogar mit dem Rektor 
der Verwaltungsfachhochschule, Dehnhardt, an und stiftete zur 
Abwechslung auch einmal in den eigenen Reihen Unfrieden. 
Alle diese Vorkommnisse, die nur einen kleinen Teil dessen 
ausmachen, was Lummer in dieser Stadt bereits angerichtet 
hat, haben ihn immer wieder ins kritische Licht der Öffentlich 
keit gebracht Straf- und Verwaltungsgerichte sehen sich immer 
häufiger genötigt, das Vorgehen der Polizei für rechtswidrig zu 
erklären. Seien es brutale Knüppeleinsätze oder andere rechts 
widrige Maßnahmen der Polizei, hierfür trägt allein der Innen 
senator Lummer die politische Verantwortung. 
[Beifall bei der AL] 
Drei Mißtrauensanträge hat dieser Innensenator bisher über 
lebt, weil er sich immer sicher sein konnte, daß ihm seine Frak 
tion treuen Gehorsam zeigen würde. Immer konnte sich 
Lummer der Gefolgschaft seiner Fraktion sicher sein. 
Ich habe beim Mißtrauensantrag gegen Herrn Lummer in 
einer persönlichen Erklärung gesagt, daß ich es als unerträg- 
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