Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
55. Sitzung vom 8. Dezember 1983
Kunzeimann
(A) Terroristen, ihre Strafe abgesessen haben oder in den nor
malen Vollzug zumindest vorläufig in der Unterschungshaftan-
stalt Moabit - wie Ralf Reinders und Ronald Fritsch - gebracht
worden sind, daß dieser Hochsicherheitstrakt leersteht. Damals
ist dem Abgeordnetenhaus erzählt worden, daß dieser Trakt
ausschließlich für sogenannte Terroristen gebaut würde, und
heute wird er dazu benutzt, ihn mit anderen Gefangenen zu
belegen. Von einem Tag auf den anderen werden Unsummen
für so einen Trakt ausgegeben, und dann in dem Moment, wo er
nicht mehr nötig ist, wird er einfach umgewidmet und andere
Gefangene kommen hinein. Das widerspricht eklatant dem
Strafvollzugsgesetz.
[Krüger (CDU): Das stimmt doch nicht!]
- Natürlich stimmt es, Herr Krüger.
Die entscheidende Kritik am Etat des Justizsenators bezieht
sich seitens meiner Fraktion auf den enormen Ausbau der Haft
platzkapazitäten im Zusammenhang mit dem gesamten Neu
bauprogramm. Bis 1990 sollen 1 000 neue Haftplätze geschaf
fen werden und damit Kriminalpolitik durch das Angebot von
neuen Haftplätzen auf Hochsicherheitsniveau festgeschrieben
werden. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die
im Bau befindlichen Anstalten am Strafvollzugsgesetz weit
räumig Vorbeigehen.
[Krüger (CDU): Auch das stimmt nicht!]
- Oh, hören Sie zu, Herr Krüger! - Für nach Inkrafttreten des
Strafvollzugsgesetzes errichtete Anstalten schreibt § 201 Straf
vollzugsgesetz vor, daß der offene Vollzug der Regelvollzug ist.
Die Übergangsregelung bis 1986 gilt nur für alte Anstalten.
Dieser Senat - und das betrifft immer auch den SPD-Senat vor
1981, aber auch den jetzigen Senat - hat ein Neubaupro
gramm in die Wege geleitet, das den Steuerzahler insgesamt
über 200 Mio DM kosten wird. Das Strafvoilzugsgesetz schreibt
vor, daß ab 1986 der offene Vollzug der Regelvollzug ist Man
bricht praktisch die Gesetze, die man selbst mit Mehrheit in
(B) Bonn 1976/1977 verabschiedet hat. Am 1.Januar 1977 ist
dieses Gesetz in Kraft getreten, 1976 ist es verabschiedet wor
den. Oder täusche ich mich, Herr von Stahl, Sie wissen ja dies
auch alles?
Trotz dieses Strafvollzugsgesetzes, das am 1. Januar 1977 in
Kraft getreten ist, wird in Berlin eine Politik mit Neubaukonzep
ten betrieben, die diesem Vollzugsgesetz vollkommen zuwider
ist.
[Beifall bei der AL]
Es geht ja nicht nur um dieses Neubauprogramm, es geht
auch darum, daß keinerlei Vollzugspläne für die Gefangenen in
den Anstalten errichtet werden. Auch dies widerspricht dem
Strafvollzugsgesetz.
[Krüger (CDU): Auch das stimmt nicht!]
- Aber natürlich, Herr Krüger! Dann sagen Sie doch einmal
etwas. Ihre Fraktion hat doch hier überhaupt noch nichts ge
sagt. Gehen Sie doch einmal hier hoch und sagen etwas zu
dieser schwachsinnigen Strafvollzugspolitik Ihres Justizsena
tors. Sagen Sie doch etwas, Sie wissen es doch! Sie waren
doch selbst mit der Enquete-Kommission in den Gefängnissen
drinnen. Sie haben doch selbst einen sinnlichen Eindruck be
kommen, was dort eigentlich vor sich geht Gehen Sie doch hier
hoch, oder hat Ihnen Herr Diepgen oder Herr Landowsky das
verboten. Sagen Sie doch etwas zum Etat des Justizsenators
und machen Sie nicht laufend hier Zwischenrufe. Ich bin eh
etwas durcheinander.
[Buwitt (CDU); Sie machen doch die meisten
Zwischenrufe! - Heiterkeit bei der CDU,
teilweise bei der SPD und der F.D.P.]
Sie können doch auch einmal Rücksicht nehmen. Ihr Ex-Regie-
render redet doch hier immer von Menschlichkeit. Dumme
Sprüche hier zu klopfen und nichts zu den Problemen zu sagen!
Stellv. Präsidentin Wiechatzek: So, Herr Kunzeimann,
nun beruhigen Sie sich einmal wieder. Es hören Ihnen auch alle
aufmerksam zu!
Kunzeimann (AL); Ich habe 15 Minuten. (C)
[Mertsch (SPD): Das ist ja unerträglich! -
Weitere Zurufe aus der SPD]
Ja, wir wollen ja auch noch zu anderen Etats etwas sagen. Wir
machen es uns doch nicht so einfach wie Sie, Herr Pätzold, hier
zum Etat des Innensenats zwei Sätze zu sagen. Das ist doch
unglaublich.
[Mertsch (SPD): Das ist unglaublich, ich bin entsetzt!]
- Mit Ihnen rede ich eh nicht, Herr Mertsch. Das schreiben Sie
sich hinter die Ohren. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihre Antwort,
als ich eine Zwischenfrage stellen wollte, vergessen habe.
Glauben Sie das ja nicht! Ich habe sie erst gestern im Protokoll
wieder nachgelesen.
[Staffelt (SPD); Denke doch an deinen Blutdruck! -
Wachsmuth (AL); Laß dich nicht aufhalten, Dieter! -
Heiterkeit]
Es werden nicht nur von der Justizverwaltung keine Vollzugs
pläne für die einzelnen Gefangenen erstellt, sie und hier insbe
sondere die Abteilung I unternimmt auch nicht das geringste
- und das hat nichts mit Weisungsbefugnissen oder sonst der
gleichen zu tun, sondern auch etwas mit dem Herstellen eines
Klimas in der Öffentlichkeit -, um den Strafvollstreckungskam
mern in dieser Stadt zu sagen, daß sie etwas mehr Zwei-Drittel-
Gesuche akzeptieren sollten. In der gesamten Bundesrepublik
gibt es kein Land, in dem die Strafvollstreckungskammern der
artig oberflächlich mit diesen Gesuchen von Gefangenen um
gehen. Sie sollten sich in Ruhe noch einmal den Artikel im
„Tagesspiegel“ von gestern anschauen: „Berlin hat die meisten
und teuersten Strafgefangenen.“ Aufgrund einer Untersuchung
eines Freiburger Professors vom Max-Planck-Institut, den wir in
der Enquete-Kommission Strafvollzug angehört haben, Herrn
Professors Dünkel, der exzellente Statistiken entwickelt hat,
schneidet Berlin bezüglich der Gefangenen pro 100000 Ein-
wohner und bezüglich der Entlassungen und der Zwei-Drittel-
Gesuche am schlechtesten von allen westdeutschen Ländern
ab. Berlin steht ganz unten, und das ist erschreckend. Hierfür ist
der Justizsenator und seine Verwaltung verantwortlich.
[Beifall bei der AL]
Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, weil es nicht nur
um eine systemimmanente Kritik an der Politik des Justizsena
tors geht. Es geht nicht auschließlich darum, daß der Bau
ganzer Knaststädte wie in Tegel und in Plötzensee ein Mahnmal
verfehlter Kriminalpolitik ist. Darum geht es nicht allein. Es geht
auch darum, daß diese Baupolitik eine Kriminalpolitik auf Jahr
zehnte hinaus festschreibt, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die
Einsperrungsquote in der BRD im Vergleich zu Westeuropa am
höchsten ist, in der Bundesrepublik und Berlin an einsamer
Spitze steht und sich im Verlauf der letzten zehn Jahre die Quo
te um 25% erhöht hat. Die Rückfallquoten liegen bei 50%. Man
baut hier Knäste, und es ist überhaupt noch nicht bewiesen, in
wieweit diese Gefängnisse nur den geringsten Beitrag für ein
Mindern der Kriminalität in unserer Gesellschaft leisten. Für
meine Fraktion geht es auch darum, die gesamte Kriminalitäts
politik, wie hier im Strafvollzug Straftäter behandelt werden, in
Frage zu stellen. Denn bei den Verhältnissen im Gefängnis wird
erst das produziert, was angeblich durch die Bekämpfung ver
hindert werden soll. Das habe ich schon kurz beim Etat des
Innensenators angeschnitten.
Es werden heute vielfach in anderen Ländern, nicht nur in
Skandinavien - Sie sollten sich mal damit beschäftigen, das
sind doch Ihre intimsten Freunde -, sondern auch in den USA
Alternativen zum herkömmlichen System des Strafvollzugs
nicht nur intensiv diskutiert, sondern auch praktiziert. Es gibt in
Amerika einzelne Bundesstaaten, wo der Jugendstrafvollzug
vollkommen abgeschafft worden ist
[Beifall des Abg. Sehr (AL)]
Unsere Justizverwaltung baut dagegen neue Knäste für den
Jugendstrafvollzug. Es gab in Bonn eine Enquete-Kommission
zum Jugendstrafvollzug, die auch schon eine Zielrichtung ange-
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