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Volume Nr. 55, 8. Dezember 1983

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1983/84, 9. Wahlperiode, Band IV, 54.-70. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
55. Sitzung vom 8. Dezember 1983 
Kunzeimann 
(A) Terroristen, ihre Strafe abgesessen haben oder in den nor 
malen Vollzug zumindest vorläufig in der Unterschungshaftan- 
stalt Moabit - wie Ralf Reinders und Ronald Fritsch - gebracht 
worden sind, daß dieser Hochsicherheitstrakt leersteht. Damals 
ist dem Abgeordnetenhaus erzählt worden, daß dieser Trakt 
ausschließlich für sogenannte Terroristen gebaut würde, und 
heute wird er dazu benutzt, ihn mit anderen Gefangenen zu 
belegen. Von einem Tag auf den anderen werden Unsummen 
für so einen Trakt ausgegeben, und dann in dem Moment, wo er 
nicht mehr nötig ist, wird er einfach umgewidmet und andere 
Gefangene kommen hinein. Das widerspricht eklatant dem 
Strafvollzugsgesetz. 
[Krüger (CDU): Das stimmt doch nicht!] 
- Natürlich stimmt es, Herr Krüger. 
Die entscheidende Kritik am Etat des Justizsenators bezieht 
sich seitens meiner Fraktion auf den enormen Ausbau der Haft 
platzkapazitäten im Zusammenhang mit dem gesamten Neu 
bauprogramm. Bis 1990 sollen 1 000 neue Haftplätze geschaf 
fen werden und damit Kriminalpolitik durch das Angebot von 
neuen Haftplätzen auf Hochsicherheitsniveau festgeschrieben 
werden. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die 
im Bau befindlichen Anstalten am Strafvollzugsgesetz weit 
räumig Vorbeigehen. 
[Krüger (CDU): Auch das stimmt nicht!] 
- Oh, hören Sie zu, Herr Krüger! - Für nach Inkrafttreten des 
Strafvollzugsgesetzes errichtete Anstalten schreibt § 201 Straf 
vollzugsgesetz vor, daß der offene Vollzug der Regelvollzug ist. 
Die Übergangsregelung bis 1986 gilt nur für alte Anstalten. 
Dieser Senat - und das betrifft immer auch den SPD-Senat vor 
1981, aber auch den jetzigen Senat - hat ein Neubaupro 
gramm in die Wege geleitet, das den Steuerzahler insgesamt 
über 200 Mio DM kosten wird. Das Strafvoilzugsgesetz schreibt 
vor, daß ab 1986 der offene Vollzug der Regelvollzug ist Man 
bricht praktisch die Gesetze, die man selbst mit Mehrheit in 
(B) Bonn 1976/1977 verabschiedet hat. Am 1.Januar 1977 ist 
dieses Gesetz in Kraft getreten, 1976 ist es verabschiedet wor 
den. Oder täusche ich mich, Herr von Stahl, Sie wissen ja dies 
auch alles? 
Trotz dieses Strafvollzugsgesetzes, das am 1. Januar 1977 in 
Kraft getreten ist, wird in Berlin eine Politik mit Neubaukonzep 
ten betrieben, die diesem Vollzugsgesetz vollkommen zuwider 
ist. 
[Beifall bei der AL] 
Es geht ja nicht nur um dieses Neubauprogramm, es geht 
auch darum, daß keinerlei Vollzugspläne für die Gefangenen in 
den Anstalten errichtet werden. Auch dies widerspricht dem 
Strafvollzugsgesetz. 
[Krüger (CDU): Auch das stimmt nicht!] 
- Aber natürlich, Herr Krüger! Dann sagen Sie doch einmal 
etwas. Ihre Fraktion hat doch hier überhaupt noch nichts ge 
sagt. Gehen Sie doch einmal hier hoch und sagen etwas zu 
dieser schwachsinnigen Strafvollzugspolitik Ihres Justizsena 
tors. Sagen Sie doch etwas, Sie wissen es doch! Sie waren 
doch selbst mit der Enquete-Kommission in den Gefängnissen 
drinnen. Sie haben doch selbst einen sinnlichen Eindruck be 
kommen, was dort eigentlich vor sich geht Gehen Sie doch hier 
hoch, oder hat Ihnen Herr Diepgen oder Herr Landowsky das 
verboten. Sagen Sie doch etwas zum Etat des Justizsenators 
und machen Sie nicht laufend hier Zwischenrufe. Ich bin eh 
etwas durcheinander. 
[Buwitt (CDU); Sie machen doch die meisten 
Zwischenrufe! - Heiterkeit bei der CDU, 
teilweise bei der SPD und der F.D.P.] 
Sie können doch auch einmal Rücksicht nehmen. Ihr Ex-Regie- 
render redet doch hier immer von Menschlichkeit. Dumme 
Sprüche hier zu klopfen und nichts zu den Problemen zu sagen! 
Stellv. Präsidentin Wiechatzek: So, Herr Kunzeimann, 
nun beruhigen Sie sich einmal wieder. Es hören Ihnen auch alle 
aufmerksam zu! 
Kunzeimann (AL); Ich habe 15 Minuten. (C) 
[Mertsch (SPD): Das ist ja unerträglich! - 
Weitere Zurufe aus der SPD] 
Ja, wir wollen ja auch noch zu anderen Etats etwas sagen. Wir 
machen es uns doch nicht so einfach wie Sie, Herr Pätzold, hier 
zum Etat des Innensenats zwei Sätze zu sagen. Das ist doch 
unglaublich. 
[Mertsch (SPD): Das ist unglaublich, ich bin entsetzt!] 
- Mit Ihnen rede ich eh nicht, Herr Mertsch. Das schreiben Sie 
sich hinter die Ohren. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihre Antwort, 
als ich eine Zwischenfrage stellen wollte, vergessen habe. 
Glauben Sie das ja nicht! Ich habe sie erst gestern im Protokoll 
wieder nachgelesen. 
[Staffelt (SPD); Denke doch an deinen Blutdruck! - 
Wachsmuth (AL); Laß dich nicht aufhalten, Dieter! - 
Heiterkeit] 
Es werden nicht nur von der Justizverwaltung keine Vollzugs 
pläne für die einzelnen Gefangenen erstellt, sie und hier insbe 
sondere die Abteilung I unternimmt auch nicht das geringste 
- und das hat nichts mit Weisungsbefugnissen oder sonst der 
gleichen zu tun, sondern auch etwas mit dem Herstellen eines 
Klimas in der Öffentlichkeit -, um den Strafvollstreckungskam 
mern in dieser Stadt zu sagen, daß sie etwas mehr Zwei-Drittel- 
Gesuche akzeptieren sollten. In der gesamten Bundesrepublik 
gibt es kein Land, in dem die Strafvollstreckungskammern der 
artig oberflächlich mit diesen Gesuchen von Gefangenen um 
gehen. Sie sollten sich in Ruhe noch einmal den Artikel im 
„Tagesspiegel“ von gestern anschauen: „Berlin hat die meisten 
und teuersten Strafgefangenen.“ Aufgrund einer Untersuchung 
eines Freiburger Professors vom Max-Planck-Institut, den wir in 
der Enquete-Kommission Strafvollzug angehört haben, Herrn 
Professors Dünkel, der exzellente Statistiken entwickelt hat, 
schneidet Berlin bezüglich der Gefangenen pro 100000 Ein- 
wohner und bezüglich der Entlassungen und der Zwei-Drittel- 
Gesuche am schlechtesten von allen westdeutschen Ländern 
ab. Berlin steht ganz unten, und das ist erschreckend. Hierfür ist 
der Justizsenator und seine Verwaltung verantwortlich. 
[Beifall bei der AL] 
Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, weil es nicht nur 
um eine systemimmanente Kritik an der Politik des Justizsena 
tors geht. Es geht nicht auschließlich darum, daß der Bau 
ganzer Knaststädte wie in Tegel und in Plötzensee ein Mahnmal 
verfehlter Kriminalpolitik ist. Darum geht es nicht allein. Es geht 
auch darum, daß diese Baupolitik eine Kriminalpolitik auf Jahr 
zehnte hinaus festschreibt, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die 
Einsperrungsquote in der BRD im Vergleich zu Westeuropa am 
höchsten ist, in der Bundesrepublik und Berlin an einsamer 
Spitze steht und sich im Verlauf der letzten zehn Jahre die Quo 
te um 25% erhöht hat. Die Rückfallquoten liegen bei 50%. Man 
baut hier Knäste, und es ist überhaupt noch nicht bewiesen, in 
wieweit diese Gefängnisse nur den geringsten Beitrag für ein 
Mindern der Kriminalität in unserer Gesellschaft leisten. Für 
meine Fraktion geht es auch darum, die gesamte Kriminalitäts 
politik, wie hier im Strafvollzug Straftäter behandelt werden, in 
Frage zu stellen. Denn bei den Verhältnissen im Gefängnis wird 
erst das produziert, was angeblich durch die Bekämpfung ver 
hindert werden soll. Das habe ich schon kurz beim Etat des 
Innensenators angeschnitten. 
Es werden heute vielfach in anderen Ländern, nicht nur in 
Skandinavien - Sie sollten sich mal damit beschäftigen, das 
sind doch Ihre intimsten Freunde -, sondern auch in den USA 
Alternativen zum herkömmlichen System des Strafvollzugs 
nicht nur intensiv diskutiert, sondern auch praktiziert. Es gibt in 
Amerika einzelne Bundesstaaten, wo der Jugendstrafvollzug 
vollkommen abgeschafft worden ist 
[Beifall des Abg. Sehr (AL)] 
Unsere Justizverwaltung baut dagegen neue Knäste für den 
Jugendstrafvollzug. Es gab in Bonn eine Enquete-Kommission 
zum Jugendstrafvollzug, die auch schon eine Zielrichtung ange- 
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