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Volume Nr. 50, 20. Oktober 1983

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1982/83, 9. Wahlperiode, Band III, 33.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
50. Sitzung vom 20. Oktober 1983 
Dr. Gerl 
(A) allgemeine Zusicherung der Spezialität“, also der Verfol 
gung nur wegen des zum Vorwurf gemachten Delikts, „al 
lein nicht, um derzeit im Auslieferungsverkehr mit der 
Türkei die Gefahr politischer Verfolgung hinreichend aus 
zuschließen. Es bedarf daher zusätzlich einer Prüfung der 
Umstände des Einzelfalles.“ Eine solche Prüfung, wie das 
Bundesverfassungsgericht sie für verfassungsrechtlich 
geboten erklärt hat, ist im Falle Altun niemals vorge 
nommen worden. 
Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht hätte 
aufgrund dieser Entscheidung die rechtliche Pflicht ge 
habt, eine neue Entscheidung des Kammergerichts zu 
beantragen, um diese notwendige Prüfung nachholen zu 
lassen. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, eine Ent 
scheidung des Bundesgerichtshofes herbeizuführen. Auch 
dieses ist nicht geschehen, und so hat sich die Staatsan 
waltschaft schwerer Versäumnisse schuldig gemacht. 
Und noch aus einem weiteren Grund hätte die Staats 
anwaltschaft die Verpflichtung gehabt, die Überprüfung 
der Entscheidung des Kammergerichts herbeizuführen. 
Am 1. Juli dieses Jahres ist nämlich das Internationale 
Rechtshilfegesetz in Kraft getreten, das an die Zulässig 
keitsentscheidung des jeweiligen Oberlandesgerichts 
erhöhte Anforderungen stellt. Danach ist nämlich die 
Auslieferung nur zulässig, wenn der ersuchende Staat 
die Tatsachen darlegt, aus denen sich der hinreichende 
Tatverdacht ergibt. Diese Tatsachen müssen dann von 
dem jeweiligen Oberlandesgericht nachgeprüft werden. 
Gerade diese Prüfung hatte das Kammergericht für un 
nötig erklärt und nicht vorgenommen. Hier hätte also sei 
tens der Staatsanwaltschaft die Notwendigkeit bestan 
den, die Überprüfung der Kammergerichtsentscheidung 
zu beantragen, damit diese notwendige Prüfung des 
Schuldverdachts nachgeholt würde. Es ist unbegreiflich, 
daß die Staatsanwaltschaft dieser Verpflichtung nicht 
nachgekommen ist. 
Meine Damen und Herren! Ferner war auch der Grund 
satz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der selbst in 
der letzten Entscheidung des Kammergerichts über die 
Haftfortdauer nicht einmal angesprochen worden ist. 
Und schließlich: Anfang August dieses Jahres wurde den 
deutschen Behörden das Urteil bekannt, das in der Türkei 
wegen des Anschlages auf den Zollminister bereits im 
April ergangen war. Und dieses Urteil ist allerdings ent 
larvend. Das, wofür das Kammergericht keine Anhalts 
punkte gesehen hatte, nämlich eine Verfolgung wegen 
politischer Delikte, findet sich in dieser Entscheidung 
eindeutig bestätigt. Die Täter wurden ausschließlich we 
gen politischer Staatsschutzdelikte verurteilt, was bedeu 
tet, daß wegen einer Beteiligung, auch in Form der Straf 
vereitelung, an einer solchen Tat eine Auslieferung zwin 
gend ausgeschlossen ist, sowohl nach deutschem Auslie 
ferungsrecht als auch nach dem Europäischen Ausliefe 
rungsübereinkommen. Und die Strafvereitelungshandlung, 
die in dem Auslieferungsersuchen Kemal Altuns vorgewor 
fen worden war, wurde in diesem türkischen Urteil einem 
anderen Täter angelastet, also gerade nicht Kemal Altun 
zugerechnet. Hier spätestens war das Fehlen jeder Recht 
fertigung für das Auslieferungsverfahren offenbar, und 
hier spätestens hätte die sofortige Aufhebung des Haft 
befehls und die Freilassung Kemal Altuns erfolgen müs 
sen. 
Der Senator für Justiz steht hier nicht nur als politisch 
Verantwortlicher, sondern auch persönlich in der Pflicht. 
Er ist nicht nur von den verschiedenen Menschenrechts 
organisationen auf diesen Fall angesprochen worden, 
sondern er ist auch vom Petitionsausschuß dieses Hauses 
eindringlich darum gebeten worden, die Staatsanwalt 
schaft anzuweisen, durch einen entsprechenden Antrag 
eine Revision der Entscheidung des Kammergerichts her 
beizuführen. Noch am 13.7.83 schreibt Senator Oxfort (C) 
dem Petitionsausschuß, er sehe keine Veranlassung, an 
die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht heranzu 
treten. Er vermöge nicht zu erkennen, welche Rechtsfrage 
zur Zeit einer Klärung durch den Bundesgerichtshof be 
dürfen könnte. Im übrigen sei ja die Asylanerkennung des 
Kemal Altun vom Bundesbeauftragten für Asylangelegen 
heiten angefochten worden. Mit dieser Weigerung, tätig 
zu werden, ist aus der Pflichtverletzung der Staatsan 
waltschaft eine Pflichtverletzung des Senators Oxfort 
persönlich geworden. 
[Beifall bei der SPD und der AL] 
Mit dieser Weigerung haben Sie, Herr Senator Oxfort, 
vor allem menschlich, politisch und moralisch versagt. 
Hätten Sie sich nicht auf diese formale bürokratische 
Position zurückgezogen, sondern der Empfehlung des 
Petitionsausschusses entsprochen, könnte dieser junge 
Mensch Kemal Altun heute vielleicht noch am Leben sein. 
Und wenn Sie, Herr Senator, nur wenige Stunden nach 
seinem Tod öffentlich die Erklärung abgegeben haben, 
Altun sei auf Betreiben des Vorsitzenden der 19. Kammer 
des Verwaltungsgerichts gegen die Sicherheitsbedenken 
des zuständigen Strafsenats in das Gebäude des Ver 
waltungsgerichts ausgeführt worden, so haben Sie es fer 
tiggebracht, ausgerechnet das Verwaltungsgericht, die 
einzige Instanz, die sich im Falle Altun absolut korrekt 
verhalten hat, mit dieser Halbwahrheit öffentlich ins Zwie 
licht zu bringen. 
[Beifall bei der SPD und der AL — 
Unmutsäußerungen] 
Dies war ein gezielter Versuch, die Öffentlichkeit irrezu- (D) 
leiten und von der eigenen Verantwortung und der des 
Kammergerichts abzulenken, was die moralische Ver 
werflichkeit Ihres Verhaltens in diesem Fall nur noch ver 
stärkt hat. 
Meine Damen und Herren! Der Tod Kemal Altuns hat 
verschiedenseitiges Fehlverhalten gegenüber diesem jun 
gen Menschen drastisch deutlich werden lassen, und 
viele, die sich für ihn eingesetzt haben, werden sich heute 
fragen, ob sie nicht früher und noch lauter hätten pro 
testieren sollen. Es ist nun Aufgabe der Politiker, dafür 
zu sorgen, daß sich ein solcher Fall nie wiederholen kann. 
[Beifall bei der SPD und der AL] 
Stellv. Präsident Longolius: Das Wort hat jetzt der Kol 
lege Kraetzer. 
Kraetzer (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Auch das laute Pathos, das der Kollege Dr. Gerl 
in seine Darlegungen hier hat einfließen lassen, kann 
nicht darüber hinwegtäuschen — und das sage ich namens 
meiner Fraktion ganz ausdrücklich —, daß Verwaltung wie 
Gerichte wie Justizsenator sich absolut korrekt im Fall 
Altun verhalten haben. 
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.] 
Die Vorwürfe, die hier erhoben wurden, die hingingen bis 
zu dem persönlichen Vorwurf mangelnder Moralität des 
Justizsenators, sind absolut fehlsam. Fehlsam ist auch 
die Kritik, die man hier angewandt hat in bezug auf 
die Entscheidung des Kammergerichts. Hier wurde das 
jetzt geltende Recht mit dem früheren Recht durcheinan 
dergeworfen. Es wurden Möglichkeiten, auf Veranlassung 
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