Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
50. Sitzung vom 20. Oktober 1983
Dr. Gerl
(A) allgemeine Zusicherung der Spezialität“, also der Verfol
gung nur wegen des zum Vorwurf gemachten Delikts, „al
lein nicht, um derzeit im Auslieferungsverkehr mit der
Türkei die Gefahr politischer Verfolgung hinreichend aus
zuschließen. Es bedarf daher zusätzlich einer Prüfung der
Umstände des Einzelfalles.“ Eine solche Prüfung, wie das
Bundesverfassungsgericht sie für verfassungsrechtlich
geboten erklärt hat, ist im Falle Altun niemals vorge
nommen worden.
Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht hätte
aufgrund dieser Entscheidung die rechtliche Pflicht ge
habt, eine neue Entscheidung des Kammergerichts zu
beantragen, um diese notwendige Prüfung nachholen zu
lassen. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, eine Ent
scheidung des Bundesgerichtshofes herbeizuführen. Auch
dieses ist nicht geschehen, und so hat sich die Staatsan
waltschaft schwerer Versäumnisse schuldig gemacht.
Und noch aus einem weiteren Grund hätte die Staats
anwaltschaft die Verpflichtung gehabt, die Überprüfung
der Entscheidung des Kammergerichts herbeizuführen.
Am 1. Juli dieses Jahres ist nämlich das Internationale
Rechtshilfegesetz in Kraft getreten, das an die Zulässig
keitsentscheidung des jeweiligen Oberlandesgerichts
erhöhte Anforderungen stellt. Danach ist nämlich die
Auslieferung nur zulässig, wenn der ersuchende Staat
die Tatsachen darlegt, aus denen sich der hinreichende
Tatverdacht ergibt. Diese Tatsachen müssen dann von
dem jeweiligen Oberlandesgericht nachgeprüft werden.
Gerade diese Prüfung hatte das Kammergericht für un
nötig erklärt und nicht vorgenommen. Hier hätte also sei
tens der Staatsanwaltschaft die Notwendigkeit bestan
den, die Überprüfung der Kammergerichtsentscheidung
zu beantragen, damit diese notwendige Prüfung des
Schuldverdachts nachgeholt würde. Es ist unbegreiflich,
daß die Staatsanwaltschaft dieser Verpflichtung nicht
nachgekommen ist.
Meine Damen und Herren! Ferner war auch der Grund
satz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der selbst in
der letzten Entscheidung des Kammergerichts über die
Haftfortdauer nicht einmal angesprochen worden ist.
Und schließlich: Anfang August dieses Jahres wurde den
deutschen Behörden das Urteil bekannt, das in der Türkei
wegen des Anschlages auf den Zollminister bereits im
April ergangen war. Und dieses Urteil ist allerdings ent
larvend. Das, wofür das Kammergericht keine Anhalts
punkte gesehen hatte, nämlich eine Verfolgung wegen
politischer Delikte, findet sich in dieser Entscheidung
eindeutig bestätigt. Die Täter wurden ausschließlich we
gen politischer Staatsschutzdelikte verurteilt, was bedeu
tet, daß wegen einer Beteiligung, auch in Form der Straf
vereitelung, an einer solchen Tat eine Auslieferung zwin
gend ausgeschlossen ist, sowohl nach deutschem Auslie
ferungsrecht als auch nach dem Europäischen Ausliefe
rungsübereinkommen. Und die Strafvereitelungshandlung,
die in dem Auslieferungsersuchen Kemal Altuns vorgewor
fen worden war, wurde in diesem türkischen Urteil einem
anderen Täter angelastet, also gerade nicht Kemal Altun
zugerechnet. Hier spätestens war das Fehlen jeder Recht
fertigung für das Auslieferungsverfahren offenbar, und
hier spätestens hätte die sofortige Aufhebung des Haft
befehls und die Freilassung Kemal Altuns erfolgen müs
sen.
Der Senator für Justiz steht hier nicht nur als politisch
Verantwortlicher, sondern auch persönlich in der Pflicht.
Er ist nicht nur von den verschiedenen Menschenrechts
organisationen auf diesen Fall angesprochen worden,
sondern er ist auch vom Petitionsausschuß dieses Hauses
eindringlich darum gebeten worden, die Staatsanwalt
schaft anzuweisen, durch einen entsprechenden Antrag
eine Revision der Entscheidung des Kammergerichts her
beizuführen. Noch am 13.7.83 schreibt Senator Oxfort (C)
dem Petitionsausschuß, er sehe keine Veranlassung, an
die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht heranzu
treten. Er vermöge nicht zu erkennen, welche Rechtsfrage
zur Zeit einer Klärung durch den Bundesgerichtshof be
dürfen könnte. Im übrigen sei ja die Asylanerkennung des
Kemal Altun vom Bundesbeauftragten für Asylangelegen
heiten angefochten worden. Mit dieser Weigerung, tätig
zu werden, ist aus der Pflichtverletzung der Staatsan
waltschaft eine Pflichtverletzung des Senators Oxfort
persönlich geworden.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Mit dieser Weigerung haben Sie, Herr Senator Oxfort,
vor allem menschlich, politisch und moralisch versagt.
Hätten Sie sich nicht auf diese formale bürokratische
Position zurückgezogen, sondern der Empfehlung des
Petitionsausschusses entsprochen, könnte dieser junge
Mensch Kemal Altun heute vielleicht noch am Leben sein.
Und wenn Sie, Herr Senator, nur wenige Stunden nach
seinem Tod öffentlich die Erklärung abgegeben haben,
Altun sei auf Betreiben des Vorsitzenden der 19. Kammer
des Verwaltungsgerichts gegen die Sicherheitsbedenken
des zuständigen Strafsenats in das Gebäude des Ver
waltungsgerichts ausgeführt worden, so haben Sie es fer
tiggebracht, ausgerechnet das Verwaltungsgericht, die
einzige Instanz, die sich im Falle Altun absolut korrekt
verhalten hat, mit dieser Halbwahrheit öffentlich ins Zwie
licht zu bringen.
[Beifall bei der SPD und der AL —
Unmutsäußerungen]
Dies war ein gezielter Versuch, die Öffentlichkeit irrezu- (D)
leiten und von der eigenen Verantwortung und der des
Kammergerichts abzulenken, was die moralische Ver
werflichkeit Ihres Verhaltens in diesem Fall nur noch ver
stärkt hat.
Meine Damen und Herren! Der Tod Kemal Altuns hat
verschiedenseitiges Fehlverhalten gegenüber diesem jun
gen Menschen drastisch deutlich werden lassen, und
viele, die sich für ihn eingesetzt haben, werden sich heute
fragen, ob sie nicht früher und noch lauter hätten pro
testieren sollen. Es ist nun Aufgabe der Politiker, dafür
zu sorgen, daß sich ein solcher Fall nie wiederholen kann.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Stellv. Präsident Longolius: Das Wort hat jetzt der Kol
lege Kraetzer.
Kraetzer (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Auch das laute Pathos, das der Kollege Dr. Gerl
in seine Darlegungen hier hat einfließen lassen, kann
nicht darüber hinwegtäuschen — und das sage ich namens
meiner Fraktion ganz ausdrücklich —, daß Verwaltung wie
Gerichte wie Justizsenator sich absolut korrekt im Fall
Altun verhalten haben.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Die Vorwürfe, die hier erhoben wurden, die hingingen bis
zu dem persönlichen Vorwurf mangelnder Moralität des
Justizsenators, sind absolut fehlsam. Fehlsam ist auch
die Kritik, die man hier angewandt hat in bezug auf
die Entscheidung des Kammergerichts. Hier wurde das
jetzt geltende Recht mit dem früheren Recht durcheinan
dergeworfen. Es wurden Möglichkeiten, auf Veranlassung
2989