Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
48. Sitzung vom 22. September 1983
Tietz
(A) Ebene fortgesetzt werden - die Perspektive? Wir meinen Nein!
Meines Erachtens ist dieser Besuch Ausdruck der politischen
Schizophrenie, die gegenwärtig unter den Regierungsparteien
in Berlin und Bonn grassiert. Anders als mit diesem Begriff aus
dem Bereich der Pathologie läßt sich eine Politik nicht bezeich
nen, die einerseits durch die Stationierung der US-Mittelstrek-
kenraketen die Gefahr eines Weltkrieges und damit das Ende
der Zivilisation heraufbeschwört und sich andererseits vom
politischen Gegner erhofft, daß er dialogbereit bleibt.
Ich kann gegenwärtig nur konstatieren, daß sich verschie
dene politische Strömungen innerhalb der CDU auf den Früch
ten der von ihr ehemals vehement bekämpften Entspannungs
politik und des Viermächte-Abkommens ausruhen. Ein Konzept,
das von den Interessen der Menschen ausgeht, die sowohl in
der Bundesrepublik als auch in der DDR als erste und
als einzige sicher selbst von der niedrigsten Schwelle eines
atomaren Krieges ausgerottet werden, ist bei Ihnen, Herr von
Weizsäcker, nirgends zu erkennen! Konsequente Entspan
nungspolitik kann heute nur heißen, die geplante Stationierung
der amerikanischen Mittelstreckenraketen abzulehnen I
[Beifall bei der AL]
Jede weitere Aufrüstung des Westens verschärft die Spannun
gen zwischen den Blöcken und damit auch zwischen den
beiden deutschen Staaten. Sie dient angesichts der Fähigkeit
beider Blöcke, sich gegenseitig dutzendfach auszurotten, nicht
unserer Sicherheit, ja im Gegenteil, sie verhindert Sicherheit
und macht uns zum potentiellen Angriffsziel, wie wir das ja
heute wörtlich von Herrn von Weizsäcker mit dem Hinweis auf
das Fadenkreuz gehört haben.
Wenn wir den Zusammenhang herstellen zwischen dem Be
such des Regierenden Bürgermeisters und dem Bericht über
das Viermächte-Abkommen, stellt sich auch die Frage: haben
wir eine Normalisierung der Verhältnisse? Keineswegs! Ja es
(B) besteht sogar bei einem Scheitern der Genfer Verhandlungen
und durch die Stationierung der Mittelstreckenraketen die Ge
fahr einer Verschlechterung der Lage im Ost-West-Verhältnis.
Normale Verhältnisse haben wir aber auch nicht mit dem jetzi
gen Stand der Beziehungen und insbesondere der Vereinba
rungen mit der DDR. Die Notwendigkeit, den Mindestumtausch
zu senken, ist allgemein bekannt, immer wieder Gesprächs
thema, und das vertreten wir auch. Bis jetzt ist noch nichts pas
siert.
Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von Forderungen, die
unbedingt verhandelt werden müssen und die im Interesse des
Zusammenlebens der Menschen in beiden deutschen Staaten
und insbesondere für Berlin (West) von großer Bedeutung sind.
Es muß für die Berliner möglich werden, erstens, eine Visaertei
lung direkt an den Grenzstellen für Mehrfachbesuche zu erhal
ten.
Zweitens, es müssen unkompliziertere Modalitäten auch für
solche Besuche geschaffen werden, die eine Übernachtung
einschließen.
[Landowsky (CDU): Jawohl!]
Drittens, es muß die Einreise mit Motorrad und Fahrrad in die
DDR möglich werden.
Viertens fordern wir die Offenhaltung des Grenzüberganges
Staaken für Transitreisende, auch mit dem Fahrrad, und ins
besondere in Richtung Lüchow-Dannenberg.
[Beifall bei der AL]
Fünftens greifen wir einen alten Vorschlag auf, einen Zei
tungsaustausch zu organisieren, so daß sich die Menschen in
beiden deutschen Staaten besser informieren können.
Sechstens, wir fordern die Öffnung neuer S-Bahn-Verbindun-
gen und Übergänge in die Umgebung von West-Berlin, um so
mehr Freizeitmöglichkeiten für die Westberliner zu schaffen.
[Simon (CDU): Auch einverstanden!]
Siebentens, die Probleme des Umwelt- und Naturschutzes, (C)
wie die Gewässerverschmutzung im Teltow-Kanal, der Havel
und der Panke müssen umgehend durch Verhandlungen ge
klärt werden.
■ [Simon (CDU); Das ist richtig!]
Achtens eine Anmerkung bzw. Forderung unsererseits zur
750-Jahr-Feier: Es ist beeindruckend, wie man in dieser Stadt
mit historischen Bauten die Stadt wieder neu aufpäppeln will,
nachdem man Jahre zuvor abgerissen, zugeschüttet und histo
rische Bauten zerstört hat.
[Landowsky (CDU): Richtig!]
Es sei kritisch angemerkt, daß die jetzt geplanten Milliardenaus
gaben falsch gewichtet sind, wenn nicht gleichzeitig die Ver
besserung der Lebensqualität in unserer Stadt angegangen
wird. Die Gefahr ist, daß man mehr Geld für die Touristen aus
gibt als für die Menschen, die hier leben. Unser Wunsch im Ver
hältnis zu Ost-Berlin in diesem Punkt ist freier Besucherverkehr
in beiden Richtungen, das heißt für uns, daß die Ost-Berliner
eine Besucherregelung spätestens zur 750-Jahr-Feier erhalten
müssen und für West-Berliner eine Besucherregelung ohne
Eintrittsgeld möglich werden muß.
[Beifall bei der AL - Simon (CDU); Sehr gutl]
Neuntens, ein letzter Punkt unserer politischen Forderungen
betrifft die unabhängige Friedensbewegung in der DDR, be
kannt geworden durch ihre Parole „Schwerter zu Pflugscha
ren“. Wir fordern, jegliche Unterdrückung zu unterlassen. Es
muß möglich sein, einen freien Gedanken-, Informations- und
Meinungsaustausch zu erhalten, insbesondere mit der unab
hängigen Friedensbewegung, die den blockübergreifenden
Charakter betont und sich gegen jegliche Atomraketen in Ost
und West wendet.
Als letztes möchte ich zu diesem Komplex noch anmerken,
daß wir es für sinnvoll halten, wenn die zwanzig Bezirke unserer
Stadt untereinander Kontakte aufnehmen, in einen gegenseiti- ^
gen Erfahrungsaustausch treten und Partnerbeziehungen zu
anderen Stadtteilen von Berlin (Ost) aufnehmen.
Die Aktualität der Lage erfordert es auch, darauf hinzuweisen,
daß die Verträge mit der DDR für West-Berlin bisher unzurei
chend bzw. mangelhaft waren, insbesondere der Mülivertrag,
der dazu führte, daß kostenträchtige Nachteile für uns entstan
den.
[Beifall bei der CDU]
Ähnliches droht uns bei abgeschlossenen Verträgen zum
Südgelände und den Vereinbarungen zur S-Bahn. Wir fordern
den Senat auf, die ewige Geheimnistuerei mit diesen Vertrags
werken aufzugeben und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen.
[Beifall bei der AL]
Nun noch zum Viermächte-Abkommen, ein Abkommen, in
dem sich die vier Siegermächle erst einmal vorrangig ihre
gewachsenen Besatzungsrechte gegenseitig bestätigen, bevor
es um Bindungen oder irgend etwas anderes geht. Das Vinr-
mächte-Abkommen hat endgültig die These des Chmscht-
schowschen Ultimatums vom November 1958 bestätigt. Drei
zehn Jahre lang versuchte die Sowjetunion West-Berlin als völ
kerrechtlich völlig selbständiges, von der Bundesrepublik wirt
schaftlich und politisch getrenntes Staatsgebiet zu definieren,
die sogenannte Drei-Staaten-Theorie. Seit 1971 sind die Bin
dungen Berlins an den Bund, wenn auch unterschiedlich inter
pretiert, anerkannt. Die Zufahrtswege sind garantiert, die
Außenvertretung festgeschrieben. Ein Entspannungsschritt war
getan. Aber das Ziel der Normalisierung ist nicht erreicht wor
den. 1982 sagte der damalige Senator Dr. Blüm in der Bespre
chung des Senatsberichts zum Viermächte-Abkommen: „Ich
meine, daß Berlin nicht einfach eine Stadt unter vielen tausend
anderen Städten ist, daß wir die Abnormalitäten wie unter einem
Brennglas hier in Berlin versammeln.“ Wo werden aber diese
Erkenntnisse vom damaligen Senator konzeptionell bei der
SPD oder CDU oder beiden umgesetzt? Dies ist eine halbierte
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