Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
44. Sitzung vom 5. Mai 1983
Simon
Meine Damen und Herren, ich plädiere dafür, daß sich dieses
Haus einem neuen Verständnis für den Kurfürstendamm anschließt,
das wir in den vergangenen Jahren immer wieder vermißt haben,
insbesondere von der früheren Regierungsfraktion, und daß wir
alles tun, damit an dieser Stelle wieder das Optimale für den Kurfür
stendamm geschieht. Wir bitten daher, unserem Antrag zuzustim
men. - Schönen Dank!
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Stellv. Präsident Franke: Weitere Wortmeldungen liegen nicht
vor. Es ist beantragt worden, über die Beschlußempfehlung des
Hauptausschusses, Drucksache 9/1149, einzeln abstimmen zu las
sen, und zwar über die Punkte 1 und 2 zusammen und dann über
den Punkt 3.
Ich rufe also auf die Beschlußempfehlung des Hauptausschus
ses vom 27. April 1983. Ich lasse zunächst über die Punkte 1 und 2
abstimmen; wer diesen seine Zustimmung zu geben wünscht, den
bitte ich um das Handzeichen. - Danke sehr! Das war einstimmig.
Ich lasse nunmehr abstimmen über den Punkt 3; wer dem Punkt 3
der Beschlußempfehlung seine Zustimmung zu geben wünscht,
den bitte ich ebenfalls um das Handzeichen. - Danke sehr! - Ich
bitte um die Gegenprobe. - Stimmenthaltungen? - Das erste war
die Mehrheit, bei einigen Stimmenthaltungen der Alternativen Liste.
Ich lasse nunmehr über die Beschlußempfehlung insgesamt ab
stimmen, nämlich über die Beschlußempfehlung in der Fassung
des Hauptausschusses, Drucksache 9/1149. Wer ihr seine Zustim
mung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. -
Danke sehr! Ich bitte um die Gegenprobe, - Stimmenthaltungen? -
Bei einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen ist so be
schlossen. Wir werden das Herrn Dr. Lehmann-Brauns mitteilen.
Lfd. Nr. 7 a, Drucksache 9/1152:
Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Bun-
desangeiegenheiten und Gesamtberliner Fragen vom
28. April 1983 und des Hauptausschusses zum Antrag
der Fraktion der SPD über Vorbereitung und Durch
führung der 750-Jahrfeier Berlins, Drucksache 9/1067
Der Dringlichkeit hatten Sie bereits zugestimmt. Wird das Wort in
der Beratung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
[Zuruf von der AL: Doch!]
- Doch? - Ich bitte um Entschuldigung, Herr Dr. Jänicke, ich hatte
das nicht gesehen.
Dr. Jänicke (AL): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte einmal die Frage stellen, was wir im Jahr 1987 eigentlich zu
feiern haben.
[Rabatsch (AL): Stadtzerstörung!]
Diese Stadt hat sich 700 Jahre lang entwickeln und entfalten kön
nen, und nur reichlich 40 Jahre hat es gedauert, um sie städtebau
lich zu ruinieren. Ich spreche von den beiden Zerstörungswellen,
die über diese Stadt hinweggegangen sind: die Wellen der Kriegs
und die der Nachkriegszerstörung. Erst hat der nationalsoziali
stische Krieg diese Stadt zerstört, der von hier ausging und hierher
zurückkam, zurückkommen mußte. Und dann begann die freiwillige
Selbstzerstörung im Dienst einer durch Bonner Subventionen an
geheizten Profitgier - dies unter der Federführung sozialdemokra
tischer Baubürokraten.
[Rabatsch (AL); Senator Schwedler - sage ich da nur!]
Jawohl, meine Damen und Herren, diese 750-Jahrfeier wird von
uns zu einem Datum der Anklage gemacht - einer Anklage gegen
alle diejenigen, die es in nicht einmal 50 Jahren vermocht haben,
West-Berlin dahin zu bringen, wo es sich heute befindet. Hier wird
jeder Bauspekulant beim Namen zu nennen sein und jeder Bau
senator; das wird eine unerfreuliche Liste werden.
[Wohlrabe (CDU): Da haben wir aber Angst!]
Es wird aber auch eine Liste derer werden, die in diesem Zerstö- (C)
rungsprozeß einiges bewahrt haben: die Landeskonservatoren und
vielen Bürgerinitiativen zum Beispiel. Versöhnlicherweise sollte
man auch von denen sprechen, die dazugelernt haben - vorausge
setzt, sie üben stadtplanerisch tätige Reue.
Meine Damen und Herren! Was ist denn das für eine Stadt, in der
Zehntausende ihr Geburtshaus heute nicht wiederfinden, weil man
es abgerissen hat? - Was ist das für eine Stadt, in der man ein Mu
seum nach dem anderen baut, um zu zeigen, was man verloren hat?
- Was ist das für eine Stadt, in der man beinahe 150 Millionen Mark
für eine künstliche Landschaft ausgibt, weil einem die märkische
Landschaft offenbar zu unattraktiv ist? - Aber gleichzeitig fehlt das
Geld, um all die Häuser zu renovieren, die es wert sind - beispiels
weise das Tucholsky-Haus,
[Rabatsch (AL): Das wollen die doch nicht!]
Wir hatten beantragt, dem Landeskonservator mindestens 10 Mio
DM zusätzlich zu geben - das hat der Kulturausschuß auch so be
schlossen -, die Summe ist aus der jetzigen Vorlage herausgenom
men. Wir hatten gedacht, daß man damit den Jubiläumssprüchen
wenigstens eine gewisse Konkretheit geben könnte - aber das ist
wieder zurückgenommen worden. Ich ahne Schlimmes!
[Rasch (F.D.P.): Ganz im Gegenteil!
Wir wollen noch viel mehr!]
- Ja, im Namen von maximalistischen Sprüchen ist das herausge
nommen worden, daß man eigentlich viel mehr brauche. Das hätte
man ja dann auch konkretisieren können.
[Rasch (F.D.P.): Warten Sie nur ab!]
- Ich hoffe zu Ihren Gunsten, daß Sie mehr ausgeben werden. Ich
hoffe das ganz intensiv.
Meine Damen und Herren, ich spreche hier als Lokalpatriot Pa
trioten waren ja einmal sehr progressive Leute - nicht nur in der
Französischen Revolution -, und es sieht so aus, als wenn sie das (D)
wieder zunehmend würden. Nicht zuletzt Ernst Bloch hat den Be
griff der Heimatlichkeit für diese Richtung wiederentdeckt und ihn
dem Begriff der Entfremdung gegenübergestellt Das ist sicher ein
sehr wichtiger Begriff für unsere Stadt, Ein Minimum an Heimatlich
keit - das ist nicht nur eine Frage der Sentimentalität, sondern auch
beispielsweise der Soziaimedizin - ist Bedingung für die seelische
Stabilität von Menschen, oder anders gesagt: Die Chaotisierung
der Lebensbedingungen macht die Leute kaputt! - Das gilt für die
gesellschaftlichen wie für die äußeren, zum Beispiel baulichen, Le
bensverhältnisse. Wenn Menschen fürchten müssen, daß sie aus
ihrem Haus oder ihrem Kleingarten oder ihrem Job herausfliegen
oder ihre vertraute Erholungsumwelt verlieren, dann ist das nervlich
und seelisch ein ruinöser Prozeß; und an der Zunahme der Patien
ten der psychiatrischen Kliniken, von denen wir bei der letzten Sit
zung gesprochen haben, kann man sehen, wie sich ein solcher Pro
zeß dann sehr real auswirkt Am Beispiel der Spandauer Streit
straße könnte man dann auch sehen, wie über solche Menschen
hinweggegangen wird und wie hier sogar mit Lebensrisiken Anpas
sungserfordernisse geschaffen werden, nur weil man wiederum
stadtplanerisch eine neue Variante gefunden hat, an der einige
Leute gut verdienen können. Es geht also um ein ganz konkretes
Thema, nämlich um die Erhaltung überkommener Stadtstrukturen.
Das möchte ich bewußt in dieser Breite zur Sprache bringen.
[Beifall bei der AL]
Die Erhaltung von Heimatlichkeit, von Kontinuität der Lebenserfah
rung - das ist, wie gesagt, sogar gesundheitspolitisch wichtig. Des
halb sollte man hier ein solches Postulat der Sicherung von Konti
nuität der Lebenserfahrung, entgegengesetzt zu der bisherigen
Chaotisierung von Lebensbedingungen, in die Debatte einbringen.
Das sollte das tiefergehende Jubiläumspostulat für diese Stadt sein,
was besser als der Neubau von Museen ist.
Der Philosophie und der Praxis nach werden wir dieses Jubiläum
an zwei verschiedenene Fronten zubringen. Ich glaube, daß es da
bei nicht so viel zum Feiern gibt.
[Beifall bei der AL]
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