Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
43. Sitzung vom 28. April 1983
Swinne
(A) Sie fordern indirekt die Abschaffung der psychiatrischen Großkli
niken. Über diese Frage sind sich nach meiner Erinnerung schon
seit 1967 alle Fraktionen hier in diesem Hause einig. Die Richtung
gab 1967 der damalige Senat in seinem Bericht über die Situation
der offenen Fürsorge für psychisch und geistig Kranke und Behin
derte einschließlich der Suchtkranken an. Schon 1967 war man
sich in diesem Hause programmatisch einig, daß eine an modernen
wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Betreuung psychisch
kranker und behinderter Menschen es erfordert, daß die Maßnah
men der offenen, halboffenen und der geschlossenen Fürsorge eng
ineinander greifen. Sie tun heute in der Begründung so, als ob das,
was Sie heute vorgetragen haben, ganz neu sei, ganz aktuell, ganz
sensationell. Nun aber auf in den Kampf! Diesem Ziel - wie ange
führt - ist das Land Berlin in Teilbereichen sehr nahe gekommen. In
diesem Zusammenhang denke ich an eine Einrichtung wie die Ner-
venklinik Spandau, wo Patienten entsprechend ihrem Einzugsbe
reich auf der Station liegen, wo es bereits die Einrichtung des Kran
kenheimes und ein Wohnheim gibt, in dem der Patient zur Selbstän
digkeit geführt wird. Auch eine ambulante Behandlung ist am dor
tigen Krankenhaus möglich.
Die F.D.P. bekennt sich in ihrem gesundheitspolitischen Pro
gramm aus dem Jahre 1976 zu der Abkehr von der sogenannten
bettenzentrierten Versorgung. Vielmehr sind Großanstalten zugun
sten eines Netzes der stationären, der halbambulanten und der am
bulanten Versorgung abzubauen. Und in diesem Sinne arbeitet
auch die Berliner Behörde, obgleich es viele finanzielle Schwierig
keiten gibt. Deshalb geht es eben auch langsam voran. Es gibt auch
gesellschaftliche Vorbehalte, in diesen Bereich Geld zu investieren.
Daher wäre es sinnvoll, mit Takt und mit Abstand die Probleme zu
behandeln und nicht Aufruhr zu moderieren und somit wieder Vor
behalte gegen die Psychiatrie aufzubauen.
Nicht nur wir Liberalen wollen eine bürgernähere Versorgung.
Soweit wie möglich soll der Patient in räumlicher Nähe zu seiner
Wohnung betreut und versorgt werden. Wer ist heute noch gegen
eine integrierte psychiatrische Versorgung, das heißt, ein möglichst
(B) engmaschiges Netz von niedergelassenen Ärzten und Psycholo
gen, von Krankenhäusern sowie Einrichtungen der freien Träger für
ambulante Behandlung und dergleichen? Wer ist heute noch
gegen eine Entflechtung der psychiatrischen Großkrankenhäuser
in Berlin?
Sie, Herr Rabatsch, sprechen in Ihrer Anfrage das Problem der
Psychopharmaka an. Wer bezweifelt ernsthaft, daß es eine schwer
wiegende Gefahr ist, daß der Kranke mehr Medikamente erhält, als
zur Unterdrückung der Symptome notwendig sind, weil der Kranke
vorrangig nicht mehr die Wirkungen, sondern die Nebenwirkungen
erlebt? Er fühlt sich dann nur müde, beengt und eingemauert. Viel
leicht fühlt er sich dann stärker beeinträchtigt als durch seine
ursprüngliche Krankheit. Es ist doch weitgehend Allgemeingut daß
vor allem bei einer Dauertherapie man sich auf die niedrigste und
gerade noch wirksamste Dosis beschränkt, damit der Kranke im
Rahmen der Therapie mit dem Arzt reden kann über die Wirkung
der Medikamente und über sein gesundes und sein krankhaftes Er
leben. Nur so kann der Kranke lernen, mit seiner Störung zu leben.
Dies ist auch unumstritten.
Sie haben in Ihrer Großen Anfrage auch die Frage der Stellung
von Arzt und Patient, der Therapie und ihre rechtliche Zuordnung
angesprochen. In ganz anderer Weise als beim organisch Kranken
sind beim psychisch Kranken für Diagnose und Behandlung die
lebensgeschichtlichen Daten, Persönlichkeitsmerkmale und die Be
ziehung des Patienten zu Dritten von Bedeutung. Allein psychisch
Kranke können gegen ihren Willen in ein Krankenhaus eingewiesen
und behandelt werden. Auch die Behandlung kann von diesem Ge
samtverhältnis wesentlich bestimmt sein; auch das ist unbestritten.
Die therapeutische Behandlung zwischen Arzt und Patienten be
darf eines besonderen Schutzes, da Therapie und Behandlung un
mittelbar auf die künftige Lebensentwicklung und die sozialen Be
ziehungen des Patienten einwirken. Hier Regelungen zu finden, die
das Einsichtsrecht des Patienten in die Krankenakte regeln, die
Schweigepflicht berühren, die Dokumentation von Krankenge
schichten für wissenschaftliche Forschung und den Datenschutz
regeln, ist heikel und schwierig. Noch immer soll es Vorkommen,
daß Daten, die aufgrund eines Gesetzes für psychisch Kranke er
hoben werden, von der bearbeitenden Ordnungsbehörde automa
tisch an die Führerscheinstelle weitergeleitet werden. Ob dies in
Berlin zutrifft, weiß ich nicht. Hier wird die ärztliche Schweigepflicht
tangiert. Es muß nach Lösungen gesucht werden, daß die ärztliche
Schweigepflicht nicht zu Ungunsten des Patienten durchlöchert
wird. Diese Gefahr besteht künftig bei einer noch umfassenderen
elektronischen Speicherung der Krankengeschichte. Dieser
Fragenkomplex sollte auch einmal, nicht hier, aber im zuständigen
Ausschuß, bei der anstehenden Beratung eines neuen Gesetzes
für psychisch Kranke erneut diskutiert werden.
Von einer Oppositionsfraktion - ich bin natürlich wieder der
Oberlehrer - hätte ich erwartet, daß sie einmal die Effizienz der so
zialpsychiatrischen Dienste der Bezirksämter näher durchleuchtet
hätte. Der Senator hat sie zwar sehr gelobt, wäre es aber nicht sinn
voll, der Frage nachzugehen, ob die sozialpsychiatrischen Dienste
der Bezirksämter, die einerseits Hoheitsaufgaben und andererseits
Betreuungsaufgaben zu erfüllen haben, so zu strukturieren sind,
daß die Betreuungsarbeit am Klienten nicht zentral vom Bezirksamt
vollzogen, sondern vielmehr im Rahmen der Arbeit der Sozialstatio
nen durchgeführt wird, um eine kiezbezogene Betreuung zu garan
tieren? Wo sind dazu, Herr Rabatsch, aus Ihren Reihen die Vor
schläge?
Von einer Oppositionsfraktion hätte ich Vorschläge erwartet, wie
die geschützten Werkstätten mehr als bisher für den Bereich der
psychisch Kranken mobilisiert werden könnten, damit der psy
chisch Kranke über eine berufliche Tätigkeit wieder Selbstver
trauen und Kontakt zu anderen Menschen findet.
[Beifall bei der CDU]
Nur so kann er aus seiner Isolation herauskommen.
Von einer Oppositionsfraktion hätte ich Vorschläge erwartet, daß
die bezirklichen Sozialämter nicht so sehr ihren Ideenreichtum dar
auf verwenden, Seniorenreisen zu planen, sondern daß die bezirkli
chen Sozialämter Wege beschreiten, psychisch Kranken einmal ein
Reiseangebot zu entwickeln, um ihnen neue Erfahrungen und eine
andere Erlebniswelt zu vermitteln. Das wäre sinnvoll.
[Rabatsch (AL): Machen Sie es doch einmal!]
Das wäre Sozialarbeit.
- Was haben Sie gemacht, Herr Rabatsch? Sie haben eine große
Aufklärungskampagne angekündigt. Wir werden abwarten, was wir
zu erwarten haben. - Ich danke Ihnen.
[Beifall bei der CDU und bei der F.D.P.]
Stellv. Präsident Franke: Meine Damen und Herren! Weitere
Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Große Anfrage ist damit
erledigt.
Der Ältestenrat empfiehlt, die Großen Anfragen zu den lfd.
Nrn. 11 und 12 zu vertagen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? -
Das ist nicht der Fall.
Ich rufe auf
lfd. Nr. 13, Drucksache 9/1129:
Wahl einer Person zum Mitglied des Verwaltungsrats
der Wohnungsbau-Kreditanstalt Berlin
Es handelt sich um eine Ersatzwahl. Vorschlagsberechtigt ist die
Fraktion der CDU. Vorgeschlagen wird Herr Abgeordneter Dank
ward Buwitt. Wer diesem Vorschlag seine Zustimmung zu geben
wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke sehr! Ich bitte
um die Gegenprobe. - Das ist so beschlossen.
Ich rufe auf
lfd. Nr. 14, Drucksache 9/1130:
Wahl von vier Abgeordneten für die 22. ordentliche
Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vom
13. Juni bis 15. Juni 1983 in Frankfurt am Main
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