Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
42. Sitzung vom 17. März 1983
Schneider
Herr Finanzsenator, zeichnet sich allerdings durch Klarheit in der
Analyse ebenso wie durch Klarheit in der politischen Zielsetzung
aus. Etwaige Mißdeutung der vorliegenden Aussagen durch mich
sind daher nicht etwa meiner Bösartigkeit zuzuschreiben, sondern
eben genau dieser fehlenden Exaktheit und Klarheit in all dem, was
uns vorgelegt worden ist.
[Beifall bei der SPD]
Meine Damen und Herren von der Regierungsmehrheit, was Ihre
Analyse der wirtschaftlichen Situation Berlins betrifft, so ist sie
selbst, gemessen an der Tatsache, daß dieser Senat offenbar völlig
dem CDU-eigenen Vorwahloptimismus verpflichtet war, außer
ordentlich rosig. Ich bewundere insbesondere Ihren Mut, für die
Jahre 1984 bis 1986 reale Steigerungsraten des Bruttosozialpro
dukts bis zu zwei Prozent zugrunde zu legen. Der Glaube mag zwar
Berge versetzen, die Zahl der Arbeitslosen verringert sich dadurch
jedoch nicht!
Ausgangspunkt einer realistischen Analyse muß doch sein, einer
seits die aktuelle Arbeitslosenstatistik vom letzten Monat und an
dererseits den Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor
schung - Sie haben ihn offenbar gelesen, Herr Finanzsenator -
über das zu sehen, was diese Wirtschaftsforscher für Berlin proji
zieren. Sie sagen voraus, daß sich die Wirtschaftsleistung Berlins
weiter verringern wird, daß sich hier die Beschäftigung verringern
wird, daß ein anhaltend starker Arbeitsplatzabbau im verarbeiten
den Gewerbe stattfindet, der private Verbrauch abnehmen wird und
die Preissteigerungsraten in Berlin höher als im übrigen Bundes
gebiet sein werden. Da bei gleichzeitiger Zunahme der Zahl der
Erwerbspersonen die Schere noch weiter auseinanderklaffen wird,
als dies ohnehin schon zutrifft, stellt sich also das Problem der
Arbeitsplätze noch verstärkt. Und, Herr Regierender Bürgermeister
sowie die Sie unterstützenden Kolleginnen und Kollegen, das ist
doch die schonungslose, die realistische Lage unserer Stadt Nur
der, der sich diese Lage vor Augen führt, ist imstande, den Versuch
einer effektiven Verbesserung erfolgreich anzupacken.
[Beifall bei der SPD]
Wir erwarten von einem verantwortungsbewußten Senat nicht, daß
er hoffnungslos schwarz in schwarz malt Wir können aber zu Recht
verlangen, daß er uns keine rosarote Schaumschlägerei vorführt.
Diese Probleme sind doch existenziell. Darauf hat der Kollege
Ulrich vorhin schon hingewiesen. Sie gehen an den Lebensnerv
Berlins.
Die Abnahme der wirtschaftlichen Leistungskraft Berlins führt zu
einer Strukturschwächung der Stadt, die in ihren Ausmaßen ihre
Lebensfähigkeit ebenso bedrohen wie das Chruschtschow-Ultima
tum, die Blockade oder der Mauerbau, Wir bedauern außerordent
lich, daß die sogenannte Mehrheit in diesem Hause - und vor allem
der Senat - die Dimensionen dieser Problematik nur unzureichend
erkennt, denn sonst verstehe ich beim besten Willen nicht die Re
zeptur des Senats zu Problemlösungen, seine innere Distanziertheit
und seine fehlende Innovationsfähigkeit.
[Beifall bei der SPD]
Nehmen Sie die Situation nun einmal so, wie sie ist, dann kann
die Haushaltssanierung nicht mehr das oberste Ziel einer verant
wortlichen Politik in dem Sinne sein, daß das Sparen zum Selbst
zweck wird. Es muß oberstes Ziel sein, den Arbeitsplatzabbau zu
stoppen, den Strukturschwächen zu Leibe zu rücken, die Folgen
von Kaufkraftschwund und die Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen
zu mindern. Vor allem muß aber der Versuch unternommen werden,
den verhängnisvollen Entwicklungen außerhalb des öffentlichen
Sektors durch ein bewußtes und zielgerichtetes Handeln der öffent
lichen Hand mit den öffentlichen Mitteln zu begegnen.
Die Mittel der öffentlichen Hand sind knapp. Sie sind nicht belie
big vermehrbar. Auch wir Sozialdemokraten sind der Auffassung,
daß derzeit längst nicht mehr alles Wünschbare finanzierbar ist.
Man kann vielleicht auf kurze Zeit auf Pump und über seine Verhält
nisse leben, auf lange Sicht zahlt man dann aber eine teure Rech
nung dafür. Wir kennen durchaus die Grenzen der öffentlichen
Handlungsfähigkeit. Gerade das Wissen um die Begrenztheit der
Mittel zwingt zu einer um so sorgfältigeren und abgestimmte-
ren Politik, zu einer Politik, die antizyklisch angelegt ist, zu einer Poli
tik, die Schwerpunkte setzt, zu einer Politik, die sich an den Proble- (C)
men orientiert und nicht so ein Sammelsurium von Forderungen
darstellt, wie es die zahlreichen Koalitionspapiere der letzten Tage
aufzeigen.
[Beifall bei der SPD]
Genau an diesen unabdingbaren Erfordernissen lassen Sie es
doch fehlen, wenn man es sich einmal genau durch den Kopf gehen
läßt, was Sie alles gesagt und geschrieben haben. Sie wissen so
gut wie wir, wie es tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Trotz
dem halten Sie in der Finanzplanung und in Ihren Koalitionspapie
ren doch wieder daran fest, auch in den nächsten Jahren weitere
Tausende Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abzubauen. Sie
verhalten sich dabei prozyklisch und verstärken die negativen Ten
denzen auf dem Berliner Arbeitsmarkt.
Vor einem halben Jahr habe ich Ihnen von dieser Stelle aus eine
ganze Reihe von möglichen Einsparungsmaßnahmen im öffent
lichen Dienst genannt Meine Fraktion hat diese Vorschläge aufge
nommen und Anträge während der Haushaltsberatungen gestellt
Sie hätten mit der Annahme dieser Vorschläge den gleichen Spar
effekt erzielt wie mit ihrer verhängnisvollen Stelienstreichungspoli-
tik. Sie haben aber immer wieder nein gesagt Sie wollen offensicht
lich lieber Stellenstreichungen anstelle eines einjährigen Beförde
rungsstopps. Sie wollen offensichtlich lieber Stellenstreichungen
anstelle einer Reduzierung der Nebentätigkeiten. Sie sind es, die
lieber Stellenstreichungen in Kauf nehmen, als verzerrte Stellen
gefüge im höheren Dienst abzubauen. Und Sie wollen lieber viel
mehr arbeitslose Hochschulabsolventen, als endlich einmal daran
zu denken, das Eingangsamt im höheren Dienst abzusenken.
[Beifall bei der SPD]
Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, daß dieser Senat - in
welcher Zusammensetzung auch immer - offenbar aus Angst vor
dem Beamtenbund lieber einer der größten Arbeitsplatzvernichter
in dieser Stadt ist, als angesichts der deprimierenden Situation auf
dem Arbeitsmarkt in verantwortungsvoller Weise überholte Struktu- (D)
ren im Besoldungs- und Dienstrecht endlich einmal zu reformieren.
[Beifall bei der SPD]
Ich komme nunmehr zu einem zweiten Komplex: In der mittelfristi
gen Finanzplanung ist eine erhebliche Drosselung der Steigerungs
raten für Sozial- und Jugendhilfeleistungen angekündigt. Dies ist
auch in den F.D.P./CDU-Koalitionspapieren vorgesehen, oder was
später zu diesen Papieren erklärt worden ist. Der gedankliche
Ansatz dabei ist klar; Abbau von Sozialhilfeleistungen nicht zuletzt
bei den Jugendlichen. Hierzu, meine Damen und Herren von der
alten und neuen Mehrheit, einige Anmerkungen: Erstens scheinen
Sie mir hier Ursache und Folgen verschiedener Miseren zu ver
wechseln. Für jemand wie Sie, für den die Haushaltssanierung das
A und O ist, kann ich es ja noch nachvollziehen, daß Sie einen
erhöhten Sozialhilfeleistungsbedarf als Ursache eines zu beseiti
genden Mißstandes ansehen. In Wahrheit sind aber doch Steige
rungsraten bei den Sozial- und Jugendhilfeleistungen zu einem
guten Teil die Folge der hohen Arbeitslosigkeit, und dies nicht zu
letzt bei den Jugendlichen. Für uns kann deshalb nur die Schlußfol
gerung sein: Eine Kürzung der Hilfeleistungen ohne Beseitigung
der Ursachen ist inhuman und unmoralisch. Das beste Mittel, die
Jugendhilfe und Sozialleistungen zu senken, ist eine aktive Arbeits
marktpolitik genau in diesem Problembereich.
[Beifall bei der SPD]
Zweitens argumentieren Sie , wenn es um den Abbau von Sozial
leistungen geht, gern mit dem Hinweis, daß Berlin keine wirtschafts
politische Insel sei. Das ist richtig, aber Berlin ist auch keine sozial
politische Insel. Die Palette der schon in Bonn beschlossenen
Abstriche am sozialen Netz treffen auch die Berliner Bevölkerung in
ihrer ganzen Härte. Wir wissen, daß weitere Einschnitte folgen wer
den. Sie kommen jetzt nun wieder mit Ihrem verhängnisvollen pro
zyklischen Verhalten auch auf diesem Gebiet, indem Sie kumulieren
und neben den bundesweiten Abbau an Sozialmaßnahmen zusätz
lich landeseigenen hinzufügen wollen. Ich sagen Ihnen: Nicht mit
uns!
[Beifall bei der SPD]
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