Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
42. Sitzung vom 17. März 1983
(A) Wendt (AL): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu
tige Senatsbildung bietet in der Tat keine wesentliche Überra
schung. Wer das politische Geschehen hier im Abgeordnetenhaus
in den vergangenen zwei Jahren beobachtet hat, der konnte die
heutige Koalitionsbildung vorhersehen. Offen war immer nur die
Frage, wann die Fraktionsmehrheit der F.D.P. die eigene Partei so
weit umgestaltet haben würde, daß diese Koalition noch möglich
wird. Eine inhaltliche Notwendigkeit besteht für diese Koalition
nicht Der nunmehr ehemalige Landesvorsitzende der F.D.P., der
Kollege Kunze, hat dies am vergangenen Wochenende klar ausge
drückt - ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten:
Das Wohl der Stadt fordert keine Senatsbeteiligung der F.D.P.;
auch nicht, um damit die parlamentarischen Schwächen, den
Mangel an eigenständiger und entschiedener Parlamentsarbeit
zu verdecken.
- Soweit der Kollege Kunze.
[Schmidt (AL): Recht hat er!]
Dennoch steckt in dieser Koalitionsbiidung natürlich eine politische
Absicht. Die Koalitionsbiidung in Bonn und in Berlin manifestiert
den Willen des konservativen Lagers, seine Kräfte zusammenzufas
sen, um in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaft
lichen Krise restaurativen Lösungskonzepten zum Durchbruch zu
verhelfen. Es geht darum, die etablierten Machtstrukturen über
diese Krise zu retten. Gekennzeichnet ist diese Krise durch stei
gende Arbeitslosenzahlen, eine immer schneller voranschreitende
Vernichtung unserer natürlichen Umwelt und die permanente Be
drohung durch die Hochrüstungspolitik der beiden Supermächte.
(B)
Entscheidend für die Entwicklung dieses Landes und dieser
Stadl wird es sein, wie die Menschen sich zu dieser strukturellen
Krise unserer Gesellschaft verhalten. Begreifen sie diese Krise als
Herausforderung, sind sie in der Lage zu erkennen, daß die über
kommenen Politikmuster uns eben in diese Krise geführt haben,
oder fürchten sie sich vor dem unbekannten Neuen, das notwen
digerweise hinter dieser Krise stehen muß, und flüchten sie sich
deshalb in die vermeintliche Sicherheit überkommener Denk
muster?
Die Bundestagswahlen vom 6. März lassen erkennen, daß es
eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt, die sich noch der gefähr
lichen Illusion hingibt, man könne sich aus dieser Krise in eine
Restauration alter Verhältnisse retten. Es kann nach den Wahlen
vom 6. März keine Zweifel daran geben, daß eine Mehrheit in der
Bevölkerung eher den politischen Kräften zuneigt, die auf die neuen
Probleme mit den alten Antworten reagiert, als den Kräften, die
diese Krise zum Anlaß nehmen, die bestehenden Politikkonzepte zu
hinterfragen.
Hoffnungen, die sich an die heute in Bonn und Berlin regierende
Mehrheit knüpfen, werden sich jedoch in Zukunft als gefährliche
Illusion erweisen. Diejenigen, die notwendigerweise die jetzt Regie
renden eines Tages ablösen, werden vor ungleich größeren Proble
men stehen, als wir sie heute vor uns haben. Ich will nur mit einem
kurzen Blick auf Bonn dies beschreiben:
Die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas wird schwieriger
werden nach einer Phase, in der die Herrschenden von „sogenann
ten Ostverträgen“ sprechen. Die Aussöhnung mit den Völkern der
unterentwickelt gehaltenen Länder wird schwieriger werden nach
einer Phase, in der die Herrschenden bei uns ihre Unterstützung für
diese Länder von politischem Wohlverhalten abhängig machen.
[Beifall bei der AL und von Abg. Dr. Meisner (SPD)]
Die Wiederherstellung natürlicher Umweltbedingungen wird
schwieriger werden, nachdem die heute Regierenden mit einer gan
zen Reihe weiterer Großprojekte für die fortschreitende Zerstörung
unserer Umwelt gesorgt haben. Und nicht zuletzt wird sich der
Kampf um humane Arbeitsbedingungen erschweren, wenn es den
heute Regierenden gelingen sollte, ihre Vorstellungen vom Verhält
nis zwischen Kapital und Arbeit durchzusetzen. Für unsere Stadt
stellt sich dies in ganz ähnlicher Weise dar wie für die Bundesrepu
blik als Ganzes.
Es wird ganz sicher eines Tages als makabre Nebenerscheinung
gewertet werden, wenn deutlich wird, daß eine solche Entwicklung
von einer Partei mit eingeleitet wurde, die einmal die Begriffe Tole
ranz und Liberalität auf ihre Fahnen geheftet hatte und die nicht ein
mal in der Lage ist, ihre parlamentarische Existenz aus eigener Kraft
zu sichern.
[Beifall bei der AL]
Der jetzige Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz hat
dies am vergangenen Sonnabend selbst formuliert - auch Herrn
Vetter möchte ich an dieser Stelle zitieren:
Ob es uns paßt oder nicht, wir müssen uns darüber im klaren
sein, daß die F.D.P. nicht allein wegen ihrer selbst gewählt
wurde, sondern vielmehr wegen ihrer Funktion im parlamenta
rischen Parteiengefüge.
- Soweit der jetzige Herr Senator, und nach meiner Meinung mit
einer richtigen Analyse. Doch auch wenn es die F.D.P. bei den ver
gangenen Bundestagswahlen noch einmal geschafft hat, in den
Deutschen Bundestag einzuziehen, gibt es Anzeichen dafür, daß
das politische Leben dieser Machterhaltungspartei sich dem Ende
zuneigt.
[Rasch (F.D.P.); Abwarten und Tee trinken! -
Eure Blütezeit ist vorbei!]
Die Landtagswahlen, Herr Rasch, in Schleswig-Holstein und Rhein
land-Pfalz beweisen, daß auf kommunaler und auf Landesebene
eine Funktionspartei wie die F.D.P. nicht länger erwünscht ist. Damit
jedoch verliert die F.D.P. einen wesentlichen Teil ihrer Attraktivität.
Sie hat auf unterer und mittlerer Ebene keine Karriere mehr anzubie
ten. Somit verliert sie ihr politisches Fundament.
[Schmidt (AL): Und Lambsdorff darf nicht
Wirtschaftsminister werden!]
Die deutsche Sozialdemokratie und mit ihr natürlich auch die Ber
liner SPD stehen wieder einmal vor einer Grundsatzentscheidung,
worüber auch die Ausführungen von Herrn Ulrich nicht hinwegtäu
schen können. Sie werden sich entscheiden müssen, Herr Ulrich
und Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, Sie werden
sich entscheiden müssen, ob Sie vordringlich die Menschen zu
rückgewinnen wollen, die sich bei den letzten Wahlen für konserva
tive Politikkonzepte entschieden haben, ober ob Sie in erster Linie
um die Menschen kämpfen wollen, die sich heute in einer neuen
politischen Kraft repräsentieren, nämlich in den Grünen und den
Alternativen.
[Maerz (SPD): Um beide!]
Eine Offensive in beide Richtungen ist notwendig zum Scheitern
verurteilt.
[Beifall bei der AL]
Die dumme Parole der Vergangenheit: „Wer grün wählt bringt die
Schwarzen an die Macht!“ hat bei den vergangenen Wahlen ihre
Untauglichkeit bewiesen. Die Sozialdemokratie wird auch auf lange
Sicht nicht allein dazu in der Lage sein, die Mehrheitsfähigkeit des
konservativen Lagers zu gefährden.
Die mit der heutigen Koalitionsbildung herbeigeführte Parteien
lage F.D.P. und CDU als Senatsparteien sowie SPD und Alternative
Liste in Opposition verlangen natürlich auch von den Oppositions
parteien eine klare Aussage darüber, wie sie spätestens vor den
nächsten Abgeordnetenhauswahlen mit dieser Konstellation um
gehen wollen. Ich sage dies auch im Bewußtsein dessen, daß
dieser Entscheidungsprozeß für uns selbst sehr schwierig werden
wird.
Die Tatsache, daß die Regierungsumbildung, die heute erfolgt ist,
fast in der Mitte der Legislaturperiode erfolgt, macht es möglich,
einen Blick sowohl in die bisherige Bilanz des Senats zu werfen, als
auch Prognosen über das anzustellen, was uns noch erwartet Es
ist festzustellen, daß dieser Senat stabiler ist als alle diejenigen er
wartet haben, die hofften, er würde in Einzelentscheidungen über
einen Restbestand an Liberalität in der F.D.P.-Fraktion stolpern kön
nen. Dennoch hat er in den konkreten Problemen dieser Stadt keine
Wendung zum Besseren herbeiführen können, im Gegenteil. Die
Arbeitsmarktlage in Berlin hat sich weiter verschlechtert. Sicher
kann man von einer Landesregierung nicht verlangen, daß sie in
einer Situation bundesweit steigender Arbeitslosenzahlen in Berlin
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