Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
33. Sitzung vom 8. Dezember 1982
Dr. Vogel
gelastet wurden - diese simplen Verfahren haben Sie und Ihr Vor
läufer, Herr Lummer, als Oppositionsführer in der Zeit unserer
Regierungsverantwortung praktiziert. Wir übernehmen dieses
simple Verfahren nicht. Wir haben von unserer Funktion und von
der Urteilsfähigkeit unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen eine zu
hohe Meinung, als das wir alles Positive als von uns beanspruchen
und alles Negative dem Senat oder Ihnen in die Schuhe schieben
wollen. Wir wissen auch, daß wichtige Ursachen dieser Entwick
lung nicht unter Ihrem Einfluß stehen, nicht unter unserem Einfluß
stehen, sondern in Bonn und im wesentlichen Umfang auch außer
halb unseres Landes liegen, ganz zu schweigen von der Verantwor
tung der Unternehmensleitungen und derer, die sonst in unserer
Wirtschaft das Sagen haben und unter deren Fehlentscheidungen
wir in Berlin in besondererWeise in ganz konkreten Fällen zu leiden
haben.
[Beifall bei der SPD]
Dennoch, meine Damen und Herren der Mehrheit, Sie und Ihr Senat
stehen immer stärker auf dem Prüfstand. Sie nähern sich der Halb
zeit Ihrer Amtsperiode. Die Zeit, in der Sie für alle Schwierigkeiten
angebliche oder wirkliche Fehler Ihrer Vorgänger verantwortlich
machen konnten, geht dem Ende zu. Auch der beliebte Hinweis auf
Bonn, auf die Bundesregierung, steht Ihnen nicht mehr so ohne
weiteres - und wie zu beobachten ist, vor allen Dingen nicht mehr
mit der alten Forschheit und Lautstärke - zur Verfügung. Öfter und
öfter, meine Damen und Herren der Mehrheit und des Senats, müs
sen Sie jetzt für eigene Versäumnisse, für Fehlentscheidungen und
vor allem für Unterlassungen geradestehen. Ihre Bilanz hat nicht
mehr den Charme der Eröffnungsbilanz vom Frühjahr 1981. Sie füllt
sich mehr und mehr mit Passivposten.
[Beifall bei der SPD]
Wir achten Sie, Herr Regierender Bürgermeister, unverändert als
Person. Wir schätzen Sie als einen würdigen Repräsentanten
unserer Stadt.
[Beifall bei der CDU und des Abg. Swinne (F.D.P.)]
Dabei treten Sie außerhalb Berlins gelegentlich noch offener, noch
liberaler, noch überparteilicher als in Berlin auf. Da sagten Sie doch
beispielsweise im Frühjahr vor der Robert-Bosch-Stiftung in Stutt
gart, es verdichte sich der Eindruck, daß anders als in den angel
sächsischen Ländern bei uns die Opposition immer mehr als etwas
geradezu Unanständiges hingestellt werde. Genau an diesem
Punkt, so fuhren Sie fort, sei für die Parteienlandschaft durch die
Alternativen eine Art notwendiger Erfrischung eingetreten. Das ist
eine Bemerkung, die ich in dieser Unbefangenheit bei der Betrach
tung der jüngsten Entwicklung der sogenannten Gewaltdiskussion
in der AL wahrscheinlich gar nicht machen würde.
[Beifall bei der SPD]
Sie finden da übrigens in Stuttgart auch bemerkenswerte Worte
über die Hausbesetzer: Die Vertagung wichtiger Probleme durch
die großen Parteien auf später, so sagten Sie - und unter großen
Parteien war Ihre eigene sicherlich eingeschlossen, Sie meinten
sicher nicht nur uns -, habe sehr oft dumpfe Angst zur Folge.
Hier stimme ich zu. Dann fuhren Sie fort: Hausbesetzer hätten
daher auch Erfrischendes und Ermutigendes an sich. Das sei der
Kampf des frechen David gegen den etablierten Goliath, und, uner
freuliche Auswüchse ausgenommen, werde etwas Positives sicht
bar.
[Dr. v. Weizsäcker, Regierender Bürgermeister; Das ist ein Zitat
in meiner Rede gewesen, das stammt nicht von mir!]
- Ich danke für diese Mitteilung.
[Beifall bei der CDU]
Aber der Gesamtzusammenhang macht deutlich, daß Sie sich mit
diesem Zitat identifiziert haben,
[Beifall bei der SPD]
daß das Ihre Meinung wiedergibt. Im übrigen zitiere ich nur das,
was Sie auch zitiert haben: Werde etwas Positives sichtbar, daß
sich die Kraft des Menschen nicht habe abstumpfen lassen.
Ob das mit dem etablierten Goliath und dem David und der erfri
schenden Wirkung der Hausbesetzer die hinteren Reihen Ihrer
Fraktion auch so sehen und ob Herr Lummer, der leider abwesend (C)
ist, sich als etablierter Goliath versteht? Es darf daraus durchaus
eine Frage gemacht werden.
[Beifall bei der SPD]
Aber auch hier in Berlin, Herr Regierender Bürgermeister, sagen
Sie mitunter Mutiges. Sätze wie - und jetzt folgt ein wörtliches
Zitat -: Heute aber erkennen wir alle miteinander, daß unsere tech
nischen Fähigkeiten sich schneller entwickelt haben als unsere
Kraft, sie ethisch, sozial und politisch zu bewältigen. Wir müssen
miteinander lernen, nicht von der Technik beherrscht zu werden,
sondern unsererseits die Technik zu beherrschen. - Ich kann nur
sagen: sehr wahr. Oder, das Gefühl, daß der Aufwand für Waffen
steigt, während die Sicherheit dadurch eher abnimmt, sei heute
keineswegs nur bei jüngeren Menschen verbreitet
Herr Regierender Bürgermeister, solche Sätze würden Sie in
Bayern schon bedenklich in die Nähe des rot-grünen Chaos rücken,
[Beifall bei der SPD]
vor dem Ihr Parteifreund Strauß so nachdrücklich warnt Wenn ich
die Berichte verfolge, dann will gerade vor solchen Erscheinungen,
vor so gefährlichen Sätzen, Herr Strauß Deutschland einschließlich
des Landes Berlin retten. Wahrscheinlich würde er die Union, wenn
er nur könnte, am allerliebsten auch gleich vor Leuten wie Ihnen und
Ihren Freunden retten; das wäre dann eine Tat.
Aber, Herr von Weizsäcker, das genügt nicht Sie müssen sich
fragen lassen, was Sie getan haben, was Sie bewirkt haben. Sie
können zum Zustand der Stadt nicht mehr lange auf einer duchaus
sichtbaren Distanz bleiben. Es genügt nicht, den Zustand der Stadt
zu erklären. Sie müssen ihn verändern, das haben Sie vor der Wahl
versprochen, mit Ihrem Wort von dfer Wende.
Lassen Sie mich mit dem Gebiet beginnen, auf dem wir am ehe
sten übereinstimmen, mit der Berlin- und der Deutschlandpolitik.
Was Sie da sagen, haben wir nicht zu kritisieren. In den allermeisten
Fällen treten wir ausdrücklich bei. Ich frage aber den Senat und
auch Sie, wo bleiben die konkreten Impulse? Sind die S-Bahn-
Gespräche mit der anderen Seite in Gang gekommen? Wie steht (p^
es mit Sondierungen über die Elektrifizierung einer der Bahn
strecken nach West-Deutschland? Wie weit ist das Gewässer
schutzabkommen? Wird über das Kulturabkommen geredet?
Natürlich ist für vieles primär der Bund zuständig. Aber drängen Sie
beim Bund, machen Sie Vorschläge? Wir haben nichts dagegen,
wenn sich Herr Barzel unter den Linden in der Nähe des Denkmals
Friedrichs des Großen fotografieren läßt. Und wir haben noch weni
ger dagegen, wenn Herr Jenninger in einem Anflug von Bekenner
mut im Zusammenhang mit seinem Besuch all die früheren For
derungen aus der Union, die kritisch in unsere Richtung erhoben
worden sind, fallenläßt und etwa dem Junktim widerspricht, das er
zu unserer Zeit für die Union ausdrücklich verlangt hat. Das ist
erfreulich, und das eröffnet die Aussicht, daß die deutsch-deutsche
Politik aus dem Parteienstreit heraustritt, daß sie nicht mehr ein
Zankapfel unserer Politik ist, sondern daß sie gemeinsam getragen
wird auf der Grundlage der sozialliberalen Politik der letzten drei
zehn Jahre. Das ist zu begrüßen.
[Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Kunze (F.D.P.)]
Aber weder Fototermine noch der Verzicht auf frühere Bedenken,
die Herrn Jenninger übrigens schon Kritik aus der südlichen Rich
tung, von Herrn Lindert, eingetragen hat, sind eine konkrete Fort
setzung der Berlin- und Deutschlandpolitik.
Wir unterstützen Sie, wenn Sie immer wieder die Rückgängig
machung der Erhöhung und Ausweitung des Zwangsumtausches
fordern. Aber das allein ist auch noch keine politische Perspektive.
Warum knüpfen wir nicht stärker an die gemeinschaftliche Ge
schichte an? Berlin wird 1987 750 Jahre alt. Das ist das Jubiläum
der ganzen Stadt. Warum ergreifen wir nicht die Initiative, damit aus
diesem Anlaß nicht nur Trennendes, sondern auch Gemeinsames
sichtbar wird?
[Beifall bei der SPD]
Was wollen wir zum Luther-Jahr beitragen? Gerade in der Besin
nung auf Martin Luther personifiziert sich doch die fortbestehende
Geschichtsgemeinschaft. Gerade bei ihm als dem Schöpfer der
2041