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Volume Nr. 37, 20. Januar 1983

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1982/83, 9. Wahlperiode, Band III, 33.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
37. Sitzung vom 20. Januar 1983 
Rabatsch 
es eine internationale Klassifikation der psychiatrischen Krankhei 
ten gibt und im Bereich der nicht psychiotischen psychischen Stö 
rungen - und diesen Begriff hat die SPD bis auf diesen einen Teil 
„psychische Störungen“ übernommen, indem sie sagt, daß auch 
Menschen mit psychiotischen Störungen unter dieses Gesetz fie 
len; ich möchte einige Diagnosen hier einmal zitieren, um klar zu 
machen, was eigentlich Frau Reichel-Koß gemeint haben muß, 
wenn sie gesagt hat, daß sich eigentlich jeder die Frage stellen 
müßte, ob er nicht einmal von einer psychischen Störung betroffen 
sein könne, ob nicht also in der Schlußfolgerung die Anwendung 
dieses Gesetzes auch auf jeden von uns zutreffen könnte. Da heißt 
es hier - diese Klassifikation ist in ein Positionssystem aufgeglie 
dert - unter der Position 301 - Persönlichkeitsstörungen Erreg 
bare Persönlichkeit, hysterische Persönlichkeit, Persönlichkeitsstö 
rung mit vorwiegend soziopathischem oder asozialem Verhalten; im 
Komplex der Position 302 - Sexuelle Verhaltensabweichungen und 
-Störungen - können wir lesen; Störungen der psycho-sexuellen 
Identität, andere sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen, 
Homosexualität, Transvestitismus, nicht näher bezeichnete sexuelle 
Verhaltensabweichungen und -Störungen; in der Position 305 
- Drogen- und Medikamentenmißbrauch ohne Abhängigkeit - 
finden wir die Diagnose: Mißbrauch von Antidepressiva. Das 
scheint mir noch eine besondere Spezialität zu sein, denn die Fach 
leute - natürlich insbesondere die Psychiater - wissen, daß gerade 
bei Depressionen verschiedene Pharmaka angewandt werden, die 
Antidepressiva sind, um die Depressiva zu beeinflussen. 
Das sind jetzt nur mal einige Hinweise auf die Komplexität und 
Problematik zum Beispiel der Position, daß ein Patient Anspruch 
auf Behandlung habe. Da stellt sich nämlich bereits die Frage: Auf 
welche Behandlung und wie wird heute in der Psychiatrie in den 
Kliniken behandelt? 
Unter der Position 309 - Psychogene Reaktionen (Anpassungs 
störung) - lesen wir: Anpassungsstörungen mit vorwiegend emo 
tionaler Symptomatik, Anpassungsstörungen vorwiegend im Sozial 
verhalten, andere Anpassungsstörungen, nicht näher bezeichnete 
Anpassungsstörungen; unter der Position 312 steht: Anderweitig 
nicht klassifizierbare Störungen des Sozialverhaltens. - Was ist 
nicht alles „Sozialverhalten“? Alles ist Sozialverhalten, was wir tun 
im Umgang der Menschen miteinander, im Umgang von Menschen 
mit ihren Umweltsituationen, im Umgang von Menschen mit poli 
tischen Bedingtheiten, wie wir sie hier in der Gesellschaft vorfin 
den. Das wird darunter zusammengefaßt und subsumiert. Da heißt 
es dann; Störungen des Sozialverhaltens mit emotionaler Sympto 
matik, andere Störungen des Sozialverhaltens. 
Das soll erst einmal genügen, um klarzumachen, welche Bedeu 
tung die Ausweitung der Definition im § 2 des SPD-Entwurfs 
bedeutet, wenn man nämlich weiß, was diese hier von mir in Auszü 
gen zitierte internationale Klassifikation in den sozialpsychiatri 
schen Diensten, in den Krankengeschichten und in den Briefen der 
Arzte in den Anstalten Anwendung findet. Bedeutet diese Auswei 
tung bis hin zu den nicht psychiotischen Störungen nicht die Tat 
sache, daß eine Möglichkeit geschaffen wird der prinzipiellen An 
wendung dieses Gesetzes auf jeden Menschen, und daß damit 
auch die Frage geklärt werden muß, ob diese Anwendung dann 
nicht auch alle jene negativen Seiten enthält, die seit Jahren in der 
Kritik an der herrschenden Psychiatrieversorgung in der Diskussion 
um eine Reform der psychiatrischen Versorgung in der Folge der 
Vorschläge, die in der Psychiatrie-Enquete gemacht wurden, 
geäußert werden, ob damit nicht eine so weitgehende Ausweitung 
auf jeden Menschen möglich ist, daß die Position, man müsse sehr 
vorsichtig sein mit der Anwendung dieses Gesetzes, man müsse 
sehr vorsichtig sein mit der Anwendung von Zwang, überhaupt 
keine Bedeutung mehr hat, wenn man das auf die herrschende 
Praxis tatsächlich bezieht? 
Der zweite Punkt, den ich nennen möchte, bezieht sich auf die 
Frage der Funktion und Rolle der Psychiater im ambulanten und sta 
tionären Bereich. Wir haben zu konstatieren, und jeder Mitarbeiter 
im sozialpsychiatrischen Dienst, jeder Mitarbeiter in den Kliniken, 
aber auch jeder Betroffene weiß das, das geht von der Definition 
aus, wer psychisch krank ist, geht hin zur Definition, warum eine 
Zwangsunterbringung notwendig ist, und endet bei der Definition, 
warum, unter welchen Bedingungen, mit welchen Mitteln eine Be 
handlung in der Anstalt notwendig ist. Überall, in all diesen drei Be- (C) 
reichen, die ich jetzt mal so analytisch trenne, besteht das Primat 
der ärztlichen Entscheidungskompetenz, besteht das Primat der 
medizinischen Definitionsmacht. Aber die medizinische Dimension 
bleibt für den Unterzubringenden und die vom Unterbringungsver 
fahren Betroffenen völlig im Dunkeln, wenn man sich ansieht, wie 
heute die Unterbringungspraxis aussieht: Einerseits die Definitions 
macht des Arztes und andererseits aber der vorhin von mir schon 
angedeutete Widerspruch in den Auffassungen darüber, woher die 
psychische Krankheit kommt, d.h., die Berechtigung des Primates 
der absoluten Definitionsgewalt des Psychiaters vor dem Hinter 
grund, daß es unterschiedliche Auffassungen und Lehrmeinungen 
innerhalb der Psychiatrie darüber gibt, ob eine Krankheit aus dem 
Entstehungsprozeß eines krankhaften biologischen Prozesses her 
aus zu erklären ist, welchen Einfluß die sozialen Lebensumstände 
haben, wie sich psychische oder als psychiatrisch definierte Kon 
fliktlagen aus der Gesamtheit sozial-struktureller Bedingungen und 
dem lebensgeschichtlichen Entwicklungsprozeß des einzelnen 
Menschen heraus erklären lassen. 
Wenn wir uns jetzt den Entwurf der SPD ansehen und bei den 
einzelnen Teilen danach fragen, wie dieses Primat des ärztlichen 
Gutachtens oder der Definitionsgewait sich niederschlägt, so muß 
man sagen von einem Paragraphen zum nächsten, von § 7, wo der 
Antrag durch das Gesundheitsamt gestellt werden kann, über den 
§ 8, wo die Beteiligten genannt sind und der Amtsarzt oder der 
Psychiater des sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheits 
amtes, über § 10 der mündlichen Verhandlung, wo die Formel 
auftaucht, die wieder etwas mit der Diagnose zu tun hat, daß auf 
eine mündliche Beteiligung, auf eine mündliche Verhandlung ver 
zichtetwerden kann bzw. die Belastung in der mündlichen Verhand 
lung für den Betroffenen mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszu 
stand nur geschaffen werden darf, oder über § 11, bei der Frage 
der Anhörung der Betroffenen, die immer nur im Beisein des Sach 
verständigen, also des Psychiaters erfolgt, oder über § 13, wo die 
Anhörung der ärztlichen Sachverständigen geregelt ist, wo bereits 
enthalten ist, falls der Betroffene schon untergebracht ist, daß der 
Anstaltsleiter in diesem Fall als ärztlicher Sachverständiger gehört (D) 
werden muß, oder über § 16, das sofortige Beschwerderecht, falls 
eine Unterbringung vom Gericht abgelehnt werden sollte - hier ist 
wieder der Amtsarzt, der Psychiater des Gesundheitsamtes der Ent 
scheidende, der im Mittelpunkt steht, zu diagnostizieren und zu ent 
scheiden, was hier eigentlich in der Definition an psychischen Stö 
rungen und Erkrankungen oder Gefährdungen des eigenen Lebens 
des Betroffenen oder von anderen vorliegt; oder § 17, die Entschei 
dung über die Fortdauer der Unterbringung, oder § 18, die 
Aufhebung des Unterbringungsbeschlusses, gleichzeitig aber die 
Nennung, wann über die Fortdauer entschieden werden kann - hier 
steht überall der Psychiater, der ärztliche Sachverständige im Mittel 
punkt! Und es ist festzustellen - Frau Reichel hat ja darauf hinge 
wiesen -, daß die Richter und die Gerichte natürlich nicht entschei 
den können aufgrund der Struktur jetzt, daß sie gar nicht beteiligt 
sind an dem Prozeß bis hin zur Unterbringung, sondern daß sie mit 
ärztlichen Gutachten konfrontiert werden, im besten Fall durch die 
Anhörung des persönlich anwesenden Betroffenen, daß sie nicht 
beurteilen können, was da an Problematik vorliegt, sondern in ab 
soluter Abhängigkeit vom Arzt stehen. Die Struktur schreibt das 
fest, und diese Abhängigkeit besteht natürlich für den Betroffenen 
um so mehr. 
Der darauf folgende Teil der besonderen Arten der Unterbrin 
gung ist die Legalisierung des heutigen Schnellverfahrens; das 
heutige Schnellverfahren der Berliner Unterbringungspraxis ist das 
am meisten angewandte Verfahren, wo die Unterbringung geregelt 
wird. Diese Positionen der vorläufigen Unterbringung setzen dann 
wiederum Paragraphen, die gewisse Rechte der Betroffenen 
regeln, wie die §§ 8 bis 12, die ich eben genannt hatte, oder den 
§ 16 wieder außer Kraft. Damit wird eigentlich nichts anderes getan, 
als die jetzige Praxis zu zementieren. 
Dieser Gesetzentwurf schafft und regelt ein Unterbringungsver 
fahren, bei dem die bereits jetzt vorhanden absolute und unange 
fochtene Definitionsgewalt der Psychiater rechtlich, gesetzlich, ver 
fahrensrechtlich legitimiert wird, und steht in keiner Weise in 
irgendeinem Zusammenhang mit der Reformdiskussion, die seit 
Jahren geführt wird. 
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