Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
53. Sitzung vom 24. November 1983
(A) Als drittes und letztes: Solch eine ökologische und so
ziale regionale Entwicklungsplanung muß eingebettet sein
in eine aufeinander abgestimmte Entwicklungs- und Struk
turpolitik der gesamten Bundesrepublik. Aufgrund des
umfangreichen Warenaustausches ist eine andere Per
spektive überhaupt nicht denkbar. Dies alles aber, meine
Damen und Herren, wird sich langfristig nur durchsetzen
lassen,
[Glocke des Präsidenten — Unruhe]
wenn die Mitglieder dieser Gesellschaftsordnung den Mut
aufbringen, über die Grenzen des bestehenden gesell
schaftlichen Systems hinauszudenken und daraus die ent
sprechenden politischen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Und damit die politische Entwicklung einmal in eine sol
che Richtung geht, dafür haben wir die AL und die Grü
nen aufgebaut.
[Beifall bei der AL]
Präsident Rebsch: Das Wort hat nunmehr der Abgeord
nete Dr. Kunze.
Dr. Kunze (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich gestehe, daß ich — was nicht allzu häufig vor
kommt — in gewisser Weise ratlos bin, wie ich mich jetzt
vernünftig in den Verlauf der Debatte einsortieren soll.
Ich kann so tun, als ob es die Debatte gar nicht gäbe, und
das reden, was ich für wichtig halte; ich kann eingehen
auf' Vorredner und Senat, auf die vielen Vorredner, das
fällt mir aber wieder recht schwer, weil ich nur soviel mit
bekommen habe aus dem, was vorgetragen wurde: Der
(B) Herr Senator Pieroth hat Tatsachen vorgetragen, die ich
zunächst einmal glaube, weil er ja wahrscheinlich die
Wahrheit sagt. Dann hat der Kollege Wagner über die
gleichen Probleme Tatsachen vorgetragen, die waren zu
einem erheblichen Teil entgegengesetzt. Nun nehme ich
auch nicht an, daß der Herr Wagner die Unwahrheit sagt.
Nur frage ich mich jetzt, was soll ich eigentlich diskutie
ren: Soll ich sagen: Einmal hat der recht und einmal hat
der recht, — und dann im Zufallsverfahren auswählen?
Das geht nicht! Ich denke mir, daß der Herr Wirtschafts
senator doch nun noch die Punkte, an denen seine Tat
sachenaussagen in der Antwort auf die Anfrage und die
Tatsachenaussagen von Herrn Wagner auseinanderklaffen,
ein bißchen aufklärt. Weswegen machen wir denn sonst
diese ganze Veranstaltung?
Beispiel: Roboter-Technik, VW, Roboter-Fertigung nach
Berlin verlagern. Das ist das einfachste Beispiel; das
konnte man bei beiden noch halbwegs schnell verstehen
und sich auch merken. Die anderen Geschichten waren ja
sehr viel mehr ineinander verschoben, so daß man nicht
ohne weiteres das auf einen Begriff bringen kann. Da gibt
es eine klare Differenz: Herr Senator Pieroth hat mitge
teilt, neu und kräftig bestätigt, die Roboter-Fertigung wird
nach Berlin verlagert. Und Herr Wagner sagt, er sei vo
rige Woche beim Vorstand von VW gewesen, und da sei
ihm das Gegenteil gesagt worden. — Wenn also diese
Debatte einen Sinn haben soll, dann darf man ja wohl an
diesem Punkt nicht aufhören. Es muß hier ein Stück Klä
rung hereingebracht werden.
[Beifall bei der AL]
Das war einer der wenigen Punkte, die ich jetzt benen
nen kann. Die anderen Punkte, in denen es Differenzen
gibt in den Tatsachenbehauptungen, müßten die beiden
direkten Kontrahenten dieser Debatte selbst am besten
ausmachen können. Dies müßte hier noch weiter geklärt
werden. Sonst könnte man ja diese Adressen demnächst (C)
schriftlich austauschen und die, die dann daneben stehen
mit sehr unterschiedlichen Sichtweisen — also Kollege
Köppl oder ich —, die ersparen sich dann eine vergleichs
weise schwierige Situation.
Ich will etwas zur Sache sagen: Daß die Industriean-
siedlung in Berlin notwendig ist und daß der volle wirt
schaftspolitische Einsatz dafür nötig ist, ist bei der gro
ßen Mehrheit des Hauses unstreitig. Das will ich hier
nicht erneut bekräftigen und unterstreichen. Inwieweit es
gelingt, durch die Ansiedlung von auswärtigen Unterneh
men in Berlin, durch Neuansiedlung von industrieller Pro
duktion, von Industrieunternehmen in der Stadt tatsächlich
die Frage nach den Arbeitsplätzen für die in Berlin Leben
den zu lösen, versehe ich mit einem Fragezeichen. Wir
haben ja als Bilanz der Entwicklung seit dem letzten
Dezember 1982 hier eine klare Zahl gehört: Seit dem Ge
spräch des Bundeskanzlers hier in Berlin hat die Zahl der
Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe bis September
um rd. 4 000 erneut abgenommen. Dies ist als Bilanz des
wirtschaftlichen Verlaufs, soweit es um die Beschäftigung
geht, erst einmal als Tatsache festzuhalten.
Nun kann man sagen, die Verhältnisse sind insgesamt
schlimm, und woanders ist es noch schlimmer. Aber man
kann nun nicht sagen, daß minus positiv ist. Das kann
man nicht sagen! Ich würde sonst allen dringend empfeh
len, um die wirtschaftspolitischen Debatten in Zukunft füh
ren zu können, sich noch einmal Orwells „1984“ anzu
sehen. Dort ist die sogenannte „Neusprache“ erfunden;
diese „Neusprache“ hat die vorzügliche Eigenschaft, daß
sie beliebig positiv und negativ, negativ und positiv aus
tauschen kann. Ich schätze dieses eigentlich nicht! Des
wegen muß man ein negatives Vorzeichen bei der Ent
wicklung der Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe
auch weiterhin ein negatives Vorzeichen nennen, und man (p)
darf nicht durch die Hinzunahme — für Mathematiker —
der zweiten Ableitung der Veränderung in der Zeit aus
einer etwas geringeren Minuszahl nun plötzlich einen Auf
schwung machen.
[Beifall bei der SPD und der AL — Boehm (CDU):
Lieber Professor! Früher haben Sie es
anders gesagt!]
Sie haben diese Umdeutungen nicht sehr kräftig ausge
sprochen, aber so ganz frei davon war die Sichtweise
nicht. Eigentlich ist der Tatbestand unstreitig so zu be
zeichnen: Die Abwärtsentwicklung bei den industriellen
Arbeitsplätzen hat sich bisher fortgesetzt, aber sie hat
sich nicht mehr beschleunigt, sondern sie hat sich etwas
verlangsamt. Ober diesen Tatbestand kann man sich einig
sein.
[Boehm (CDU): Das haben Sie früher immer als
höchst positiv herausgestellt!]
— Ich habe als höchst positiv herausgestellt, Herr Kollege
Boehm, daß im Jahr 1979, 1978 eine praktische Stabilisie
rung der industriellen Arbeitsplätze erreicht schien. Wir
wissen jetzt, daß in 1980, 1981, 1982 sich die Entwicklung
wieder ungünstiger dargestellt hat. Wie ich das nun im
mer dargestellt hätte, darüber brauchen wir uns nun nicht
auseinanderzusetzen; wir können uns heute gemeinsam
fragen, wie die Sachverhalte sind.
Ich schließe aus dieser Situation — und das scheint mir
doch eine wirtschaftspolitisch notwendige Anmerkung zu
sein —, daß das einseitige Setzen auf eine Lösung der
Beschäftigungsprobleme in Berlin durch Ansiedlung neuer
Betriebe, die aus Westdeutschland kommen, von Siemens,
VEBA usw., nicht ausreichen wird.
[Beifall bei der SPD]
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