Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
53. Sitzung vom 24. November 1983
Maerz
(A) tagsüber und sollen sich wohl und geborgen fühlen. Sie
müssen den Erfordernissen einer kompensatorischen Er
ziehung und Bildung im Sinne der Überwindung von
milieubedingten Benachteiligungen genügen. Die Kinder
tagesstätte soll ein Beitrag zur Erziehung des Kindes zu
einer eigenständigen kritikfähigen Persönlichkeit leisten
und die Erziehung der Eltern sinnvoll ergänzen.
Wir fordern die CDU-Fraktion aus Anlaß dieser Aktuel
len Stunde und auch Sie, Frau Senatorin, dazu auf, ein
klares Bekenntnis zu diesen Grundsätzen hier abzugeben
und Ihre praktische Politik darauf abzustellen. Der Ab
bau der Warteliste hat Vorrang. Nehmen Sie die Ängste
und Sorgen von den Eltern und den Mitarbeitern, die Ihre
Politik verursacht hat, dadaurch, daß Sie sich dazu be
kennen, die Kindertagesstätte als kostenfreie Bildungs
einrichtung anzuerkennen, weg.
Unser Dank gilt denen, die trotz der erschwerten Be
dingungen durch die CDU-Politik in der Kindertages
stätte versuchen, ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu
werden, nämlich den Erziehern und den Sozialarbeitern.
[Buwitt (CDU): Heuchler! — Preuss (CDU):
Heuchlerische Polemik!]
Und, Herr Kollege Preuss, unser Dank gilt insbesondere
unserer Fraktionskollegin und ehemaligen Senatorin für
den Bereich Familie, Jugend und Sport, die damals in
auch nicht einfachen finanziellen Zeiten, oft gegen den
Willen des damaligen Finanzsenators, sich für den Aus
bau der Kindertagesstätten eingesetzt hat. Dieser Dank,
liebe Ilse Reichel, geht speziell an dich!
[Beifall bei der SPD]
(B) Präsident Rebsch: Das Wort hat nunmehr der Abge
ordnete Tietz für die Fraktion der Alternativen Liste.
Tietz (AL): Meine Damen und Herren! Drei Vorbemer
kungen zu dieser heutigen Aktuellen Stunde; Ich meine,
daß diese Aktuelle Stunde, von dieser CDU-Fraktion
beantragt, im Grunde genommen ein billiger Versuch ist,
Regierungspropaganda zu machen, um von der Wirklich
keit abzulenken. Und wenn dann hier der Herr Preuss
sagt, daß hier angeheizt wird, wenn die Proteste von
Eltern und Erziehern erwähnt werden, dann muß auch
das zurückgewiesen werden.
[Beifall bei der AL]
Meine dritte Vorbemerkung: Wenn Sie, Herr Preuss, hier
sagen, es werden Kinder auf die Straße gezerrt, dann
finde ich das unerhört! Denn wenn Eltern mit ihren Kin
dern zusammen auf die Straße als die Betroffenen gehen,
dann ist das das Recht der Eltern, das deutlich zu machen.
Die Kinder und die Eltern sind die Betroffenen, das ist
ihr Demonstrationsrecht. Da haben Sie nicht davon zu
reden, daß man Kinder auf die Straße zerrt, das müssen
Sie hier zurücknehmen.
[Preuss (CDU): Aber nicht, wenn die Erzieher
die Kinder auf die Straße zerren! — Zuruf
von der CDU — Wachsmuth (AL): Immer
diese doppelte Moral von Ihnen!]
Präsident Rebsch: Meine Damen und Herren, ich bitte
um Ruhe für den Redner!
Tietz (AL): Nun komme ich zur Wirklichkeit und zur
Situation in den Kindertagesstätten. Nach meinen Infor
mationen von Eltern und Erziehern und entsprechenden (C)
Fachleuten sieht die Wirklichkeit wesentlich anders aus,
als hier der Senat und die CDU-Fraktion versuchen, deut
lich zu machen. Das ist eindeutig eine Augenwischerei
gegenüber den Eltern und Erziehern und eine Ver
schleierung der Wirklichkeit.
Ich will dazu folgendes Beispiel aufführen: Die Situation
in den Kindertagesstätten ist täglich so, daß zum Bei
spiel Gruppenzusammenlegungen stattfinden müssen,
weil ab 14 Uhr das Personal nicht ausreicht. So kommen
praktisch 30 bis 40 Kinder auf einen Erzieher. Bei Krank
heit eines Erziehers findet diese Zusammenlegung den
ganzen Tag über statt. Man muß sich einmal vorstellen,
was das für Kinder und Erzieher bedeutet. Das zweite
Beispiel: Die erforderlichen Vertretungsmittel der Be
zirke sind vollkommen unzureichend. In Kreuzberg sind
diese Vertretungsmittel ab März beispielsweise ausge
schöpft, so daß es keine Möglichkeiten gibt, Vertretun
gen in die Kindertagesstätten zu schicken und damit für
die entsprechende pädagogische Versorgung zu sorgen.
Ein drittes Beispiel: Insgesamt haben sich die Stellen
streichungen katastrophal ausgewirkt. Die 3,5prozentige
Streichung für 1983, die aufgrund der Entscheidung des
Innensenators die Streichung von 164 Erzieherstellen zur
Folge hatte, hat sich so ausgewirkt, daß es den Erziehern
kaum noch möglich ist, die notwendige Zeit für Eltern
abende, für Elternberatung, für Fortbildungsveranstal
tungen zu finden. Wenn Erzieherinnen schwanger werden
und Mutterschaftsurlaub erhalten — überall fehlt Personal,
die Verhältnisse in den Kindertagesstätten sind entspre
chend katastrophal und unmöglich. Hinzu kommt, daß es
keine Zeit für Dienstbesprechungen oder Anleitung für
Praktikanten gibt. Die vom Senat beschlossenen 1000
ABM-Stellen, die zum Teil in den Kindertagesstätten
untergebracht sind, stellen noch eine besondere Proble
matik dar; angesichts der geschilderten Lage kann sich
kein Erzieher um diese Jugendlichen kümmern. Dies
wäre aber notwendig, denn es soll der Versuch gemacht
werden, diese Jugendlichen in den Arbeitsprozeß zu
integrieren. Man kann schon heute sagen, daß dieses
Programm gescheitert ist. Insgesamt muß man feststel
len, daß die Überlastung der Erzieher eine Verschlechte
rung der pädagogischen Arbeit bedeutet, die sich auf die
Betroffenen — hier also die Kinder und die Eltern — aus
wirkt.
Ich möchte noch ein besonderes Problem erwähnen,
das mir aus den Kindertagesstätten berichtet wurde. Es
gibt eine Reihe von älteren Erziehern, die diesen Be
lastungen überhaupt nicht mehr gewachsen sind. Sie
können nicht mehr für die pädagogische Arbeit eingesetzt
werden, sie sind nur noch als Hilfskräfte für Nähen und
Abwaschen tätig.
Gegen diese Zustände gibt es eine Reihe von Pro
testen der Eltern, Protestschreiben insbesondere von den
Bezirkselternausschüssen Neukölln, Steglitz und Kreuz
berg. Dabei fällt uns auf, daß die Senatsfachverwaltung
gegen die Personalkürzungen insgesamt auftritt, aber
Sie, Herr Lummer, offensichtlich für die Personaleinspa
rungen sind, wie man an diesem Brief sehen konnte. Sie
erkennen nicht, daß hier an der falschen Stelle gespart
wird, denn ich glaube nicht, daß Sie jemals in Ihrem
Leben in einer Kindertagesstätte waren, geschweige
denn über die Verhältnisse Bescheid wissen. Nicht zuletzt
kommen deshalb heute Eltern aus Kreuzberg und stellen
folgende Forderungen an diesen Senator:
1. Machen Sie die 3,5prozentige Kürzung des Personals
im Kindertagesstättenbereich sofort und unverzüglich
rückgängig.
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