Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
52. Sitzung vom 10. November 1983
Stellv. Präsidentin Wichatzek
(A) Bitte schön, Herr Kollege, fahren Sie fort.
Behr (AL): Frau Laurien geht es in ihrer Äußerung um
Lehrer, die Fehler begangen haben. Ich möchte überhaupt
nicht bestreiten, daß von Lehrern pädagogische Fehler
auch in der Friedenswoche begangen worden sind. Es sind
sicherlich solche pädagogischen Fehler vorgekommen,
aber gerade Lehrer, die diese Fehler begangen haben,
haben meine Solidarität aus folgendem Grunde: Ich glau
be, Sie können sich gar nicht in die Situation solcher Men
schen versetzen, die — und ich verwende selten solche
harten Worte — doch aus einem Bewußtsein der Ver
zweiflung heraus handeln, aus der Angst heraus, daß
Europa in einen Aschehaufen verwandelt wird, und aus
dieser Verzweiflung heraus vielleicht den einen oder an
deren Fehler im Umgang mit den Schülern begangen ha
ben. Ich stelle mich hinter diese Lehrer, ich sage aber:
Wenn sie pädagogische Fehler begangen haben, müssen
diese pädagogischen Fehler mit den Lehrern diskutiert
werden, selbstverständlich, und zwar hart diskutiert wer
den. Dazu haben wir ein Berliner Schulgesetz, das so et
was vorsieht.
Ich möchte ein ganz anderes Beispiel anführen, und
zwar nehme ich jetzt bewußt ein Beispiel, das sich nicht
mit der Friedensbewegung beschäftigt; Vor längeren Jah
ren war an meiner Schule einmal ein erbitterter Streit; da
mals wurde eine Feier veranstaltet zum Gedenken an den
17. Juni; die Feier wurde veranstaltet von einer Lehrerin,
die älteren CDU-Abgeordneten noch gut bekannt sein
dürfte aus der Synode und der Arbeit der CDU, Helene
Borgmann. Diese Feier wurde so veranstaltet, daß zu
nächst ein Film über den 17. Juni gezeigt wurde, und da
nach wurde gesungen „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Ich persönlich empfand dies als eine Indoktrination, als
eine Mischung von Religion und Politik. Was aber jetzt
wichtig ist: Frau Borgmann und ich setzten uns zusammen,
wir waren völlig konträrer Meinung, wir haben das tage
lang diskutiert, haben Eltern herangezogen, haben Schü
ler und andere Kollegen herangezogen, verschiedener
Meinungen, und wir sind nach langen Auseinandersetzun
gen zu einem gemeinsamen Weg gekommen. Warum?
Weil wir gegenseitig den Eindruck hatten, wir handelten
aus einer Sorge heraus. Wir hatten gegenseitig diesen
Respekt, und Frau Borgmann und ich haben heute noch
ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zueinander. So müs
sen diese Dinge behandelt werden, und zwar in den Schu
len, und nicht mit dem Knüppel einer Disziplinarordnung.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Frau Dr. Laurien tut aber leider Schlimmeres, sie gibt In
terviews in der „Biid“-Zeitung, in diesem Dreckblatt — ich
muß es ja leider so formulieren —; und in der „Bild“-Zei-
tung fordert sie — ich darf auch das kurz zitieren —:
Solche Fälle werden uns zunehmend bekannt... Ich
bitte alle Eltern, sich dann an die Schulaufsicht zu
wenden.
Gefragt wurde dann, was sie dann mache:
Wir ermitteln und verhängen gegebenenfalls Strafen,
zum Beispiel Verweise und Geldbußen; in ganz
schlimmen Fällen werden Lehrer aus dem Schuldienst
entfernt. In Berlin stehen beispielsweise zur Zeit
1 200 solcher Fälle an.
Das ist doch der Stil, durch den Leute ermutigt werden,
[Frau Sen Dr. Laurien; Das habe ich nicht gesagt
und „Bild“ um Korrektur gebeten!]
— Schönen Dank, wenn Sie das nachher noch ausführen (C)
würden; ich bin Ihnen aber dankbar für diesen Hinweis. —
Aber dieses Dreckblatt bringt ja dann leider solche Dinge
und ermutigt leider auch Leute, denen an einer pädagogi
schen Durchdringung gar nicht liegt, sondern nur daran,
„schmutzige Wäsche zu waschen“.
Ich darf zusammenfassen; Es ist hierdurch ein Stil in die
Auseinandersetzung hineingetragen worden, den ich als
eine Kriegserklärung empfinden muß. Frau Dr. Laurien,
Sie können diesen Krieg bekommen, ich bin aber über
zeugt, wir haben in allen Fraktionen, auch bei der CDU,
genug besonnene Leute, die daran arbeiten möchten,
daß wir diesen Krieg nicht bekommen, denn er ist zum
Schaden unserer Kinder.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Stellv. Präsident Longolius: In der Beratung hat jetzt
das Wort der Abgeordnete Dr. Lehmann-Brauns.
Dr. Lehmann-Brauns (CDU): Herr Präsident! Meine Da
men und Herren! Der Antrag der Fraktion der AL hat für
mich etwas Gespenstisches. Der Tatbestand: Kinder wer
den hinter den politischen Karren einzelner Funktionäre
und ihrer Lehrer gespannt — das ist unstreitig; Herr Behr
hat es zugegeben —, und die AL beschwert sich nicht
dagegen, sondern gegen die negative Wertung.
[Beifall bei der CDU]
Sie beschwert sich über eine überzogene Bewertung, wie
sie meint. Sieht man sich die Debattenbeiträge der Alter
nativen Liste in den vergangenen Jahren einmal an, dann
kann man schnell feststellen, Musterbeispiele an Mäßi
gung, an Genauigkeit, an Unparteilichkeit liegen nicht vor.
[Zuruf von der AL-Fraktion]
Der alternative Dauertrieb, das parlamentarische Sy
stem und seine Anhänger in ihrer scheinbaren Unfähig
keit zu demaskieren, ist so stark, daß das rhetorische
Ergebnis oft Hohn- und Haßtiraden sind. Ich rede nicht
von solchen Reden, die in den Hochschulen präpariert
und hier vorgelesen worden sind. Ich rede von sponta
neren Repräsentanten. Ich erinnere an Herrn Rabatsch
und ich nenne Herrn Kunzeimann. Ich will uns allen die
Mühe ersparen, anhand der Protokolle nachzuweisen,
welches Maß an Grobheiten und Verbalinjurien auf uns
hier herabgeregnet ist.
[Wachsmuth (AL): Dann sehen Sie doch einmal
Ihre Riege an!]
Ungeachtet dessen weichen wir der Diskussion um die
Äußerung von Frau Laurien nicht aus, Herr Kollege
Wachsmuth. Was lag eigentlich vor? ln der letzten Frage
stunde des Abgeordnetenhauses war die Rede vom Miß
brauch von Schulkindern durch Lehrer, die dazu da sind,
eine unabhängige und autonome Entwicklung zu garantie
ren. Versucht man die negative Bewertung dieses Verhal
tens durch die Senatorin mitzuvollziehen, dann muß man
doch folgendes feststellen: Kinder sind gegenüber der
Erwachsenenwelt arg- und wehrlos. Ihr besonderer Schutz
gehört zu den selbstverständlichen und elementaren Tu
genden des demokratischen und liberalen Staates.
[Beifall bei der CDU]
Ein Staat, der sich an Kindern politisch vergreift, ist kein
Kulturstaat. Die Einbeziehung Minderjähriger in politische
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