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Volume Nr. 51, 27. Oktober 1983

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1982/83, 9. Wahlperiode, Band III, 33.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode 
51. Sitzung vom 27. Oktober 1983 
Frau Zieger 
(A) gen konnten, sich morgen in Saida oder anderswo wie 
derholen. Wer kann garantieren, daß palästinensische 
oder libanesische Frauen, die mit ihren Kindern auf dem 
Flughafen von Beirut ankorpmen, jemals im Westteil der 
Stadt angelangen? Wer kann garantieren, daß sie eine 
Unterkunft finden, die ihnen sichert, daß sie mit ihren 
Kindern diesen Winter im Libanon überstehen können? 
Wer kann garantieren, daß palästinensische Männer nicht 
schon am Flughafen abgefangen und in eines der vielen 
Gefangenenlager abtransportiert werden? Wer kann also 
garantieren, was die Ausländerbehörde seit Monaten 
stereotyp behauptet: daß Palästinenser ungefährdet nach 
Beirut zurückkehren können? — Niemand kann das. Und 
weil dem so ist, sieht sich nun endlich der Innensenator 
aufgrund des öffentlichen Drucks gezwungen, mal wieder 
Abschiebungen auszusetzen, Abschiebungen mal wieder 
nicht durchzuführen. Das Spiel beginnt also wieder von 
vorn. Wir werden aber auch darüber reden müssen, war 
um eine solche Entscheidung nicht schon vor Wochen 
und Monaten gefällt worden ist, und wir werden darüber 
reden müssen, daß es nicht wieder zu einer Situation 
kommt, in der in drei Monaten die Ausländerbehörde 
wieder Bescheide an Palästinenser mit dem lapidaren 
Satz schickt: „Sie können ungefährdet nach Beirut zu 
rückkehren.“ 
Ich war in den vergangenen Tagen in der Nostiz-Ge- 
meinde und habe die beiden palästinensischen Familien 
besucht, die dort Schutz und Unterkunft gefunden haben. 
Ich habe diese Menschen bewundert, daß sie noch so 
freundlich und so gefaßt waren, aber ich habe auch ge 
sehen, daß sie hart an der Grenze dessen waren, was 
man psychisch und physisch vertragen kann. Ich habe 
die Bescheide gelesen, die die Ausländerbehörde diesen 
Familien geschickt hat. Ich habe gelesen, daß der Polizei- 
(B) Präsident sich nicht in der Lage sieht, die Ausreisefrist 
einer Mutter zu verlängern, die hier seit 1974 lebt, die 
vier minderjährige Kinder hat und deren vierjähriger Sohn 
schwerstbehindert ist. Das Kind hat Bewegungsstörungen, 
es ist halb blind und halb taub und leidet unter Krampf 
anfällen; eine gesundheitliche Versorgung dieses Kindes 
ist nur hier in West-Berlin zu gewährleisten. Ich habe ge 
lesen — und vielleicht sollten Sie sich hinsetzen und zu 
hören, was in der Stadt passiert! —, 
[Beifall bei der AL und der SPD] 
daß der Polizeipräsident einer im sechsten Monat schwan 
geren Frau schreibt, daß es ihr durchaus zugemutet wer 
den kann, den Ausgang des Asylverfahrens ihres Mannes 
im Libanon abzuwarten, und daß es nicht ersichtlich sei — 
nicht ersichtlich, stellt euch das vor! — und von ihr nicht 
begründet ist, daß die vorübergehende Trennung von 
ihrem Mann eine unzumutbare Härte bedeute, und es 
stehe ihr frei, ihre fünf minderjährigen Kinder doch mit 
in den Libanon zu nehmen. Wenn der Familienvater dann 
seinen Asylantrag zurückstellt, weil er natürlich seine 
Frau nicht allein in den Libanon fahren läßt, dann wird 
die Statistik der freiwilligen Rückkehrer wieder aufgefüllt, 
und es gibt wieder Argumente für die Behauptung, daß 
es im Libanon doch gar nicht so schlimm sein kann. 
Ich glaube, diese Beispiele reichen aus, um deutlich 
zu machen, daß die von Senator Lummer zugesagte Ein 
zelfallprüfung nicht existiert. Es reicht aus, um deutlich 
zu machen, mit welch unglaublicher Ignoranz hier mit dem 
Schicksal von Hunderten von Menschen umgegangen 
wird. Hier werden nicht Menschen, hier werden nicht 
Frauen, nicht Männer, nicht Kinder gesehen — hier gibt 
es nur Aktenzeichen, hier gibt es nur Asylantennummern. 
Man macht sich keine Gedanken mehr darüber, ob die 
Kinder beim Vater oder bei der Mutter bleiben wollen 
und was man ihnen antut, wenn man ein Elternteil zur 
unverzüglichen Ausreise auffordert. Es spielt für diese (C) 
Behörden keine Rolle, daß der Krieg im Libanon so ziem 
lich alles zerstört hat, was man unter menschenwürdigen 
und normalen Bedingungen begreift, nämlich Häuser, 
Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsplätze. Die Devise, nach 
der die Ausländerbehörde unter Aufsicht von Herrn Lum 
mer handelt, heißt: ausweisen, abschrecken, abschieben. 
Es könnten ja noch weitere Flüchtlinge kommen, es könn 
ten ja noch mehr vom Speck unseres „Wohlfahrtsstaates“ 
nagen. Obwohl jeder täglich in der „Tagesschau“ beob 
achten kann, wie die Situation im Libanon ist, und ob 
wohl längst ein neuer Bericht der deutschen Botschaft in 
Beirut erwartet wird, ignoriert dies der Senat. Es werden 
weiter Aufforderungen zur Ausreise erteilt und Abschiebe- 
maßnahmen eingeleitet. 
Der Ausländerausschuß hat sich in der Vergangenheit 
so oft mit dem Thema der Palästinenser befaßt, aber er 
hat eine Entscheidung vor sich hergeschoben. Erst wenn 
Abschiebungen konkret anstehen, wollte man sich damit 
befassen, dann erst wollte man sich mit den Realitäten 
befassen, die jetzt und schon vor Monaten auf dem 
Tisch lagen. 
Im Auguste-Viktoria-Krankenhaus liegt ein Mann auf 
der Intensivstation. Er hat versucht, sich mit sechs Röh 
ren Tabletten das Leben zu nehmen. Er ist maronitischer 
Christ. In seiner Abschiebehaft schrieb er, daß er lieber 
sterben möchte als hier oder in Beirut ins Gefängnis 
zu gehen. Seine Ausweisung wurde wegen bestehender 
akuter Suizidgefahr jahrelang hinausgezögert. Jetzt aber 
wollte die Ausiänderbehörde ihn nicht länger dulden, 
und er tat seine Verzweiflungstat. 
Der Ausschuß für Ausländerfragen hat sich bislang mit 
ungenauen und unklaren Antworten von Senatsrat Dr. 
Müller-Zimmermann und Senatsdirektor Dr. Conen ab- (D) 
speisen lassen. Der Ausschuß hat nicht zur Kenntnis neh 
men wollen, daß es nicht nur unverantwortlich ist, Men 
schen in den Libanon abzuschieben, sondern daß es min 
destens ebenso unverantwortlich ist, dies ihnen anzu 
drohen. 
[Beifall bei der AL] 
Damit hat er seine Aufgabe als politisches Kontrollorgan 
der Verwaltung nicht wahrgenommen, und wir stehen 
heute vor der Situation, daß ein Abschiebestopp nicht 
auf Initiative des Ausländerausschusses erreicht wird, 
sondern an ihm vorbei, und dies ist einer breiten Öffent 
lichkeit und einem breiten Engagement gerade der kirch 
lichen Kreise zu danken. 
Heute geht es ganz klar und eindeutig um die Aus 
sage, daß keiner mehr abgeschoben werden kann, so 
lange kriegerische Auseinandersetzungen im Libanon 
nicht ausgeschlossen werden können. Es muß klar sein, 
daß alle Abschiebemaßnahmen, die bisher eingeieitet 
worden sind, sofort rückgängig gemacht werden, und es 
muß den Palästinensern das gleiche Recht zugestanden 
werden, welches Vietnamesen und Flüchtlinge aus Ost 
blockstaaten selbstverständlich genießen, nämlich hier 
geduldet zu werden, weil man sie nicht abschieben kann. 
[Beifall bei der AL] 
Weiterhin muß festgestellt werden, daß das Parlament, 
dieses Haus hier, die Instanz ist, die entscheidet, wann 
selbstgefaßle Beschlüsse wieder aufgehoben werden kön 
nen. Ich habe mit Bestürzung vernommen, daß alle Frak 
tionen außer der AL sich nicht in der Lage sehen, diesen 
Antrag der SPD und unseren Änderungsantrag dazu zu 
verabschieden, sondern daß sie wiederum die Debatte 
im Ausländerausschuß beginnen wollen. Es ist für mich un 
begreiflich, warum nicht hier und heute den Palästinensern 
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