Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
51. Sitzung vom 27. Oktober 1983
Frau Zieger
(A) gen konnten, sich morgen in Saida oder anderswo wie
derholen. Wer kann garantieren, daß palästinensische
oder libanesische Frauen, die mit ihren Kindern auf dem
Flughafen von Beirut ankorpmen, jemals im Westteil der
Stadt angelangen? Wer kann garantieren, daß sie eine
Unterkunft finden, die ihnen sichert, daß sie mit ihren
Kindern diesen Winter im Libanon überstehen können?
Wer kann garantieren, daß palästinensische Männer nicht
schon am Flughafen abgefangen und in eines der vielen
Gefangenenlager abtransportiert werden? Wer kann also
garantieren, was die Ausländerbehörde seit Monaten
stereotyp behauptet: daß Palästinenser ungefährdet nach
Beirut zurückkehren können? — Niemand kann das. Und
weil dem so ist, sieht sich nun endlich der Innensenator
aufgrund des öffentlichen Drucks gezwungen, mal wieder
Abschiebungen auszusetzen, Abschiebungen mal wieder
nicht durchzuführen. Das Spiel beginnt also wieder von
vorn. Wir werden aber auch darüber reden müssen, war
um eine solche Entscheidung nicht schon vor Wochen
und Monaten gefällt worden ist, und wir werden darüber
reden müssen, daß es nicht wieder zu einer Situation
kommt, in der in drei Monaten die Ausländerbehörde
wieder Bescheide an Palästinenser mit dem lapidaren
Satz schickt: „Sie können ungefährdet nach Beirut zu
rückkehren.“
Ich war in den vergangenen Tagen in der Nostiz-Ge-
meinde und habe die beiden palästinensischen Familien
besucht, die dort Schutz und Unterkunft gefunden haben.
Ich habe diese Menschen bewundert, daß sie noch so
freundlich und so gefaßt waren, aber ich habe auch ge
sehen, daß sie hart an der Grenze dessen waren, was
man psychisch und physisch vertragen kann. Ich habe
die Bescheide gelesen, die die Ausländerbehörde diesen
Familien geschickt hat. Ich habe gelesen, daß der Polizei-
(B) Präsident sich nicht in der Lage sieht, die Ausreisefrist
einer Mutter zu verlängern, die hier seit 1974 lebt, die
vier minderjährige Kinder hat und deren vierjähriger Sohn
schwerstbehindert ist. Das Kind hat Bewegungsstörungen,
es ist halb blind und halb taub und leidet unter Krampf
anfällen; eine gesundheitliche Versorgung dieses Kindes
ist nur hier in West-Berlin zu gewährleisten. Ich habe ge
lesen — und vielleicht sollten Sie sich hinsetzen und zu
hören, was in der Stadt passiert! —,
[Beifall bei der AL und der SPD]
daß der Polizeipräsident einer im sechsten Monat schwan
geren Frau schreibt, daß es ihr durchaus zugemutet wer
den kann, den Ausgang des Asylverfahrens ihres Mannes
im Libanon abzuwarten, und daß es nicht ersichtlich sei —
nicht ersichtlich, stellt euch das vor! — und von ihr nicht
begründet ist, daß die vorübergehende Trennung von
ihrem Mann eine unzumutbare Härte bedeute, und es
stehe ihr frei, ihre fünf minderjährigen Kinder doch mit
in den Libanon zu nehmen. Wenn der Familienvater dann
seinen Asylantrag zurückstellt, weil er natürlich seine
Frau nicht allein in den Libanon fahren läßt, dann wird
die Statistik der freiwilligen Rückkehrer wieder aufgefüllt,
und es gibt wieder Argumente für die Behauptung, daß
es im Libanon doch gar nicht so schlimm sein kann.
Ich glaube, diese Beispiele reichen aus, um deutlich
zu machen, daß die von Senator Lummer zugesagte Ein
zelfallprüfung nicht existiert. Es reicht aus, um deutlich
zu machen, mit welch unglaublicher Ignoranz hier mit dem
Schicksal von Hunderten von Menschen umgegangen
wird. Hier werden nicht Menschen, hier werden nicht
Frauen, nicht Männer, nicht Kinder gesehen — hier gibt
es nur Aktenzeichen, hier gibt es nur Asylantennummern.
Man macht sich keine Gedanken mehr darüber, ob die
Kinder beim Vater oder bei der Mutter bleiben wollen
und was man ihnen antut, wenn man ein Elternteil zur
unverzüglichen Ausreise auffordert. Es spielt für diese (C)
Behörden keine Rolle, daß der Krieg im Libanon so ziem
lich alles zerstört hat, was man unter menschenwürdigen
und normalen Bedingungen begreift, nämlich Häuser,
Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsplätze. Die Devise, nach
der die Ausländerbehörde unter Aufsicht von Herrn Lum
mer handelt, heißt: ausweisen, abschrecken, abschieben.
Es könnten ja noch weitere Flüchtlinge kommen, es könn
ten ja noch mehr vom Speck unseres „Wohlfahrtsstaates“
nagen. Obwohl jeder täglich in der „Tagesschau“ beob
achten kann, wie die Situation im Libanon ist, und ob
wohl längst ein neuer Bericht der deutschen Botschaft in
Beirut erwartet wird, ignoriert dies der Senat. Es werden
weiter Aufforderungen zur Ausreise erteilt und Abschiebe-
maßnahmen eingeleitet.
Der Ausländerausschuß hat sich in der Vergangenheit
so oft mit dem Thema der Palästinenser befaßt, aber er
hat eine Entscheidung vor sich hergeschoben. Erst wenn
Abschiebungen konkret anstehen, wollte man sich damit
befassen, dann erst wollte man sich mit den Realitäten
befassen, die jetzt und schon vor Monaten auf dem
Tisch lagen.
Im Auguste-Viktoria-Krankenhaus liegt ein Mann auf
der Intensivstation. Er hat versucht, sich mit sechs Röh
ren Tabletten das Leben zu nehmen. Er ist maronitischer
Christ. In seiner Abschiebehaft schrieb er, daß er lieber
sterben möchte als hier oder in Beirut ins Gefängnis
zu gehen. Seine Ausweisung wurde wegen bestehender
akuter Suizidgefahr jahrelang hinausgezögert. Jetzt aber
wollte die Ausiänderbehörde ihn nicht länger dulden,
und er tat seine Verzweiflungstat.
Der Ausschuß für Ausländerfragen hat sich bislang mit
ungenauen und unklaren Antworten von Senatsrat Dr.
Müller-Zimmermann und Senatsdirektor Dr. Conen ab- (D)
speisen lassen. Der Ausschuß hat nicht zur Kenntnis neh
men wollen, daß es nicht nur unverantwortlich ist, Men
schen in den Libanon abzuschieben, sondern daß es min
destens ebenso unverantwortlich ist, dies ihnen anzu
drohen.
[Beifall bei der AL]
Damit hat er seine Aufgabe als politisches Kontrollorgan
der Verwaltung nicht wahrgenommen, und wir stehen
heute vor der Situation, daß ein Abschiebestopp nicht
auf Initiative des Ausländerausschusses erreicht wird,
sondern an ihm vorbei, und dies ist einer breiten Öffent
lichkeit und einem breiten Engagement gerade der kirch
lichen Kreise zu danken.
Heute geht es ganz klar und eindeutig um die Aus
sage, daß keiner mehr abgeschoben werden kann, so
lange kriegerische Auseinandersetzungen im Libanon
nicht ausgeschlossen werden können. Es muß klar sein,
daß alle Abschiebemaßnahmen, die bisher eingeieitet
worden sind, sofort rückgängig gemacht werden, und es
muß den Palästinensern das gleiche Recht zugestanden
werden, welches Vietnamesen und Flüchtlinge aus Ost
blockstaaten selbstverständlich genießen, nämlich hier
geduldet zu werden, weil man sie nicht abschieben kann.
[Beifall bei der AL]
Weiterhin muß festgestellt werden, daß das Parlament,
dieses Haus hier, die Instanz ist, die entscheidet, wann
selbstgefaßle Beschlüsse wieder aufgehoben werden kön
nen. Ich habe mit Bestürzung vernommen, daß alle Frak
tionen außer der AL sich nicht in der Lage sehen, diesen
Antrag der SPD und unseren Änderungsantrag dazu zu
verabschieden, sondern daß sie wiederum die Debatte
im Ausländerausschuß beginnen wollen. Es ist für mich un
begreiflich, warum nicht hier und heute den Palästinensern
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