Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
15. Sitzung vom 28. Januar igj &ge
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Dr. Lehmann-Brauns
(A) Zentrum“. Wen wollen Sie eigentlich zentralisieren? Die Lite
ratur? Oder die Literaten? Soll die Produktion von Literatur
in Berlin etwa künftig zentralisiert werden?
[Dr. Kunze (F.D.P.): Zentrum ist immer ganz schlecht!]
— Daß Sie die politische Mitte gleich noch mit treffen wollen,
Herr Kunze, ist eine Sache, die ich auch lieber überhören
will! — Ich meine, daß der Begriff „Literaturzentrum“ einen
Geschmack hat, bei dem mir nicht wohl ist.
[Dr. Kunze (F.D.P.): Begegnungsstätte!]
— Begegnungsstätte, gut! Also, das ist eine Frage — ich sehe,
Sie sind selbstkritisch und lernfähig —, die wir im Ausschuß
weiter voranbringen sollten. Ich bin der Ansicht, daß Schrift
steller ebensowenig ein Zentrum brauchen wie andere Leute.
Was kommt statt dessen in Frage? Ich habe da eine Idee
— und hoffe, daß meine eigene Fraktion damit einverstanden
ist, hoffentlich auch Sie —, und die hängt mit der Trägerschaft
zusammen. Wem soll man ein solches Zentrum an die Hand
geben? Ich meine, es gibt keine geeignetere Stelle als die
Berliner Akademie der Künste. Sie ist von ihrer öffentlichen
Stellung her dafür programmiert, sie ist nach Marbach das
größte deutsche Literaturarchiv, sie hat sich um den Nach
laß gekümmert, sie hat ihn aufgekauft, auch das Mobiliar,
und sie garantiert vor allen Dingen eine gewisse Internatio
nalität, sie garantiert auf Grund ihrer weitverzweigten inter
nationalen Verbindungen, auf Grund ihrer hohen Anerkennung
auch im Ausland einen Dauerkontakt mit der literarischen
Welt. Deshalb wäre mein Vorschlag, eine Tucholsky-Litera
turbegegnungsstätte in die Hände der Berliner Akademie
der Künste zu legen. - Ich danke Ihnen!
[Beifall bei der CDU]
Stellv. Präsident Longolius: Nächster Redner ist der Ab
geordnete Kollat.
(B) Kollat (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Meine Fraktion bedankt sich zuerst aus Bindung an Tucholsky
bei der F.D.P.-Fraktion, daß sie diesen Antrag eingebracht
hat und damit wieder etwas ins Gespräch bringt, was ins Ge
spräch gebracht werden muß. Ich bedanke mich auch für die
anerkennenden Worte, die der Kollege Dr. Lehmann-Brauns
dem bedeutenden Berliner und deutschen Schriftsteller Kurt
Tucholsky hier gewidmet hat. Es ist irgendwie beglückend,
wenn man in diesem Haus in solchen Fragen, die ihren gro
ßen Ernst haben, Übereinstimmungen findet, Übereinstimmun
gen im Geist, wenn auch nicht immer in der Formulierung.
Als ich den Antrag der F.D.P. las, habe ich zu Hause einmal
in alten Unterlagen gekramt, und dabei ist mir ein schon ver
gilbter Zeitungsartikel in die Hände gefallen vom 7. Januar
1965. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich daraus
etwas zu Gehör bringen. Da heißt es:
Nur wenig Ehre für einen großen Sohn unserer Stadt;
diese kleine Erinnerungstafel wurde vor fünf Jahren am
Geburtshaus Kurt Tucholskys in der Lübecker Straße in
Moabit angebracht, mehr ließ man sich nicht einfallen.
Dann schreibt die Zeitung weiter:
Am kommenden Sonnabend wäre der Schriftsteller Kurt
Tucholsky 75 Jahre alt geworden. Haben die Behörden
den Namen dieses großen Berliners vergessen? Beson
ders im Bezirk Tiergarten
— so geht es weiter —
sind in letzter Zeit kritische Stimmen laut geworden:
Warum wird Tucholsky, der so mutig gegen den National
sozialismus eingetreten ist und in der Emigration Selbst
mord verübte, nicht auf eine dauerhafte Weise geehrt?
Kurt Tucholsky wurde in Moabit geboren; an seinem Ge
burtshaus Lübecker Straße 13 brachte man vor fünf Jah
ren eine kleine Erinnerungstafel an. Dabei ließ man es
bewenden.
Es heißt weiter in diesem Artikel:
Die Bezirksverordneten von Tiergarten wollten eine
Straße des Bezirks nach dem Schriftsteller benennen,
aber der Antrag wurde vom Senat abgelehnt. Begry,
düng: Im Ost-Berliner Bezirk Mitte gäbe es schon ein
Tucholsky-Straße.
— Stimmt!
Jetzt wurde ein neuer Vorschlag gemacht, eine städtisch
Bücherei in Tiergarten soll den Namen des berühmte
Moabiter Bürgers tragen. Dazu Volksbildungsstadtr;
Schmidt: Unsere Bücherei in der Rostocker Straße, di
noch keinen Namen hat, bietet sich dafür geradezu ai
Ich werde diesen Plan den zuständigen Gremien so
wie möglich vortragen.
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Ende des Zeitungsartikels. Wir hören hier von Gremien-Si.
zungen, und man wird unwillkürlich an ein Wort von Tucholsk
erinnert, der einmal gesagt hat; Was ist eine Sitzung? An
wort: Eine Sitzung ist der Sieg des Hintern über den Geist!
Man muß den Eindruck haben, daß ein Teil der Sitzungen, di
sich seit 1965 in dieser Stadt mit Tucholsky beschäftigt habe:
in diesem Sinne nach „Tucho“ gehandelt hat.
[Beifall bei der SPD]
Ich greife jetzt einen zweiten Zeitungsartikel auf; e
stammt aus dem Jahre 1976 und beschäftigt sich mit eine
Parlamentssitzung, die wir hier abgehalten haben und in de
wir zu unserem Kummer feststellen mußten, daß der Nach
laß des Berliners Tucholsky, des Mannes „mit dem goldenei
Herzen und der eisernen Schnauze“, wie es in der Literatur
geschichte heißt, abgewandert war, nicht, wie ein norma
denkender Mensch vermutet, an die Spree oder, wie Dr
Lehmann-Brauns sagen, würde, in die Hände von Dr. Walte
Huder an die Akademie der Künste, sondern er ist sage um
schreibe abgewandert, aus welchen Gründen auch immer
die hier zu erörtern verbietet sicherlich die Pietät gegenübe
seiner Witwe, an den Neckar! Damals ist in diesem Haus eir n E
Wort geprägt worden, das dann Professor Wormit in seine
Eigenschaft als Präsident der Stiftung Preußischer Kultur
besitz aufgegriffen hat, nämlich das Wort von dem „Treppen
witz Berliner Stadtgeschichte“. Dieser Treppenwitz ist noch
immer aktuell, jetzt nicht wegen des Nachlasses, sondern
nun wegen des schon Jahre andauernden Streites um da;
Geburtshaus. Meine Damen und Herren, man kann nich
eine Gedenktafel an das Geburtshaus hängen, das dam
durch die Presse geben, dann — wie geschehen — eira ‘
Bücherei mit dem Namen Tucholskys ausstatten, dann soga
eine Grundschule — dafür danken wir — nach ihm benennen
und schließlich läßt man „das große Schweigen im Walde'
eintreten. Eines Tages hat man lustig geplant, hat das Ge
burtshaus mit verplant, und stellt fest, daß wir das irgend*
für den Krankenhaus-Erweiterungsbau in Anspruch nehmet
Für die Gedenktafel finden wir da schon irgendwo eine;
Platz. Sie wissen alle, meine Damen und Herren, welch; en
Schicksale manchmal Gedenktafeln in dieser Stadt erleb
haben, siehe die erste Gedenktafel an der Wannsee-Vill;
siehe die Gedenktafel an Rosa Luxemburg. Makabre Schick
sale haben oft die Gedenktafeln in dieser Stadt, besonder
wenn ich an die erste Runde der heutigen Sitzung denke.
[Beifall bei der SPD, der AL und vereinzelt
bei der F.D.P.]
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Nun bemühen wir uns — dieses Haus hier, das kann unc
darf ich sagen, und ich stelle es mit großer Befriediguni
fest — seit Jahren darum, daß das Geburtshaus von Kur!
Tucholsky erhalten bleibt. Meine Damen und Herren, wi
sind keine Phantasten, wir nehmen nicht an, daß wir diese;
Altberliner Miethaus vom Keller bis zum Dachgeschoß m
Tucholsky bestücken können. Wir können da nicht sein;
Orden aufhängen, die er nie bekommen hat, wir können nicli
seine alten Säbel, die er nie besessen hat, dort aufhänge;
oder sonstige Dinge. Wir können im Höchstfall ein Gedenk
zimmer angemessen ausstatten. Aber wir wollen das Haufe
in seinem Sinne nutzen. Wir wollen, daß in diesem Hausl
die Literatur, die von 1933 bis 1945 in unserem Vaterlan;
verboten und verbrannt worden war, und die zum Teil ver
gessen ist, und von der man auch an unseren Schulen, wen;
überhaupt, in höchst ungenügender Form, spricht, ein
Stätte findet; und zwar nicht eine Ausstellungsstätte, son
dem eine Diskussionsstätte. Wir wollen, daß an dieser Stell
nicht nur über Tucholsky, sondern über Erich Mühsam, Üo f