Abgeordnetenhaus von Berlin - 9. Wahlperiode
5. Sitzung vom 10. September 1981£b
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Präsident Rebsch eröffnet die Sitzung um 13 Uhr.
Präsident Rebsch: Meine Damen und Herren! Ich eröffne die
5. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und bekunde un
seren unbeugsamen Willen, daß die Mauer fallen und daß
Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und
Freiheit wiedervereinigt werden muß.
Ich rufe auf den einzigen Tagesordnungspunkt,
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Drucksache 9/93: *
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I. und II. Lesung der Vörtage - zur Beschlußfassung -
über Gesetz zur Übernahme von Gesetzen
Gemäß § 32 Abs. 3 der Geschäftsordnung verbinde ich die I. und II.
Lesung. Wortmeldungen zur I. und zur II. Lesung? - Bitte, Herr Ab
geordneter Schmidt!
Schmidt (AL): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Fraktion der Alternativen Liste freut sich außerordentlich, heute der
Übernahme eines Bundesgesetzes zustimmen zu können,
[Oh! und Beifall bei den anderen Fraktionen]
in welchem einmal zwei Strafgesetzparagraphen abgeschafft wer
den. Erfreulich ist es ja, daß dieses Gesetz, das heute wieder abge
schafft wird mit diesem Gesetz, ebenso einstimmig und ohne Aus
sprache offensichtlich von diesem Hohen Hause auch einmal ange
nommen wurde, eine Bemerkung dazu, die zeigt, daß offensichtlich
man auch Gesetze machen muß, die undiskutierte Fehler in diesem
Hause wieder ebenso undiskutiert ausmerzen. Die oppositionelle
Bewegung in dieser Stadt hat bereits bei der Einführung dieser Be
stimmungen im Jahre 1976 durch die sozial-liberale Koalition mit
dem Bundesjustizminisler Vogel protestiert. Denn sowohl der
§88a (Verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten) als
auch der §130a (Anleitung zu Straftaten) sollten im Zusammen
hang der gesamten Anti-Terrorismus-Gesetze ein Klima des Duck
mäusertums, der Angst und letztlich der Friedhofsruhe schaffen,
das mit einer angeblich demokratischen Gesellschaftsordnung
nicht das Geringste zu tun hat.
Mit der Abschaffung der Paragraphen 88 a und 130 a ist einer
Forderung von vielen demokratisch gesinnten Menschen Genüge
getan, ohne deren Kritik und Widerstand die Abschaffung über
haupt nicht erfolgt wäre. Dennoch kommen wir nicht umhin festzu
stellen, daß die Rücknahme dieser Paragraphen weder ausreichend
noch auf einen demokratischen Gesinnungswandel der Regie
rungsparteien in Bonn und Berlin zurückzuführen ist SPD und
F.D.P. begründen die Aufhebung nämlich damit, daß der §88a
überflüssig ist, da die dort erfaßten „Tatbestände“ durch andere
Paragraphen ausreichend abgedeckt sind, eine Strafbarkeitslücke
also nicht entstehen würde. Daß dies tatsächlich so ist, zeigt eine
Zusammenstellung der bisherigen Anwendungsfälle des §88a.
Bis zum Jahresbeginn 1980 gab es 113 Ermittlungsverfahren in der
BRD und West-Berlin nach §88a. In 101 Fällen wurde daneben
wegen anderer sogenannter Delikte ermittelt In vier Jahren erfolg
ten fünf Verurteilungen; alle übrigen Ermittlungen wurden einge
stellt. Angesichts dieser „Ausbeute“ entfällt nach der Logik der Re
gierungsparteien der Sinn der Vorschrift Der großen Mehrheit der
jenigen, die jetzt die Abschaffung des Zensurparagraphen be
schlossen haben, geht es also keineswegs um eine demokratische
Veränderung oder gar um ehrliche Selbstkritik eines erkannten
Fehlers. Es soll weiter gedroht und gestraft werden können - nur
eben ohne den § 88 a, der sich als unpraktikabel herausgestellt hat.
Vorwiegend diente der § 88 a als Vorwand für Beschlagnahmun
gen und Durchsuchungen, denn dafür reichte nämlich der bloße
Verdacht eines Verstoßes gegen den §88a aus. Exemplarische
Durchsuchungen in Buchläden, Verlagen und Druckereien hatten
einzig das Ziel, die Selbstzensur von Schriftstellern, Verlegern,
Buchhändlern und Druckern durchzusetzen, eine Selbstzensur, die
den staatlichen Zensor überflüssig machen sollte.
Eine der wenigen rechtskräftigen Verurteilungen nach §88a in
Verbindung mit § 129 a fand - wie sollte es auch anders sein - hier
in West-Berlin statt: das berüchtigte Verfahren gegen die Agit-
Drucker. Drei Mitglieder des Agit-Druck-Kollektivs, Jutta Werth,
Gerdi Foß und Henning Barckhausen, saßen bis zu neun Monaten
in Untersuchungshaft. Diese Verhaftung der Drucker war eine neue
Form von staatlichen Zensurmaßnahmen, durch die das Erscheinen
von Zeitungen verhindert werden sollte, in denen auch die politi
sche Auseinandersetzung über die Gewalt des Staatsapparates
und die Gegengewalt der Bürger geführt wurde. Diese Verhaftung
der Agit-Drucker im Herbst 1977 war eine Einschüchterungsmaß
nahme des Staatsschutzes und der politischen Staatsanwaltschaft
mit dem Ziel, jegliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu
kriminalisieren und mundtot zu machen. Eine Methode, die ja auch
heute immer noch sehr aktuell ist: z. B. sind gegen „die Tages
zeitung“ über 30 Strafverfahren - quer durch das gesamte Straf
gesetzbuch - anhängig. Gegen die Agit-Drucker wurden dann im
Februar 1979 in einem aufsehenerregenden Verfahren vor dem
4. Strafsenat des Kammergerichts Gefängnisstrafen von neun bis
zwölf Monaten ohne Bewährung ausgesprochen. Dieses Urteil, ver
hängt von einer politischen Staatsschutzkammer, die ein Hohn auf
die viel beschworene Unabhängigkeit der Justiz ist, stieß auf helle
Empörung der gesamten demokratischen Bewegung. Im Oktober
1980 hat dann der 3. Strafsenat des Kammergerichts nach einem
Teilerfolg in der Revision vor dem Bundesgerichtshof die Haftstra
fen zur Bewährung ausgesetzt, was jedoch für drei der vier Ange
klagten im Agit-Verfahren kaum noch Bedeutung hatte, da sie eh
fast die gesamte Strafe in Form der Untersuchungshaft abgesessen
hatten. Die Urteile gegen Untersuchungsgefangene haben ja
bekanntlich sehr häufig nichts mehr zu tun mit einer tatsächlichen
Beweiswürdigung, sondern werden eben mit dem selbstherrlichen;
Instrument der sogenannten „freien Beweiswürdigung“ der Unter
suchungshaftzeit angeglichen. Wenn z. B. der unwahrscheinliche
Fall eintreten sollte, daß im Schmücker-Verfahren Frau Ilse Jandt-
Schwipper freigesprochen werden müßte, dann werden sich
Staatsanwaltschaft und Gericht immer noch einen Paragraphen ein
fallen lassen, mit dessen Hilfe ein Urteil von sieben Jahren heraus
kommt - denn seit sieben Jahren sitzt diese Frau in Untersuchungs
haft.
Heute bleibt nur festzuhalten: Für die Agit-Drucker kommt die
Entscheidung, den §88a StGB ersatzlos zu streichen, zu spät, viel
zu spät Nicht nur, daß sie im Gefängnis saßen, verurteilt wurden
wegen „gemeinschaftlicher verfassungsfeindlicher Befürwortung
von Straftaten in Tateinheit mit § 129 a“ - ein Paragraph, für dessen
Streichung wir uns entschieden einsetzen -, jetzt bekommen die
Verurteilten auch noch Gerichtskosten-Rechnungen von über
60 000 DM. Dies ist ein Skandal ohnegleichen! Am 3.Juli 1981
wandte sich die Humanistische Union an den Senator für Justiz mit
der Bitte, durch Verzicht auf die Verfahrenskosten entsprechend
der Empfehlung seines Amtsvorgängers weiteren Schaden von den
Agit-Druckern abzuwenden. Am 3. August 1981 antwortete Herr
Senator Scholz wie folgt:
Nach §2 Abs. 2 des Gesetzes über Gebührenbefreiung, Stun
dung und Erlaß von Kosten im Bereich der ordentlichen Ge
richtsbarkeit vom 24. November 1970 können Gerichtskosten
ganz oder zum Teil erlassen werden,
1. wenn es zur Förderung öffentlicher Zwecke geboten er
scheint
2. wenn die Einziehung mit besonderen Härten für den
Zahlungspflichtigen verbunden wäre,
3. wenn es sonst aus besonderen Gründen der Billigkeit
entspricht
Diese Voraussetzungen halte ich aufgrund des gegebenen
Sachverhalts im vorliegenden Falle bei keinem der Kosten-
Schuldner für erfüllt. Ich vermag deshalb einen Erlaß der Ge
richtskosten nicht auszusprechen.
Dies ist ein unglaublicher Vorgang! Wenn irgendwann irgendwo
die drei Bestimmungen für den Erlaß von Gerichtskosten zutreffer,
dann hier in diesem Falle der Agit-Drucker. Oder ist für diesen
Justizsenator die Förderung von Demokratie - und dazu gehört
seitens der herrschenden Politik, Fehler einzugestehen und halb
wegs wiedergutzumachen - kein öffentlicher Zweck? Oder, Herr
Scholz, sind Sie der Auffassung, daß die über 60 000 Mark keine