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Volume Nr. 38, 23. Oktober 1980

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1980/81, 8. Wahlperiode, Band II, 1980/1981, 19.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode 
38. Sitzung vom 23. Oktober 1980 
1618 
RBm Stobbe 
(A) Die Anordnung der DDR-Regierung kommt einer Verhinderung 
des Besucherverkehrs sehr nahe. Wir haben in den ersten zehn 
Tagen einen durchschnittlichen Rückgang der beantragten 
Tagesbesuche von fast 60% registrieren müssen. 1973, als die 
DDR bereits einmal den Mindestumtausch heraufsetzte, waren es 
knapp 40%. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß Zahlen für 
die Mehrtagesbesuche noch nicht vorliegen, aber wir wissen aus 
der Erfahrung von damals, daß der Rückgang dort noch höher 
sein wird. 
DDR durchkreuzt wird. Wir haben dabei ein klares Ziel: Die von 
der DDR angeordnete Erhöhung des Mindestumtausches muß 
zurückgenommen werden. 
[Allgemeiner Beifall] 
Unsere Argumentation gegen die Erhöhung des Mindest 
umtausches ist humanitär, sozial und politisch begründet. Gleich 
wohl möchte ich klarstellen, daß der Protest gegen die Ost- 
Berliner Maßnahme auch im rechtlichen und völkerrechtlichen 
Zusammenhang wohl gerechtfertigt ist. Seinerzeit ist in den Ver 
handlungen zwischen den Beauftragten beider Seiten der Ab 
schluß der Vereinbarung über den Reise- und Besucherverkehr 
auf unserer Seite davon abhängig gemacht worden, daß Rentner 
und Jugendliche vom Umtausch befreit sind und die Sätze eine 
erträgliche und akzeptable Höhe nicht überschreiten. Die DDR 
hat daraufhin eine Mindestumtauschregelung mitgeteilt, bevor die 
Reise- und Besuchsvereinbarung unterschrieben wurde. Diese 
Mindestumtauschregelung hatten wir damals akzeptiert. Die 
Einzelheiten und ihr Zustandekommen hat der Senat in einer 
Dokumentation vom Januar 1974 niedergelegt, die dem Haus be 
kannt ist. Hierauf verweise ich ausdrücklich. Ich verweise außer 
dem auf das Viermächte-Abkommen und auf die Präambel zur 
Besuchsvereinbarung. Aus beiden Dokumenten ergibt sich, daß 
der Besucherverkehr erleichtert und verbessert werden soll. 
Die neue Anordnung steht auch nicht mit dem Grundlagen 
vertrag und der in diesem Zusammenhang getroffenen Ab 
sprache über den Besucher- und Reiseverkehr in Übereinstim 
mung. 
Und die neue Regelung widerspricht ferner den in der KSZE- 
Schlußakte getroffenen Festlegungen, denn dort heißt es in dem 
Abschnitt „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Berei 
chen“, daß sich die Teilnehmerstaaten das Ziel setzen, eine 
freiere Bewegung der Menschen zu ermöglichen, die Regelungen 
hierfür zu verbessern, und zwar unter gegenseitig annehmbaren 
Bedingungen. 
Meine Damen und Herren! Wir haben 31 Jahre miterlebt, wie 
diese Deutsche Demokratische Republik um internationale Repu 
tation bemüht ist, ja wie sie geradezu zwanghaft neurotisch darauf 
pocht, ein souveräner Staat zu sein, der oft genug selbst die 
Behauptung verbreiten ließ, vertragstreu bis zum I-Tüpfelchen zu 
sein. Die Wahrheit ist nach dieser Maßnahme, daß die Führung 
der DDR ihrem eigenen Bemühen um Glaubwürdigkeit einen 
Schlag versetzt hat, weil sie nun auf breiter Front mit ihrer 
Vertragsuntreue konfrontiert werden wird, ja konfrontiert werden 
muß, wenn Verträge mit ihr überhaupt einen Sinn behalten sollen. 
[Beifall bei der SPD und der F.D.P.] 
Für mich ist das politisch Entscheidende, daß die DDR ein 
Kernstück der Entspannung torpediert hat. Dabei ist zu berück 
sichtigen, daß die DDR-Führung diese Maßnahme zu einem Zeit 
punkt getroffen hat, in dem der Dialog zwischen beiden Welt 
mächten gestört ist, nach dem sowjetischen Einmarsch in Afgha 
nistan, inmitten der anderen Krisen im Mittleren und Nahen Osten 
und angesichts ungeklärter Rüstungsfragen, die für das mili 
tärische und politische Gleichgewicht zwischen NATO und War 
schauer Pakt entscheidend sind. 
Herr Honecker hat in Gera ganz klar gesagt, worum es wirklich 
geht; daß die Staaten des Warschauer Pakts es als ihre Aufgabe 
ansehen, angesichts des sozialen Wandels in Polen hin zu mehr 
Freiheit und hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit in fester Einheit 
und Entschlossenheit - wie er sagt - allen Einmischungsver 
suchen „ausländischer Reaktionäre“ - wie er wiederum sagt - 
entgegenzutreten. 
Hierzu möchte ich feststellen, daß für uns das Prinzip der Nicht 
einmischung gilt. Wir wissen, daß wir wegen dieses Prinzips 
nichts tun können, und wir wissen darüber hinaus aus unserer 
geschichtlichen Erfahrung, daß wir wegen der Maohtgrenzen in 
Europa und der Machtbalance und im Interesse des Friedens 
auch nichts tun dürfen. 
Von der Neuregelung sind die sozial Schwachen besonders 
hart betroffen, Rentner und Familien mit geringem Einkommen. 
Ich habe viele Briete erhalten und möchte aus einem zitieren. Es 
schreibt mir jemand; 
Vor zwei Wochen wurde meine Mutter, die in Ost-Berlin 
wohnhaft ist, nachts in bedrohlichem Zustand ins Kranken 
haus gebracht. Seither fahren wir also laufend ins Kranken 
haus nach Ost-Berlin, wobei natürlich außerdem auch 
andere Erledigungen für meine Mutter dort zu tätigen sind. 
Diese Fahrten bringen schon mit dem alten Umtausch von 
6,50 DM pro Person finanzielle Belastungen mit sich. Wie 
aber sollen Angehörige diesen neuen, enorm hohen Mindest 
umtausch verkraften? 
Meine Damen und Herren, dies ist kein Einzelfall, sondern ein 
Beispiel, das sich in unserer StadtTag fürTag viele Male wieder 
holt. 
Wenn eine Einzelperson die in der Vereinbarung mit der DDR 
vorgesehenen 30 Besuchstage im Jahr ausschöpfen will, be 
deutet dies allein an Mindestumtausch einen Betrag von 750 DM; 
die Durchschniltsfamilie mit zwei heranwachsenden Kindern 
müßte zwischen 1 950 DM und 3 000 DM aufwenden, nicht ge 
rechnet alle anderen Kosten vom Fahrgeld bis zu den Geschen 
ken. 
Weil diese Anordnung so wirkt, wie ich das hier beschrieben 
habe, nämlich im Sinne einer drastischen Reduzierung der Be 
suchsmöglichkeiten, möchte ich auch ausdrücklich feststellen, 
daß ich die Empörung der Berliner hier bei uns und auch im ande 
ren Teil der Stadt voll teile. Diese Empörung ist nicht nur ver 
ständlich, sondern auch zutiefst berechtigt. 
[Allgemeiner Beifall] 
Ich habe deshalb die Ost-Berliner Maßnahme noch am 9. Ok 
tober sofort verurteilt und ihre Rücknahme verlangt. Ich habe 
unverzüglich mit der Bundesregierung Kontakt aufgenommen 
und gebeten, in dieser Sache für Berlin mit tätig zu werden. Die 
Alliierten sind sogleich unterrichtet worden, der Besuchs 
beauftragte hat noch am Abend des 9. Oktober um ein Gespräch 
mit der anderen Seite gebeten. Inzwischen haben zwei Ge 
spräche stattgefunden. Ebenso hat Staatssekretär Gaus bei den 
DDR-Behörden noch am 10. Oktober gegen die Neuregelung 
protestiert und ihre Rücknahme gefordert. Die Alliierte 
Kommandantur hat bereits am 10. Oktober die Verminderung der 
Reisemöglichkeiten verurteilt. Ich habe am gleichen Tag mit den 
Stadtkommandanten und den drei Gesandten gesprochen und 
sie gebeten, auf ihrer Ebene das Mögliche und Notwendige zu 
tun. Der Bundesaußenminister hat den sowjetischen Botschafter 
Semjonow auf das Thema angesprochen, und der Ständige Ver 
treter der DDR ist in das Bundeskanzleramt einbestellt worden. 
Am 12. Oktober habe ich mit dem Bundeskanzler die Lage und das 
weitere Vorgehen intensiv erörtert. Weiter ist mit den Fraktionen 
des Abgeordnetenhauses gesprochen worden, gleich am Freitag 
vor 14 Tagen mit den Fraktionsvorsitzenden und am Montag dar 
auf im Gesamtberliner Ausschuß. 
Meine Damen und Herren, ich will hier nicht jeden einzelnen 
Schritt aufzeigen, den wir gegangen sind, und auch nicht jeden 
einzelnen Schritt, den wir jetzt gehen können. Ich bitte die Ber 
liner, davon überzeugt zu sein, daß die politisch Verantwortlichen 
des Senats, die Bundesregierung und auch die Alliierten alles 
unternehmen werden, damit dieser Abschottungsversuch der
	        
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