Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode
28. Sitzung vom 29. Mai 1980
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Preuss
(A) und daß ca. 35% aller Voranmeldungen auf die Dringlichkeits
stufe 1 entfallen Und nach den bisherigen Erfahrungen wird
dieser Anteil noch weiter steigen. Da die Dringlichkeitsstufe 1,
und das sind wieder Ihre Zahlen, Frau Senatorin, zur Zeit rund
7 000 Vormerkungen umfaßt, muß davon ausgegangen werden,
daß hinsichtlich der vorhin angesprochenen Zahlen zur Erwei
terung des Platzprogrammes künftig nahezu ausschließlich nur
noch Kinder dieser Dringlichkeitsstufe neue Plätze vermittelt
bekommen. Von einer sozialen Mischung und einer Sozialisa
tionsaufgabe der Kindertagesstätten kann unserer Meinung
nach in diesem Zusammenhang nicht mehr geredet werden!
< Wronski (CDU): Der Bankrott der Theorie! >
Es ist erschreckend, meine Damen und Herren, wir reden
deshalb nicht umsonst immer von 20 000 Schicksalen, wenn
wir über die Auswirkungen des Nulltarifs und über die steigen
den Wartelisten sprechen, es ist erschreckend, was wir in Ge
sprächen mit Eltern und Betroffenen, auch übrigens mit Sozial
arbeitern aus den Bezirksämtern, in den letzten Wochen alles
erfahren mußten. Die Ware Kita, die Sie einmal angeboten ha
ben, Frau Reichel, die aber nicht verfügbar ist, die hat zu gro
tesken Erscheinungsformen bei Eltern geführt. Vor Monaten
war es noch überwiegend die leidvolle Klage, ob man sich wohl
erst scheiden lassen müßte, um einen Kita-Platz zu bekommen,
heute müssen wir jedoch beobachten, daß mit allen Mitteln und
Tricks versucht wird, einen Platz zu ergattern. Ich möchte Ihnen
hier einige Beispiele nennen:
Die Dringlichkeitsstufe 1 ist gestaffelt, in a) alleinerziehende
Eltemteile - hiergegen gibt es überhaupt keine Vorbehalte -,
aber auch in b), wenn besondere soziaipädagogische Gründe
bestehen. Dies hat dazu geführt, und dies dürfte Ihnen nicht
unbekannt sein, Frau Senatorin, daß Eltern seit einiger Zeit und
in größer werdendem Umfang medizinische Gutachten vor
legen. daß ihr Kind fast autistisch sei. Amtsärzte weisen dann
aber nach, daß es sich hierbei um Fehldiagnosen, um bewußt
falsche Diagnosen handelt, mit denen man versucht hat, einen
Kindertagesstättenplatz zu ergattern.
Eine weitere Abstufung der Dringlichkeitsstufe 1: „Wenn einer
oder beide Eltemteile sich in der Ausbildung befinden oder eine
Ausbildung aufnehmen wollen“. - Meine Damen und Herren!
Dieses ist die größte Gummiformulierung in der Dringlichkeits
stufe 1. Dies führt auch zu den meisten Mißgriffen. Frauen von
Ärzten, von Direktoren, von Professoren immatrikulieren sich
an der FU oder an der TU. Die Folge davon, sie bekommen die
Dringlichkeitsstufe 1. Der dann abgeschlossene öffentlich-
rechtliche Vertrag über einen Kita-Platz ist unkündbar, man kann
sich in aller Ruhe wieder exmatrikulieren lassen. Dieses sind
keine Visionen, das sind Tatsachen, die es heute bereits in allen
Bezirken gibt.
< Wronski (CDU): Schwarzmarkt! >
Die Folge hieraus ergibt sich eine Reihe von unsozialen,
unvertretbaren Erscheinungen, zum Beispiel die ganz einfache
Tatsache, daß die Dringlichkeitsstufe 2 - Familien, in denen
beide Eltern berufstätig sind - heute praktisch keine Chance
mehr gibt, einen Platz zu bekommen.
< Hiersemann (SPD): So wenig flexibel sind die Bezirksämter
doch gar nicht! >
Eine Familie also, die aus zwei ungelernten Arbeitern besieht,
die zusammen kaum 2 000,- DM im Monat verdienen, die fällt
raus, die geht leer aus, die hat aufgrund dieser Praxis keine
Chance mehr, einen Platz zu bekommen.
Meine Damen und Herren! Wer durch seine Politik derartige
Vorgänge ins Leben ruft und - was noch viel schlimmer ist -
nicht beheben kann, wer durch seine Politik Menschen in Si
tuationen wie die eben geschilderten bringt, der hat seinen
Anspruch, bürgemahe und verantwortungsvolle Politik zu be
treiben, verspielt.
< Beifall bei der CDU >
Die Frage 7 ist die Kontinuität einer Forderung der CDU, die
wir nicht erst seit der Diskussion um die Einführung des Null
tarifs erheben; Aus der Beantwortung einer Fülle von Kleinen
Anfragen, die letzte Antwort liegt uns vom 28. März dieses Jah
res vor, wissen wir. daß auch in dieser Frage bisher zuviel Zeit
verstrichen ist, bevor der Senat mit brauchbaren Lösungen auf
wartet, überhaupt erst aufwarten kann. Ich möchte in diesem
Zusammenhang nur daran erinnern, daß die Frau Senatorin
bereits im November 1978 im zuständigen Ausschuß auf Drän
gen der CDU geäußert hat, daß die durch die Einführung des (C)
Nulltarifs zu erwartenden Probleme für Miniclubs und freie
Träger - wörtlich - in Kürze - November 78! - mit den Betrof
fenen diskutiert werden würden. In diesem Zusammenhang muß
auch darauf verwiesen werden, daß der im Rahmen der Haus
haltsdebatte im vergangenen Dezember angeforderte Bericht
über die Belegsituation in den Miniclubs von Ihrem Hause,
Frau Senatorin, bis heute nicht vorgelegt worden ist. Auch wenn
wir in den letzten Wochen davon gehört haben, daß dies
bezügliche Vereinbarungen nun vor der Tür stehen sollen, halte
ich es im Interesse der wünschenswerten Pluralität für zutiefst
skandalös, daß hierzu ein Zeitraum von anderthalb Jahren not
wendig war. Aus den uns heute vorliegenden Zahlen und den
zwischenzeitlich noch deutlicher erkennbar gewordenen Aus
wirkungen des Nulltarifs müssen wir deshalb zusammenfassen:
Dieses Modell des Senats ist unserer Meinung nach gescheitert!
< Beifall bei der CDU >
Bei ständig wachsenden Vormerklisten sind bis heute auf
grund der vorliegenden Vorstellungen der Frau Senatorin keine
Perspektiven erkennbar, die eine deutliche Wende in dieser
Situation herbeiführen könnten. Eine dauerhafte Weiterführung
der derzeitigen Praxis erscheint uns aus all den genannten
Faktoren heraus zum einen unsozial und zum andern als nicht
den heutigen Anforderungen einer Jugendpolitik, die sich an
den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren muß, gerecht
werdend. Da auch der gestaffelte Kostenbeitrag vor Einführung
des Nulltarifs mit seinen spezifischen Poblemen gezeigt hat,
daß er nicht in der Lage war, diese Erfordernisse zu erfüllen,
bleibt - und wir hoffen, daß auch Ihnen, meine Damen und
Herren, dies langsam deutlich wird -, als Ausweg aus der
verfahrenen Situation nur noch die von der CDU seit langem
geforderte Alternative eines Erziehungsgeldes. Ohne die Dis
kussion der vergangenen Monate in voller Bandbreite wieder
holen zu wollen, möchte ich für meine Fraktion feststellen, daß
wir dieses Erziehungsgeld für Null- bis Dreijährige weiterhin
fordern, weil wir unter anderem, nach wie vor übrigens in Ein
klang mit der herrschenden Meinung in der Fachwelt, den
Standpunkt vertreten, daß Kleinstkinder eine konstante Bezugs
person brauchen, auch um die notwendige Fähigkeit, Beziehun
gen aufzunehmen, überhaupt erst einmal erlernen zu können.
< Beifall bei der CDU - Wronski (CDU):
Selbst Erwachsene brauchen das! >
Bei aller Gegenwehr, die die Damen und Herren von der SPD-
Fraktion in dieser Frage bisher gezeigt haben, bleibt es eine
wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, daß gerade in den er
sten Lebensjahren die Entwicklung der Kinder ganz entschei
dend bestimmt wird und daß diese Entwicklung in hohem Maße
von der Zuwendung der Mutter abhängt. Deshalb werden wir,
meine Damen und Herren, uns nicht davon abbringen lassen,
Müttern, die sich dieser Aufgabe auch wirklich widmen wollen,
durch staatliche Maßnahmen diese Möglichkeit auch zu er
schließen,
< Beifall bei der CDU >
Eine Reihe von Äußerungen der Herren Genscher und Scheel
aus den vergangenen Monaten läßt uns hoffen, daß auch die
Mitglieder der F.D.P.-Fraktion noch eines Tages in diese Rich
tung einlenken werden. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß
dies ein richtiger Schritt in die Richtung einer echten Förderung
der Familie und einer gerechten Behandlung aller Familien mit
Kindern bedeuten kann. Daß es soziale Situationen von Eltern
gibt, die es gar nicht ermöglichen, die Kinder zu Hause zu er
ziehen, und daß es in Familien auch Erziehungsversagen gibt,
das wissen wir. Doch durch diese Fälle, die doch in der Tat
nicht die Regel darstellen, werden wir uns nicht davon abbrin
gen lassen, unsere eigentliche Intention durchzusetzen, näm
lich erstmalig eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Kinder
betreuung und Beruf für all diejenigen Mütter und Väter zu
schaffen, die dieses wirklich auch wollen.
In Zusammenhang mit der von uns geführten Auseinander
setzung über die Probleme im Kindertagesstättenbereich nach
Einführung des Nulltarifs würde ein Erziehungsgeld für Null-
bis Dreijährige auch noch folgende weitere Vorteile mit sich
bringen. Erstens: Durch eine Umwandlung der bisherigen Krip
penplätze in Kita-Plätze würden voraussichtlich einige tausend
zusätzliche Kindergartenplätze ohne zusätzliche Investitions
maßnahmen entstehen. Dieses kann im Einzelfall zu einer Er
weiterung der Tagespflegestellen führen, bei denen uns eine