Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode
26. Sitzung vom 8. Mai 1980
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Hauff
(A) es so haben; dies ist die Richtung, die wir für richtig halten. Das
muß sich allerdings auch bewähren, und wenn es sich nicht be
währt, wäre jeder verantwortungsvolle Politiker auch verpflichtet,
< Zuruf; Zurückzutreten! >
später Korrekturen vorzunehmen. Wir sind die letzten, die Kinder
krankheiten beschönigen wollten, und es hat in den letzten zwölf
Jahren gerade in der Phase der quantitativen Ausdehnung dieses
Schultyps verständlicherweise Kinderkrankheiten gegeben. Wie
gesagt: Wir wollen sie nicht beschönigen - wir wollen sie aber
auch nicht verallgemeinern und vor allem nicht festschreiben. Das
ist eines der Motive, daß wir zum nächsten Schuljahr hoffen, eine
Klärung bestimmter Fragen für die betroffenen Schulen herbei
zuführen.
Ich will auf die baulichen Probleme nicht eingehen. Sie haben
oft die pädagogischen Probleme überlagert, aber wenn ich die
heutige Debatte betrachte, sind wir offensichtlich auch hier auf
dem Wege, diesen Fehler des Überlagerns nicht allzu weit zu
treiben. Deswegen will ich nicht weiter darauf eingehen, vor allem
auch deswegen, weil es Schritte zur Verbesserung gibt. Man ist
daran, die Probleme zu lösen, wie alle Interessierten wissen.
Wir möchten, und dies ist eine Frage, die sich in Richtung Senat
stellt, gern wissen, wann wir mit den neuen Ausführungsvorschrif
ten zu rechnen haben, denn die Praktiker in den Schulen, Schüler,
Lehrer, aber auch Eltern möchten sich rechtzeitig vor dem neuen
Schuljahr auf die neuen Spielregeln einstellen können, möchten
wissen, was sich verändert hat, was ähnlich sein wird. Der auf
merksame Zeitungsleser kann natürlich sehr vieles schon erken
nen, aber es wäre gut, die Ausführungsvorschriften so bald wie
möglich zu bekommen.
Wir erhoffen uns, daß in diesen neuen Regelungen die bis
herigen Erfahrungen ausgewertet werden, daß an der Wirklichkeit
orientierte Rahmenregelungen zustande kommen oder beibehal
ten werden, soweit das geht, und wir halten Flexibilität für einen
sehr hohen Wert, der sich hier niederschlagen sollte; auch mög
lichst viel Eigenverantwortung für die einzelne Schule und - last,
not least - auch möglichst gute pädagogische Bedingungen für
den einzelnen Schüler, wenn ich etwa an die Frage der Bezugs-
(B) person oder auch das Heimatgefühl in der Gruppe der Schüler
denke.
Wer integriert, und dies ist ja im Begriff der Gesamtschule ent
halten, muß auch differenzieren. Es wäre töricht, Differenzierung
insgesamt und pauschal abzulehnen, das würde dem Schultyp
und auch ganz allgemeinen pädagogischen Erkenntnissen wider
sprechen. Ich möchte aber auch klar sagen, daß eine solche
Differenzierung nicht unbedingt ein vertikales Schubladensystem
sein muß; das Ziel dabei muß vielmehr sein, der Lernsituation des
einzelnen Schülers gerecht zu werden, sich daran zu orientieren.
Ich bin ganz sicher, daß wir innerhalb der nächsten Monate hier
Gutes erfahren werden.
Ich habe mich beim Zuhören der Begründung der Großen An
frage gewundert, daß die Kollegin Fluhr jene doch wichtige Schul
ausschuß-Sitzung im September letzten Jahres nicht mehr in Er
innerung hatte, weil ich es auch vom Verfahren her in der bildungs
politischen Auseinandersetzung für fair halte - und das ist ein
gutes Beispiel -, daß man neue Erkenntnisse im parlamenta
rischen Bereich zur Kenntnis gibt. Das hat der Schulsenator da
mals getan, als er am 24.9.1979 sagte, daß Gesamtschulen und
Oberstufen als Dauereinrichtung dann vertretbar seien, wenn sie
sich im Einzelfall bewähren und als lebensfähig erweisen. Das ist
eine Formel, die mir sehr ausgewogen erscheint, die auch in Ber
lin keinen Aufruhr erzeugt hat, und die - wenn ich es recht
beurteile -, heute informell akzeptiert ist. Ich habe bisher keine
grundsätzliche Kritik an einer solch ausgewogenen Marschroute
gehört.
Ich will aber noch einen allgemeineren Gedanken hier hinzu
fügen, weil wir gerade beim Reden über die Gesamtschule immer
wieder der Versuchung widerstehen müssen, uns über äußerliche
Kategorien zu sehr zu erregen:
Schulformen sind wichtig. Ich wäre der Letzte, das zu leugnen,
auch aus Erfahrung. Aber, die Lehrer sind - so meinen manche
Experten - sogar noch wichtiger. Es gibt Experten, die sagen, daß
Lehrer wichtiger als Schulformen sind. Wenn dies richtig ist - ich
teile diese Auffassung -, dann wird man auch gelassener über
Gesamtschulen und andere Schulformen reden, ganz gleichgültig,
ob man dazu kritisch oder positiv eingestellt ist. Ich finde, wir
haben nach wie vor, was das Diskussionsniveau und die Atmo
sphäre angeht, die Chance in unserem Land, gerade in Berlin diese
Fragen weiterzudiskutieren, denn Berlin war und ist Schritt
macher bei der Einführung und der Weiterentwicklung der Ge
samtschule. Unsere positive Zuwendung zur Gesamtschule, poli
tisch und pädagogisch, ist auch in Zukunft gewiß. - Ich danke
Ihnen.
< Beifall bei der SPD und der F.D.P. >
Präsident Lorenz: Das Wort hat der Abgeordnete Kayser.
Kayser (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
alle wissen, daß das Thema Gesamtschule in Berlin je nach poli
tischer Vorprägung ganz bestimmte Raster bei den Zuhörern
entstehen läßt. Die einen gucken nur auf das, was ihnen nicht
gefällt, und die anderen gucken nur auf das, was sie besonders
gut finden, ohne daß eine nüchterne öffentliche Abwägung statt
findet, was im Berliner Gesamtschulsystem überprüfenswert ist.
Die Diskussion in Berlin ist sehr ausgeprägt wegen des sehr
großen Schülerjahrgangsanteils an Siebt- bis Zehntklässlern ei
nerseits und jetzt auch weiter wegen der eingelagerten gymnasi
alen Oberstufen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß alle vor
handenen Schwierigkeiten nicht Schwierigkeiten des Systems Ge
samtschule oder des Prinzips Gesamtschule sind, sondern daß
eine ganze Menge Geburtsfehler und Startprobleme im Nach
hinein im Wege der Reparatur an einem fahrenden Zug gelöst
werden müssen.
Die Schwierigkeiten haben sich im unterrichtlichen und im
curricularen Bereich dadurch ergeben, daß der sehr hohe Anteil
von Berufsanfängern in den quantitativ schlagartig hingestellten
und nicht mit richtiger Personalvorsorge vorbereiteten Schulen
gezwungen wurde, sich während des Einarbeitens in den neuen
Beruf gleichzeitig mit den Schwierigkeiten eines Bausystems zu
beschäftigen, das doch eine ganze Menge ungelöster Probleme
bis heute offengelassen hat. Ich will die Einzelheiten nicht auf
listen, sie sind uns alle bekannt. Es ist bloß die Frage, ob man diese
technischen und strukturellen Anfangsprobleme als typischen
Maßstab dafür nimmt, wie in Berlin Gesamtschule stattfindet oder
Gesamtschule möglich ist.
Die F.D.P. ist der Meinung, daß das Berliner Gesamtschul
system als integriertes System unserem Ideal einer offenen Schule
nahekommt, obgleich eine ganze Menge noch davon abweicht.
Wenn ich nun auf einen Punkt eingehen darf, der in der Begrün
dung angesprochen worden ist und der Frage 3 der CDU zugrunde
liegt: das Thema Halbtagsbetrieb. Wir sind der Meinung, daß es
nicht sinnvoll ist, die Attraktivität eines Schulsystems auf ganz be
stimmte Zeiteinteilungen von Familien oder sozialen Schichten
abzustellen. Eine Schule ist dann gut, wenn sie den Schülern die
beste Möglichkeit bietet, ihre eigenen Fähigkeiten zu entfalten,
und dazu gibt es viele pädagogische und organisatorische Mög
lichkeiten. Es wäre völlig sinnlos zu sagen, nur die Realschule,
nur die Hauptschule oder nur das Gymnasium seien in der Lage,
diesem Prinzip gerecht zu werden. Das Gegenteil ist der Fall, das
heißt, der gleitende Übergang zwischen verschiedenen Leistungs
niveaus während der Entwicklung der individuellen Leistungs
fähigkeit der Schüler ist das Ideal.
Das wird in Berlin zwar gewährleistet, andererseits doch aber
in ein zu enges System gepreßt, aber die damit zusammenhängen
den Probleme werden Gott sei Dank von allen Beteiligten offen
diskutiert. Das geht quer durch alle Lehrerverbände und geht auch
quer durch die betreffenden Mitwirkungsgremien nach dem
Schulverfassungsgesetz: Etwa, ob denn nun das 50-Minuten-
Modell mit den integrierten Hausarbeitszeiten besser ist oder ob
man es ablösen soll durch das 45-Minuten Modell mit extra Zeiten
fürHausarbeiten.obdieHausarbeitenüberhauptim Schulgebäude
selbst abgewickelt werden müssen. Das sind alles Dinge, die man
in die Disposition stellen sollte, Disposition der Schule, wie man
auch - was ich für positiv hielte -davon abgehen sollte, die großen
Lehrkörper der Gesamtschulen in Berlin unbedingt immer über
einen Kamm zu scheren. Es wäre doch nicht schlimm, wenn eine
Gesamtschule nur für 50% ihrer Schüler Halbtagsbetrieb vor
sehen würde. Ich könnte mir gut vorstellen, daß dadurch manche
Strukturprobleme, die in ungünstigen Einzugsbereichen einiger
jetzt in Schwierigkeiten befindlicher Schulen liegen, behebbar
wären. Ich könnte mirgut vorstellen, daß manche Überlastung des
einen oder anderen Gymnasiums oder der einen oder anderen
Realschule sich dadurch abbauen ließe, wenn man an den Ge
samtschulen von dem Zwang zum Ganztagsbetrieb wegkäme und
dadurch eine breitere Verteilung der Schüler besser den jeweili
gen familiären Interessen entsprechend zulassen würde.