Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode
51. Sitzung vom 16. März 1981
Präsident Lummer
desgebiet möglicherweise eine Rechtsungleichheit entstanden
wäre, weil in dieser Zeit keine Bundesgesetze für Berlin hätten
übernommen werden können.
Solche Überlegungen waren ausschlaggebend für den Beschluß
der drei Fraktionen, die Verfassung dahin gehend zu ändern, daß
nicht über eine vorzeitige Auflösung des Parlaments, sondern über
eine vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode beschlossen
wird, dies mit der Folge, daß innerhalb von acht Wochen Neuwah
len stattfinden müssen. Das Abgeordnetenhaus von Berlin bleibt
bis zum Zusammentreffen des neuen Parlaments voll funktions
fähig, und es wird auch nach dem heutigen Beschluß voraussicht
lich noch mindestens einmal zu einer Plenarsitzung Zusammenkom
men.
Ich meine, daß diese Verfassungsänderung im Interesse des Bür
gers erfolgt ist. Die gesetzgeberischen Aufgaben des Parlaments
und seine Kontrollfunktionen gegenüber der Exekutive müssen im
vollen Umfang kontinuierlich wahrgenommen werden.
Die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode wird manchem unse
rer Mitbürger vielleicht als Zeichen der Schwäche unseres parla
mentarischen Regierungssystems erscheinen. Dieser Auffassung
möchte ich nachhaltig widersprechen; denn ich halte es für einen
Ausdruck der Stärke, wenn ein Parlament seinen Auftrag vorzeitig
an den Wähler zurückgibt. Gerade dies ist ja der Unterschied zu
jenen Staatsformen, in denen einmal errungene Macht nur unter
Druck oder gar unter Zwang wieder hergegeben wird.
Frei gewählte Parlamentarier haben ein Mandat auf Zeit. Sie sind
dem Wähler verpflichtet. Sie brauchen das Vertrauen der Bürger;
aber sie können auch dem Bürger vertrauen. Deshalb ist es ein Zei
chen —
[Sprechchöre von der Zuschauertribüne]
- Ich darf die Störer dieser Sitzung bitten, den Raum zu verlassen. -
Ich fordere Sie zum zweiten Mal auf, den Raum zu verlassen.
[Anhaltende Sprechchöre von der Zuschauertribüne]
Meine Damen und Herren, wenn nicht die Bereitschaft besteht,
diese Sitzung störungsfrei ablaufen zu lassen, dann bitte ich den
Ordnungsdienst, unverzüglich die Störer des Raumes zu verwei
sen.
[Weitere Sprechchöre und Zwischenrufe
von der Zuschauerfribüne]
Ich bitte Sie, den Raum zu verlassen, und bitte die Ordner, in an
gemessener Weise nachzuhelfen.
Liebe Kollegen, ich darf wiederholen; Frei gewählte Parlamenta
rier haben ein Mandat auf Zeit; aber sie haben eben ein Mandat.
Weil sie ein Mandat haben, haben sie das Recht, hier zu sein, hier
zu sprechen und hier zu entscheiden. Um ein solches Mandat kann
sich jeder in unserem Land bewerben. Wer nicht bereit ist, sich dem
Votum der Wähler zu stellen, hat auch kein Recht, in diesem Raum
unangemessene Demonstrationen durchzuführen.
[Beifall]
Wir sind dem Wähler verpflichtet. Und es ist deshalb ein Zeichen
hochentwickelten Demokratieverständnisses, wenn wir schon vor
Ablauf der Zeit unser Mandat zurückgeben und eine neue Entschei
dung des Volkes herbeiführen. Diese Entscheidung haben wir uns
nicht leichtgemacht; noch ist sie formal nicht getroffen.
Ich darf die Aussprache über den gemeinsamen Antrag der drei
Fraktionen nun eröffnen und erteile dem Kollegen Diepgen das
Wort.
Diepgen (CDU); Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
stehen vor einer Lehrstunde der Demokratie.
[Beifall bei der CDU]
Vor genau zwei Monaten beendeten Parlamentarier aller drei Frak
tionen das qualvolle Sterben eines Senats und die Ohnmacht eines
handlungsunfähig gewordenen Regierenden Bürgermeisters.
[Beifall bei der CDU]
Durch den erzwungenen Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters (C)
Stobbe demonstriert das Abgeordnetenhaus, daß Regieren in der
Demokratie Herrschaft auf Zeit bedeutet. Der Rücktritt war vorder
gründig ein ganz normaler Vorgang. Das Parlament als Repräsen
tant des Volkes hat eine Regierung abgewählt, die dem Gemein
wohl nicht mehr ausreichend diente.
Man könnte also den Rücktritt von Dietrich Stobbe nach nicht ein
mal vierjähriger Amtszeit als einen Regierungssturz abtun und mit
einer Senatsneuwahl zur Tagesordnung übergehen. Der Parlamen
tarismus hätte - so könnte argumentiert werden - seine Funktions
fähigkeit wieder einmal unter Beweis gestellt. Dabei aber wäre man
an einer wichtigen und notwendigen Erkenntnis vorbeigegangen.
Nicht nur die Regierung entsprach nicht mehr dem Volkswillen. Der
Entzug des Vertrauens für den von Dietrich Stobbe geführten Senat
durch das Abgeordnetenhaus war nur ein Spiegelbild dafür, daß
das Abgeordnetenhaus selbst auch das Vertrauen der Berliner ver
loren hat. Das allein wäre - begründet man es mit Einzelentschei
dungen, wie beispielsweise eine Bürgschaftsangelegenheit - kein
Grund für eine Parlamentsauflösung. In einer repräsentativen De
mokratie dürfen Schwankungen im Wählerwillen nicht sofort zu
einem Verlust der Legitimität eines auf Zeit gewählten Parlaments
führen. Es ist richtig, daß ein Parlament grundsätzlich für eine fest
gesetzte Zeit gewählt wird. Es gibt Stimmungshochs und nach ins
besondere unpopulären Entscheidungen auch Tiefpunkte in der
Wählermeinung. Das Parlament aber muß im Bewußtsein der Unab
hängigkeit von zwischenzeitlichen Schwankungen der Wähler
gunst sach- und nicht stimmungsorientierte Entscheidungen fällen.
Das Parlament, eine Regierung aber darf sich nicht total vom Wäh
lerwillen lösen - das ist die andere Seite der parlamentarischen De
mokratie. Es darf nicht zu einem unüberbrückbaren Widerspruch
zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und dem Parlament kom
men; weder das Parlament noch seine Mehrheit darf sich den Staat
zur Beute machen. Der Parlamentspräsident hat in seinem Beitrag
darauf hingewiesen: Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Das gilt
nicht nur für die Regierung, das gilt auch für das Parlament; denn
beide empfangen ihre Legitimation aus dem ihnen vom Wähler ge
währten Vertrauen. (D)
Die Berliner Verfassung hatte diese materielle Legitimation im
Auge, als sie durch die Instrumente der Selbstauflösung des Parla
ments, des Volksbegehrens und des Volksentscheids, die Möglich
keit schuf, die Herrschaft auf Zeit abzukürzen - eine vorzeitige Auf
lösung des Parlaments aber ist der Ausnahmefall und muß es blei
ben. Das Parlament hat die Pflicht innerhalb einer Legislatur
periode Regierungshandeln und Regierungsfähigkeit sicherzustel
len - in Berlin aber besteht der Ausnahmefall. Die Garski-Millionen,
die Hausbesetzungen und Krawalle um die Jahreswende - übri
gens eine Entwicklung, die sich in diesem Jahr wieder fort
gesetzt hat - waren nicht der Grund für die heute anstehende Ent
scheidung. Sie waren nur Anlaß, ein Mosaikstein unter vielen.
Berlin hat in den vergangenen Jahren Schaden erlitten. Das An
sehen der Stadt hat gelitten, weil Fehler des Senats, Fehler einer
Partei sehr leicht der Stadt insgesamt angelastet werden, übrigens
auch deshalb, weil verantwortliche Politiker - so auch Herr
Dr. Vogel - allzu leichtfertig von einer Krise der Stadt sprechen,
wenn eigentlich nur die Krise des Senats oder einer Partei gemeint
ist.
[Beifall bei der CDU]
Senat und SPD haben es in den vergangenen Jahren dem Berliner
immer schwerer gemacht auf diese - unsere - Stadt stolz zu sein.
Neue Probleme werden stets und überall mit noch mehr Staat, mit
noch mehr Bürokratie beantwortet; immer neue Gesetze, Verord
nungen und Verfügungen sind die Folge. Erstickt werden Bürger
freiheit, Unternehmungsgeist und Risikobereitschaft. Und gerade
das sind wichtige Ursachen für einen weitverbreiteten Bürgerpro
test in dieser Stadt. Mehr Staat und Bürokratie schaffen viel Gele
genheit zu Ämterpatronage und Parteibuchwirtschaft Parteibuch
wirtschaft aber ist die teuerste Wirtschaft, denn es wird Linientreue
und nicht Leistung bezahlt.
[Beifall bei der CDU]
So wird nämlich „Filz“ produziert, den die Berliner Arbeitnehmer mit
ihren Steuergroschen zu bezahlen haben. Und alle Planungen in
Berlin müssen immer größer und teurer sein, ob nun in dieser
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