Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode
42. Sitzung vom 11. Dezember 1980
Schneider, Gerhard
worfen worden ist, daß wir unsere Aufgaben nicht ernst nehmen.
Deshalb sollten wir über Grundlagen und Ziele unseres politischen
Handelns verstärkt reflektieren. Dies beziehe ich sowohl auf das
eigene als auch auf das Handeln des politischen Gegners. Hier
muß ich aber zum Kollegen Landowsky sagen, daß Lautstärke
nicht immer den Inhalt ersetzt. Polemikund Diffamierung ersetzen
auch nicht die Argumente.
[Beifall bei der SPD]
Wenn man einen Haushaltzu beraten hat, dervorder Perspektive
einschneidender Sparmaßnahmen verabschiedet wird, dann sind
die politisch Verantwortlichen ohnehin zu einer Bestandsauf
nahme gezwungen, die gerade in diesem Jahr insofern sehr inter
essant zu werden scheint, als wir es ja mit dem Phänomen einer
Opposition zu tun haben, die sich seit einiger Zeit mit einem ihrer
Spitzenleute darum bemüht, das bisherige Erscheinungsbild eines
nörgelnden Beckmesser-Gedenkvereins-so ungefähr hat sie sich
dargestellt - abzulegen. Die Diskussion kann hier nur an Niveau
gewinnen, und wir sind gespannt auf die weiteren Beiträge. Ich
sage ganz offen und anerkennend: das, was man von Ihrem Fern
kandidaten von Weizsäcker zu lesen und teilweise auch zu hören
war, und das, was Herr Diepgen trotz seines Ausrutschers hier ge
bracht hat, lohnt, sich damit auseinanderzusetzen. Hier stecken
wichtige - aber nicht immer richtige - Ansätze drin. Dies sind auf
jeden Fall ernstzunehmende Äußerungen, Wir scheuen diese Aus
einandersetzungen - auch auf etwas höherem Niveau als bisher-
mit Ihnen nicht. Es gilt hier die übertragene Devise, die wir aus
dem Fußballsport kennen, daß jeder so gut spielt, wie es der
Gegnerzuläßt. Auf das Verhältnis Regierung-Opposition bezogen,
würde ich abwandelnd sagen: Jede Regierung ist so gut, wie es die
Opposition erfordert. So gesehen, kann die Opposition für uns gar
nicht gut genug sein.
[Gelächter bei der CDU - Beifall bei der SPD]
Vor einer Zielbeschreibung und der Mittelauswahl steht im all
gemeinen die Situationsanalyse. Sie fällt - bezogen auf unsere
Stadt - bei vielen außerhalb der Politik stehenden Beobachter zu
nehmend negativ aus. Das sei hier ohne Abstriche nach einer
Durchsicht der Zeitschriften zugegeben. NinaGrunenbergs Artikel
in der „ZEIT“, der vom Tagesspiegel dankenswerterweise über
nommen worden ist - die Berliner Journalisten bringen ja leider
keine Artikel mehr von dieser Qualität -, ist hier zweifellos nicht
atypisch. Viele von ihr und auch von anderen Publizisten aufge
worfene Fragen und Wertungen enthalten sicherlich eine ganze
Menge Körner von Wahrheit. Soweit und so gut. Allerdings er
scheint uns aber auch eine sehr große Portion modischer Pessi
mismus darin zu stecken, der auch geteilt wird von dem Spitzen
kandidaten der Berliner CDU, dem Freiherrn von Weizsäcker, der-
so Nina Grunenberg wörtlich in ihrem Artikel - die Situation Ber
lins zusammengefaßt hat in dem Satz: „Die Lebensfähigkeit Ber
lins nimmt ab. Das ist keine Frage." Nun gut, für einen Wert
konservativen ist dies wahrscheinlich keine Frage. Diese neigen
von Natur aus immerzu einer pessimistischen Betrachtungsweise.
Wenn wir darüber nachdenken, muß man die Frage stellen, ob die
Lebensfähigkeit Berlins tatsächlich abnimmt. Es ist unbestreitbar,
daß es in Berlin ein Bündel von Problemen gibt, für deren Lösung
niemand - auch außerhalb Berlins nicht - Patentrezepte aus der
Tascheziehen kann. Ich nenne hierdie Ausländerproblematik, den
Bereich Bauen und Wohnen, die Drogenszene, Arbeitsplatzpro
bleme, die schwerfällige und nur in Teilbereichen noch voll lei
stungsfähige Verwaltung, die häufig anzutreffende Subventions
mentalität, den Gruppenegoismus einzelner Gruppen in dieser
Stadt, die meinen, auf Kosten anderer von der zu verteilenden
Masse etwas bekommen zu können, und vieles andere. Das sind
zweifelsohne Probleme, die auf dem Tisch liegen. Immer mehr
liegt aber ein Problem aut dem Tisch: das ist eben dieser gepflegte
Pessimismus hinsichtlich der Lebensfähigkeit dieser Stadt.
Abgesehen von diesem letzten Problem, das ich für hausgemacht
halte und bei dem man wirklich an die Disziplin aller derer appellie-'
ren muß, die meines Erachtens diesen Pessimismus leichtfertig
pflegen, sind doch die anderen von mir aufgezählten Komplexe -
wie auch von der CDU in ihrer Wahlanalyse angesprochen und nie
dergeschrieben -, Probleme, wie man sie heute in allen deutschen
Großstädten findet. Auch in allen Ballungszentren der industria
lisierten Welt findet man sie. Von hieraus die These abzuleiten, daß
die Lebensfähigkeit Berlins abnimmt, halte ich für stark über
trieben. Wichtig ist sicher auch die Erkenntnis bei Betrachtung
dieses Problemkatalogs, daß diese Probleme und Schwierigkeiten,
mit denen es heute jede Industriegesellschaft zu tun hat, in Berlin
sich mit einem gewissen zeitlichen Vorsprung und einer sach
lichen Zuspitzung äußern. Richtig ist allerdings auch, daß dieser
ganze Problemkatalog uns viel deutlicher und bewußter wird, je
weniger Berlin unter einem sichtbaren und fühlbaren Druck von
außen steht.
Kurz gesagt: Als es noch um die rein existentielle Überlebens
sicherung dieser Stadt ging, waren die Probleme des Zusammen
lebens in der Stadt eben sekundär. Und in einer Zeit, als das
Chruschtschow-Ultimatum auf dem Tisch lag. hat sich kein Mensch
dafür interessiert, ob sich die Stadtreinigung nun ein Freizeitheim
baut oder nicht-das waren völlig nebensächliche Probleme. Wenn
dies aber wiederum stimmt, kann man doch nicht mehr von einer
abnehmenden Lebensfähigkeit unserer Stadt sprechen; denn der
Kampf um das Überleben nach außen ist für mich noch immer eine
existentiell viel lebensgefährlichere Angelegenheit als die heutige
Situation, wo wir uns auf der Basis einer gesicherten Existenz
Berlins erstmalig vorrangig um die Probleme im Innern zu küm
mern haben. Im Gegenteil: Dieses Bewußtwerden der inneren Pro
bleme aufgrund der größer gewordenen Sicherheit dieser Stadt
ist geradezu ein Beweis dafür, daß die Lebensfähigkeit dieser Stadl
nicht abgenommen hat, sondern daß die Lebensfähigkeit dieser
Stadt dank der sozial-liberalen Ost- und Deutschlandpolitik zuge
nommen hat. Sie hat zugenommen, weil sich die Situation norma
lisiert hat, wobei ich dem Kollegen Diepgen ins Stammbuch
schreiben möchte, daß er schon wieder an einer Legende strickt,
wenn er sagt, wir hätten in 1971 behauptet, nunmehr wäre Berlin
eine normale Stadt. Das ist nie von uns gesagt worden, wir haben
nur-unddas entspricht exakt der Wahrheit-gesagt: Nunmehr ist
ein gewaltiger Schritt hin zur Normalisierung getan worden! Es ist
völlig klar: Eine Stadt, durch die eine Mauer geht; eine Stadt, die
an der Nahtstelle zweier gegensätzlicher Gesellschaftssysteme
liegt; eine Stadt, die von ihrer Umwelt abgeschnitten ist; eine Stadt
mit der Geschichte Berlins kann nie ganz „normal" sein wie Ham
burg oder München oder Köln, sondern sie kann immer nur ein
Höchstmaß an Normalität aufweisen. Dies sei übrigens auch denen
in Bonn einmal ins Stammbuch geschrieben; sie sollten es nicht
vergessen. Dem Finanzsenator sei hier Dank gesagt, daß er dies
denen in Bonn - ziemlich erfolgreich, wie wir meinen, erfolg
reicher als es überhaupt abzuschätzen war - klargemacht hat.
[Beifall bei der SPD und der F.D.P.]
Berlin hat nach wie vor aufgrund seiner Situation einen gewissen
politischen Preis, den man nur bedingt mit Geld ausgleichen kann,
aber an dieser Stelle sollte man es auf jeden Fall berücksichtigen.
Wenn die CDU jetzt einen Beitrag zur Gemeinsamkeit liefern will,
dann kann sie es dadurch, daß sie vorbehaltlos eine globale Ent-
spannungs- und Abrüstungspolitik unterstützt; denn nur das
schafft überhaupt erst einmal die Voraussetzung für eine Berlin-
und Deutschlandpolitik, die wiederum für die weitere Existenz
sicherung dieser Stadt konkrete und praktische Erfolge heraus
holen kann. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die
Rede hinweisen, die Ihr Spitzen-Mann, Franz-Josef Strauß, vor
etwa 14 Tagen in München vor den Frontkämpfer-Vereinen ge
halten hat, wo ersieh zumindest sehr mißverständlich ausgedrückt
hat, was „Friedensliebe" betrifft. Ich meine, über Friedensliebe
braucht man gar nicht zu streiten, die muß absolut vorhanden sein,
und da kann man nicht sagen, daß auch „Friedensliebe nicht be
denkenlos“ sein dürfe. Das ist unmöglich, und wenn Sie einen
Beitrag zur Gemeinsamkeit leisten wollen, dann sorgen Sie zu
nächst einmal dafür, daß in Ihrer Partei nicht solche Äußerungen
getan werden.
[Beifall bei der SPD und der F.D.P.]
Von den Problemen in dieser Stadt halten wir das Ausländer
problem, die soziale Integration der ausländischen Mitbürger in
allen ihren Verwurzelungen und mit Schwierigkeiten in den ver
schiedensten Bereichen der Politik, für das Vordringlichste. Wir
sind uns dabei voll bewußt, daß dieses Vorhaben mit allen seinen
Konsequenzen nicht von vornherein in dieser Bevölkerung mehr
heitsfähig ist. Hier bedarf es noch harter Überzeugungsarbeit -
einer Überzeugungsarbeit, an der Sie sich mitbeteiligen können,
wenn Sie es ernst meinen mit Gemeinsamkeiten. Bloß da, meine
ich, liegt schon wieder ein wesentlicher Unterschied im Ansatz
unserer Politik; denn da las man neulich - Sie sehen, wir haben
uns ausgiebig mit dem befaßt, was Herr von Weizsäcker in letzter
Zeit von sich gegeben hat - in der Zeitschrift „Das Parlament“ von
ihm folgenden Ausspruch:
Ich meine, es fehlt den Parteien, jedenfalls einigen Gremien
in ihnen, nicht an der Erkenntnis dessen, was notwendig ist,
sondern am Zutrauen, das Notwendige auch mehrheits
fähig zu machen.