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Volume Nr. 42, 11. Dezember 1980

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1980/81, 8. Wahlperiode, Band II, 1980/1981, 19.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode 
42. Sitzung vom 11. Dezember 1980 
Schneider, Gerhard 
worfen worden ist, daß wir unsere Aufgaben nicht ernst nehmen. 
Deshalb sollten wir über Grundlagen und Ziele unseres politischen 
Handelns verstärkt reflektieren. Dies beziehe ich sowohl auf das 
eigene als auch auf das Handeln des politischen Gegners. Hier 
muß ich aber zum Kollegen Landowsky sagen, daß Lautstärke 
nicht immer den Inhalt ersetzt. Polemikund Diffamierung ersetzen 
auch nicht die Argumente. 
[Beifall bei der SPD] 
Wenn man einen Haushaltzu beraten hat, dervorder Perspektive 
einschneidender Sparmaßnahmen verabschiedet wird, dann sind 
die politisch Verantwortlichen ohnehin zu einer Bestandsauf 
nahme gezwungen, die gerade in diesem Jahr insofern sehr inter 
essant zu werden scheint, als wir es ja mit dem Phänomen einer 
Opposition zu tun haben, die sich seit einiger Zeit mit einem ihrer 
Spitzenleute darum bemüht, das bisherige Erscheinungsbild eines 
nörgelnden Beckmesser-Gedenkvereins-so ungefähr hat sie sich 
dargestellt - abzulegen. Die Diskussion kann hier nur an Niveau 
gewinnen, und wir sind gespannt auf die weiteren Beiträge. Ich 
sage ganz offen und anerkennend: das, was man von Ihrem Fern 
kandidaten von Weizsäcker zu lesen und teilweise auch zu hören 
war, und das, was Herr Diepgen trotz seines Ausrutschers hier ge 
bracht hat, lohnt, sich damit auseinanderzusetzen. Hier stecken 
wichtige - aber nicht immer richtige - Ansätze drin. Dies sind auf 
jeden Fall ernstzunehmende Äußerungen, Wir scheuen diese Aus 
einandersetzungen - auch auf etwas höherem Niveau als bisher- 
mit Ihnen nicht. Es gilt hier die übertragene Devise, die wir aus 
dem Fußballsport kennen, daß jeder so gut spielt, wie es der 
Gegnerzuläßt. Auf das Verhältnis Regierung-Opposition bezogen, 
würde ich abwandelnd sagen: Jede Regierung ist so gut, wie es die 
Opposition erfordert. So gesehen, kann die Opposition für uns gar 
nicht gut genug sein. 
[Gelächter bei der CDU - Beifall bei der SPD] 
Vor einer Zielbeschreibung und der Mittelauswahl steht im all 
gemeinen die Situationsanalyse. Sie fällt - bezogen auf unsere 
Stadt - bei vielen außerhalb der Politik stehenden Beobachter zu 
nehmend negativ aus. Das sei hier ohne Abstriche nach einer 
Durchsicht der Zeitschriften zugegeben. NinaGrunenbergs Artikel 
in der „ZEIT“, der vom Tagesspiegel dankenswerterweise über 
nommen worden ist - die Berliner Journalisten bringen ja leider 
keine Artikel mehr von dieser Qualität -, ist hier zweifellos nicht 
atypisch. Viele von ihr und auch von anderen Publizisten aufge 
worfene Fragen und Wertungen enthalten sicherlich eine ganze 
Menge Körner von Wahrheit. Soweit und so gut. Allerdings er 
scheint uns aber auch eine sehr große Portion modischer Pessi 
mismus darin zu stecken, der auch geteilt wird von dem Spitzen 
kandidaten der Berliner CDU, dem Freiherrn von Weizsäcker, der- 
so Nina Grunenberg wörtlich in ihrem Artikel - die Situation Ber 
lins zusammengefaßt hat in dem Satz: „Die Lebensfähigkeit Ber 
lins nimmt ab. Das ist keine Frage." Nun gut, für einen Wert 
konservativen ist dies wahrscheinlich keine Frage. Diese neigen 
von Natur aus immerzu einer pessimistischen Betrachtungsweise. 
Wenn wir darüber nachdenken, muß man die Frage stellen, ob die 
Lebensfähigkeit Berlins tatsächlich abnimmt. Es ist unbestreitbar, 
daß es in Berlin ein Bündel von Problemen gibt, für deren Lösung 
niemand - auch außerhalb Berlins nicht - Patentrezepte aus der 
Tascheziehen kann. Ich nenne hierdie Ausländerproblematik, den 
Bereich Bauen und Wohnen, die Drogenszene, Arbeitsplatzpro 
bleme, die schwerfällige und nur in Teilbereichen noch voll lei 
stungsfähige Verwaltung, die häufig anzutreffende Subventions 
mentalität, den Gruppenegoismus einzelner Gruppen in dieser 
Stadt, die meinen, auf Kosten anderer von der zu verteilenden 
Masse etwas bekommen zu können, und vieles andere. Das sind 
zweifelsohne Probleme, die auf dem Tisch liegen. Immer mehr 
liegt aber ein Problem aut dem Tisch: das ist eben dieser gepflegte 
Pessimismus hinsichtlich der Lebensfähigkeit dieser Stadt. 
Abgesehen von diesem letzten Problem, das ich für hausgemacht 
halte und bei dem man wirklich an die Disziplin aller derer appellie-' 
ren muß, die meines Erachtens diesen Pessimismus leichtfertig 
pflegen, sind doch die anderen von mir aufgezählten Komplexe - 
wie auch von der CDU in ihrer Wahlanalyse angesprochen und nie 
dergeschrieben -, Probleme, wie man sie heute in allen deutschen 
Großstädten findet. Auch in allen Ballungszentren der industria 
lisierten Welt findet man sie. Von hieraus die These abzuleiten, daß 
die Lebensfähigkeit Berlins abnimmt, halte ich für stark über 
trieben. Wichtig ist sicher auch die Erkenntnis bei Betrachtung 
dieses Problemkatalogs, daß diese Probleme und Schwierigkeiten, 
mit denen es heute jede Industriegesellschaft zu tun hat, in Berlin 
sich mit einem gewissen zeitlichen Vorsprung und einer sach 
lichen Zuspitzung äußern. Richtig ist allerdings auch, daß dieser 
ganze Problemkatalog uns viel deutlicher und bewußter wird, je 
weniger Berlin unter einem sichtbaren und fühlbaren Druck von 
außen steht. 
Kurz gesagt: Als es noch um die rein existentielle Überlebens 
sicherung dieser Stadt ging, waren die Probleme des Zusammen 
lebens in der Stadt eben sekundär. Und in einer Zeit, als das 
Chruschtschow-Ultimatum auf dem Tisch lag. hat sich kein Mensch 
dafür interessiert, ob sich die Stadtreinigung nun ein Freizeitheim 
baut oder nicht-das waren völlig nebensächliche Probleme. Wenn 
dies aber wiederum stimmt, kann man doch nicht mehr von einer 
abnehmenden Lebensfähigkeit unserer Stadt sprechen; denn der 
Kampf um das Überleben nach außen ist für mich noch immer eine 
existentiell viel lebensgefährlichere Angelegenheit als die heutige 
Situation, wo wir uns auf der Basis einer gesicherten Existenz 
Berlins erstmalig vorrangig um die Probleme im Innern zu küm 
mern haben. Im Gegenteil: Dieses Bewußtwerden der inneren Pro 
bleme aufgrund der größer gewordenen Sicherheit dieser Stadt 
ist geradezu ein Beweis dafür, daß die Lebensfähigkeit dieser Stadl 
nicht abgenommen hat, sondern daß die Lebensfähigkeit dieser 
Stadt dank der sozial-liberalen Ost- und Deutschlandpolitik zuge 
nommen hat. Sie hat zugenommen, weil sich die Situation norma 
lisiert hat, wobei ich dem Kollegen Diepgen ins Stammbuch 
schreiben möchte, daß er schon wieder an einer Legende strickt, 
wenn er sagt, wir hätten in 1971 behauptet, nunmehr wäre Berlin 
eine normale Stadt. Das ist nie von uns gesagt worden, wir haben 
nur-unddas entspricht exakt der Wahrheit-gesagt: Nunmehr ist 
ein gewaltiger Schritt hin zur Normalisierung getan worden! Es ist 
völlig klar: Eine Stadt, durch die eine Mauer geht; eine Stadt, die 
an der Nahtstelle zweier gegensätzlicher Gesellschaftssysteme 
liegt; eine Stadt, die von ihrer Umwelt abgeschnitten ist; eine Stadt 
mit der Geschichte Berlins kann nie ganz „normal" sein wie Ham 
burg oder München oder Köln, sondern sie kann immer nur ein 
Höchstmaß an Normalität aufweisen. Dies sei übrigens auch denen 
in Bonn einmal ins Stammbuch geschrieben; sie sollten es nicht 
vergessen. Dem Finanzsenator sei hier Dank gesagt, daß er dies 
denen in Bonn - ziemlich erfolgreich, wie wir meinen, erfolg 
reicher als es überhaupt abzuschätzen war - klargemacht hat. 
[Beifall bei der SPD und der F.D.P.] 
Berlin hat nach wie vor aufgrund seiner Situation einen gewissen 
politischen Preis, den man nur bedingt mit Geld ausgleichen kann, 
aber an dieser Stelle sollte man es auf jeden Fall berücksichtigen. 
Wenn die CDU jetzt einen Beitrag zur Gemeinsamkeit liefern will, 
dann kann sie es dadurch, daß sie vorbehaltlos eine globale Ent- 
spannungs- und Abrüstungspolitik unterstützt; denn nur das 
schafft überhaupt erst einmal die Voraussetzung für eine Berlin- 
und Deutschlandpolitik, die wiederum für die weitere Existenz 
sicherung dieser Stadt konkrete und praktische Erfolge heraus 
holen kann. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die 
Rede hinweisen, die Ihr Spitzen-Mann, Franz-Josef Strauß, vor 
etwa 14 Tagen in München vor den Frontkämpfer-Vereinen ge 
halten hat, wo ersieh zumindest sehr mißverständlich ausgedrückt 
hat, was „Friedensliebe" betrifft. Ich meine, über Friedensliebe 
braucht man gar nicht zu streiten, die muß absolut vorhanden sein, 
und da kann man nicht sagen, daß auch „Friedensliebe nicht be 
denkenlos“ sein dürfe. Das ist unmöglich, und wenn Sie einen 
Beitrag zur Gemeinsamkeit leisten wollen, dann sorgen Sie zu 
nächst einmal dafür, daß in Ihrer Partei nicht solche Äußerungen 
getan werden. 
[Beifall bei der SPD und der F.D.P.] 
Von den Problemen in dieser Stadt halten wir das Ausländer 
problem, die soziale Integration der ausländischen Mitbürger in 
allen ihren Verwurzelungen und mit Schwierigkeiten in den ver 
schiedensten Bereichen der Politik, für das Vordringlichste. Wir 
sind uns dabei voll bewußt, daß dieses Vorhaben mit allen seinen 
Konsequenzen nicht von vornherein in dieser Bevölkerung mehr 
heitsfähig ist. Hier bedarf es noch harter Überzeugungsarbeit - 
einer Überzeugungsarbeit, an der Sie sich mitbeteiligen können, 
wenn Sie es ernst meinen mit Gemeinsamkeiten. Bloß da, meine 
ich, liegt schon wieder ein wesentlicher Unterschied im Ansatz 
unserer Politik; denn da las man neulich - Sie sehen, wir haben 
uns ausgiebig mit dem befaßt, was Herr von Weizsäcker in letzter 
Zeit von sich gegeben hat - in der Zeitschrift „Das Parlament“ von 
ihm folgenden Ausspruch: 
Ich meine, es fehlt den Parteien, jedenfalls einigen Gremien 
in ihnen, nicht an der Erkenntnis dessen, was notwendig ist, 
sondern am Zutrauen, das Notwendige auch mehrheits 
fähig zu machen.
	        
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