Path:
Volume Nr. 41, 10. Dezember 1980

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1980/81, 8. Wahlperiode, Band II, 1980/1981, 19.-53. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode 
41. Sitzung vom 10. Dezember 1980 
1758 
Dr. Lehmann-Brauns 
(A) Herr Senator, Sie haben zur Beruhigung meiner Partei heute mit 
geteilt, daß Sie nicht beabsichtigen, weitere Hauptschulen zu 
schließen. Das ist meiner Ansicht nach das Mindeste an Therapie. 
Ich frage mich und Sie, welches Gewicht hat diese Feststellung, 
wenn der Vorsitzende unseres Schulausschusses, Alexander Lon- 
golius, in der sicherlich auch Ihnen bekannten Broschüre zur 
Hauptschule, die von einer sozialistischen Schülervereinigung 
veröffentlicht worden ist, mit der tiefsinnigen Begründung: Doof 
geboren ist keiner, die auch noch vom Grips-Theater entliehen 
wurde, zu der Patentlösung kommt, daß „nur Abschaffen hilft". 
Gemeint ist die Hauptschule. Wir haben die Diskussion um die 
Hauptschule nicht verlangt, um Meinungsverschiedenheiten in 
nerhalb der Koalition bewußt zu machen - allerdings auch nicht, 
um sie zu glätten sondern wir müssen von der Möglichkeit aus 
gehen, daß sich in der Koalition auch einmal der größere Koali 
tionspartner durchsetzt. Dies bedeutet die Abschaffung der Haupt 
schule. Das wäre - meiner unmaßgeblichen Meinung nach - ver 
hängnisvoll. Die Hauptschule abzuschaffen, weil sie krank ist, 
ist nicht einmal Sozialdemokratismus; das ist Sozialdarwinismus: 
„Wer fällt, den stoße man“. 
Herr Kollege Longolius, ich weiß, daß Sie persönlich damit falsch 
etikettiert werden. 
[Hauff (SPD): Auch in Biologie sind Sie nicht gut!] 
- Wollen Sie Ihre Konzentration zu einer Zwischenfrage bündeln, 
Herr Kollege Hauff?-Das ist nicht der Fall! Ich danke Ihnen. 
[Beifall bei der CDU] 
Ich glaube nicht, daß Herr Kollege Longolius mit dem Etikett So 
zialdarwinist aus dem Raum gehen sollte. Er will ja auch die Ge 
samtschulen trotz der vielen Schwächen und Defizite nicht ab 
schaffen. 
[Beifall bei der CDU] 
Es bleibt ein unangenehmer Eindruck von der rüden und salop 
pen Art und Weise mit der Sozialdemokraten, die dem linken 
Spektrum angehören, mit dieser Krankheit in unserem Schul 
system umgehen. Dies anstatt mit einer wirklichen Bestandsauf 
nahme zu beginnen, unter Einschluß der Tatsachen, daß der Senat 
(B) in den letzten zehn Jahren acht Hauptschulen geschlossen hat. 
und so Klassenfrequenzen hochblieben, daß der Senat auch des 
halb beigetragen hat zur Malaise der Hauptschule, daß er ihre 
Anforderung entweder zu hoch angesetzt oder zu unspezifisch 
festgelegt hat. Es ist nicht anders zu erklären, daß nur 60 % den 
Abschluß schaffen. Sie wissen aber, 70 % unserer ausländischen 
Bürger, die die Hauptschule besuchen, schaffen dies nicht. 
[Hauff (SPD): Stimmt nicht!] 
- Wenn ich das schwarze Schleswig-Holstein, Herr Hauff, ver 
gleiche, muß ich feststellen, daß dort nur 13 % den Abschluß nicht 
schaffen. Das ist an sich eine vorbildliche Zahl. Die angemessene 
Reaktion, eine Veränderung der Anforderungen und Verkleine 
rung der Klassen, erfolgt nicht. Statt dessen wird das Patentrezept 
d^r Sozialdemokraten angewandt: Schließung der Hauptschulen 
und Überweisung an die Gesamtschulen durchzuführen. Ich habe 
mich gefreut, Herr Senator Rasch, daß Sie ausdrücklich diesen 
Lösungsweg als falsch bezeichnet haben. Für die Schüler ist die 
Schließung von Hauptschulen verhängnisvoll. Warum? Die Lei 
stungsanforderungen der Gesamtschulen sind höher als die der 
Hauptschule. Angesichts der Negativquoten, die wir jetzt schon 
in der Hauptschule haben, müßten diese in Zukunft noch größer 
werden. Es ist also leicht vorzustellen, was aus den vielen auslän 
dischen Hauptschülern würde, wenn Sie sie in Gesamtschulen 
schickten. Aus den Gesamtschulen würden Hauptschulen. Das 
Problem würde aus den Hauptschulen in die Mittelstufenzentren 
verschoben, aber damit leider nicht gelöst. 
[Ulzen (CDU): Richtig!] 
Ich komme jetzt zu einer Frage, die heute hier auch schon eine 
Rolle gespielt hat: Bildungszweck der Hauptschule. Wir sind als 
CDU-Fraktion in der Tat der Ansicht, daß die Hauptschule die be 
sondere Aufgabe hat, praktische Begabungen zu einem ange 
messenen Abschluß zu führen. 
[Hauff (SPD); Was ist das?] 
Der wesentliche Beisatz dazu ist, daß die Hauptschule durchläs 
sig sein muß. Die Hauptschule muß - sie tut es auch - denen die 
Möglichkeit zur Veränderung geben, die im Verlauf ihrer Schul 
zeit bei sich eine theoretische Präferenz feststellen. Zu besseren 
Zeiten war die Hauptschule die Zubringerschule für die betrieb 
liche Lehre. Sie werden sagen, das ist reaktionäre CDU-Rederei. 
Die Frankfurter Rundschau beklagt dies aber auch. Dahinter ({ 
steckt die einfache Wahrheit, daß nicht jede Verschiedenartigkeit 
des Menschen abgebaut werden kann und daß praktische Präfe 
renzen nicht unbedingt in theoretische umgeleitet werden müs 
sen. Wir sind in der Tat hier an einem Punkt, der meine Partei zu- 
mindestens von den Sozialdemokraten grundsätzlich trennt: 
möglichst gleiche Programmierung für möglichst gleiche Pro 
dukte - wenn ich so Ihren Standpunkt formulieren darf. Dahinter 
steht schrankenloser Bildungsoptimismus. Wir halten dagegen, 
daß nicht alle Probleme des Menschen sozial oder hygienisch lös 
bar sind. Der Mensch lebt vom Buch allein. Wir hüten uns - im 
ewigen Unterschied zu den Linken aller Schattierungen -, jene so 
zialen Herkunftsfaktoren zu verabsolutieren, ohne allerdings 
ihren prägenden Einfluß zu verkennen. Wir behalten unsere Zwei 
fel gegenüber einem Menschenbild bei, das den Kollektiv- und 
Normalmann als die höchste und letzte Stufe menschlicher Ent 
wicklung begrüßt. 
Die Koalition wird vielleicht versuchen, auf einen Widerspruch 
unserer Argumentation aufmerksam zu machen: einerseits bekla 
gen wir die Leistungsunfähigkeit der Hauptschule, andererseits 
kritisieren wir die zu hohen Anforderungen. Ein Widerspruch liegt 
aber nicht vor. Meiner Ansicht nach liegt die Leistunsfähigkeit in 
der Hauptschule darin, daß die Anforderungen zu hoch oder min 
destens zu unspezifisch sind. Den Beweis hierfür erbringt die 
Stundentafel. Vorgesehen sind für die Hauptschüler der Klassen 
neun und zehn zwei Stunden Deutsch pro Woche und sechs Stun- m 
den Politische Weltkunde im weiteren Sinne. Meine Damen und “ 
Herren, vergegenwärtigen Sie sich das gegenwärtige Schüler 
publikum der Hauptschule, über das wir hier mehrfach gespro 
chen haben: eine Menge unintegrierbarer Ausländer, viele, viele 
Berliner Schüler mit Lernschwierigkeiten. Diesen setzt man aber 
in der Woche sechs Stunden Politische Weltkunde vor und nur 
zwei Stunden Deutsch. Was wunder, daß man die Hauptschule 
eine falsche Programmierung nennt! 
Politische Mündigkeit oder Emanzipation dies vergißt die 
Koalition oft - haben ihre Voraussetzungen. Diese können nicht 
nur erreicht werden durch Schulung in Gewerkschaften. Sie hän 
gen zusammen mit Mundfertigkeit oder Ausdrucksfähigkeit. Das 
heißt, auch mit der Beherrschung der eigenen Sprache. Die Ver- ' 
nachlässigung dieser Voraussetzungen führt in die sinnleere 
Phrasenbeweglichkeit. Der Zugvogel der Aufklärung, meine Da 
men und Herren, war noch nie der Papagei. Bis in unser Jahrhun 
dert hinein hieß es, wer Latein beherrscht, gehört zur Oberschicht. 
Wir haben aber das Denken in Schichten und Klassen nicht abge 
schafft, um die Errungenschaften der europäischen Kultur ver 
kümmern zu lassen, sondern doch gerade deshalb, um sie mög 
lichst vielen zugänglich zu machen. 
[Beifall bei der CDU] 
Die eigene Sprache gehört aber zu diesen Grundlagen. Deshalb gt 
unser Vorschlag, Politische Weltkunde zugunsten des Faches fff 
Deutsch in diesen beiden Klassen zu reduzieren. 
Ich komme zum Schluß. Die fortschreitende Zerstörung der 
Hauptschule hat - paradoxerweise - auch die fortschreitende 
Zerstörung ihrer scheinbar siegreichen Konkurrentin, der Ge 
samtschule, zur Folge. In zunehmendem Maß bemühen sich deut 
sche Schüler, von der Hauptschule weg in die personell und sach 
lich besser ausgestattete Gesamtschule zu gelangen. Das tan 
giert nicht nur das gar nicht schützenswerte Elitebewußtsein 
manches Gesamtschulleiters, es berührt und verletzt einen we 
sentlichen Leitgedanken der Gesamtschule, der uns erhaltens 
wert scheint, nämlich den der schichtenübergreifenden Integra 
tion. Der Anteil von Schülern aus dem Hauptschulbereich in den 
Gesamtschulen liegt bereits jetzt bei 80 %; der Zustrom wächst, 
das Niveau sinkt, die Gesamtschule kann ihre Integrationsauf 
gabe heute kaum noch erfüllen. Sie wird gegen ihren Willen - 
allerdings mit dem Willen vom Kollegen Longolius - zur Haupt 
schule. Dadurch wird aber die Neigung anderer als Hauptschul- 
empfohlener Schüler, in die Gesamtschule zu gehen, weiter ab 
nehmen. Hierdurch erklärt sich der überdurchschnittliche An 
drang der Berliner Schüler auf die Gymnasien. Hilfe für die Haupt 
schule, meine Damen und Herren, heißt deshalb auch Hilfe für die 
Integrationsgedanken der Gesamtschule und Entlastung der 
Gymnasien. - Ich habe versucht, die Zusammenhänge zu zeigen, 
Aufgabe des Senats ist es, sie wieder herzustellen. - Ich danke 
Ihnenl 
[Beifall bei der CDU]
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.