Abgeordnetenhaus von Berlin - 8. Wahlperiode
5. Sitzung vom 14. Juni 1979
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Vetter
(A) konkreten Einzelmaßnahmen deutlich gemacht, wofür er unsere
volle Zustimmung findet.
< Zuruf von der CDU: Wo denn? >
— Dann haben Sie die Regierungserklärung aber nicht gehört und
auch nicht nachgelesen!
< Beifall bei der F.D.P. und der SPD >
Da sind die Einzelmaßnahmen aufgeführt — und Ihr Kollege, Herr
von Weizsäcker, hat ausdrücklich darauf hingewiesen; er hat nur
gesagt, daß diese Einzelmaßnahmen alle in die Politik eingebettet
sind, daß dies die Fortsetzung von konkreten Maßnahmen ist.
< Diepgen (CDU): Aber sehr dünn! —
Wronski (CDU): Belegstelle! >
— Ich kann ja nichts dafür, wenn Sie nicht hören und lesen
können; das tut mir leid! — Der Regierende Bürgermeister hat die
Aufgaben der nächsten Jahre anhand der konkreten Einzelmaß
nahmen deutlich gemacht. Das sage ich noch einmal ausdrück
lich!
Die zweite Voraussetzung betrifft die sichere wirtschaftliche
Lage der Stadt. Trotz aller strukturellen Schwierigkeiten, die nicht
geleugnet werden können und deren Überwindung weiterhin im
Mittelpunkt der Politik des Senats stehen wird, hat Berlin ein Maß
an wirtschaftlicher Stabilität erreicht — das kann man auch einmal
mit Stolz sagen —, um das uns manche bundesdeutsche Region
beneidet. Wer in den letzten Wochen und Monaten die Zeitungen
studiert hat, weiß, daß die Fachleute die Prognose für die
Entwicklung der Berliner Wirtschaft im Vergleich zum Bundes
gebiet als positiv bezeichnen. Den wirtschaftlichen Gleichschritt
mit dem übrigen Bundesgebiet hat erst kürzlich der Bundesver
band der Deutschen Industrie - der wird Ihnen wohl unverdächtig
sein - festgestellt.
< Feilcke (CDU); Na, wenn Sie ihn zitieren! >
Berlin hat 1978 Waren im Wert von 24,1 Milliarden DM bezogen
(B) und Waren im Wert von 23,4 Milliarden DM geliefert, das heißt:
97 % der Bezüge waren durch eigene Lieferungen gedeckt. Der
Erkenntnis dieses Bundesverbandes, Zweifel an einer mangelnden
Wettbewerbsfähigkeit der Berliner Industrie seien nicht gerecht
fertigt, ist nichts hinzuzufügen.
Ich weiß sehr wohl, meine Damen und Herren — und wieder
hole, was ich vor zwei Jahren gesagt habe —, daß erfolgreiche
Wirtschaftspolitik in unserer Gesellschaftsordnung nicht allein von
der Regierung betrieben werden kann, obwohl jede Schließung
oder Reduzierung eines Betriebs in Berlin der Regierung von
seiten der Opposition angelastet wird. Aber hier kommt es darauf
an, daß die Rahmenbedingungen vorgegeben werden, die der
Wirtschaft ein Tätigwerden interessant machen. Deshalb ist die
Leistungsfähigkeit und die Stabilität der Berlinförderung eine der
wichtigsten Voraussetzungen für unternehmerisches Engagement.
Darum ist es zu beachten — und ich würde auch sagen: zu
begrüßen —, daß die Organisation der Wirtschaft, der in Berlin
besondere Bedeutung zukommt — die Industrie- und Handels
kammer - erklärt: Auf absehbare Zeit müsse nunmehr Ruhe an
der Front der Berlinförderungsgesetzgebung herrschen, um das
vielfältige Instrumentarium der steuerlichen und sonstigen Anreize
auszuschöpten! Unser Wirtschaftssenator hat in den letzten vier
Jahren erfolgreich das zur Verfügung stehende Instrumentarium,
besonders der Berlinförderung, angewandt und ausgebaut. Jetzt
gilt es, diesen Weg beharrlich weiterzugehen, damit vor allem
eines erreicht wird; damit die Arbeitsplätze erhalten und neue
hinzugewonnen werden. Damit können die Grundlagen der Stadt,
ihre politische und wirtschaftliche Stabilität, die früher weite
Bereiche einer jeden Parlamentsdebatte ausfüllfen, heute schlicht
als gegeben angesehen werden. Gerade dieser ganz und gar
normale Zustand ist das sichere Fundament, das die Hinwendung
zu einer aktiven Stadtpolitik erst ermöglicht.
Die Hinwendung zu einer aktiven Stadtpolifik wird von der
F.D.P.-Fraktion aber auch verstanden als Hinwendung zu einer
bürgernahen Stadtpolitik. Niemand sollte die Warnsignale des
Wahlergebnisses übersehen: Drückt doch jede Stimme, die nicht
den hier vertretenen Parteien gegeben wird, Unzufriedenheit mit
der von uns allen betriebenen Politik aus. Ich möchte allerdings an
dieser Stelle nicht das Rechenkunststück meines Vorredners, (C
Herrn von Weizsäcker, wiederholen;
< Diepgen (CDU): Dazu sind Sie gar nicht
in der Lage! >
denn wenn ich dieses Zahlenspiel sehe, dann muß ich doch zu
dem Ergebnis kommen, daß Sie, wenn Sie mit 50,5 oder 51 % der
abgegebenen Stimmen die Mehrheit erhalten hätten, sich außer
stande gesehen hätten — da Sie dann auch nur höchstens 42 %
der Stimmen aller Wahlberechtigten gehabt hätten —, überhaupt
die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Was ist das für ein
seltsames demokratisches Mehrheitsverständnis?
< Beifall bei der F.D.P. und der SPD >
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion versteht das
Wahlergebnis als Herausforderung, sich noch stärker als bisher
ohnehin schon den Forderungen und konkreten Bedürfnissen der
Bevölkerung zu widmen;
< Diepgen (CDU); Der Minderheit! >
denn Ausdruck des Zustands der Normalität ist es auch, daß
heute nicht mehr primär um hehre Prinzipien gestritten wird,
sondern um ein Optimum an Befriedigung von sich überlagernden,
überschneidenden und häufig auch divergierenden Interessen.
Dabei kann die Stadtpolitik nur dann bürgernah genannt werden,
wenn der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht. Für die F.D.P.-
Fraktion ist diese Maxime absolut verpflichtend. Der Bürger mit
seinen Bedürfnissen darf nicht nur im Wahlkampf Ziel politischer
Aussagen sein, sondern muß es auch nach der Wahl bleiben.
Diese Maxime war auch der Leitfaden bei den Koalitionsverhand
lungen. Die F.D.P. ist sich bewußt, daß 8,1 Prozent keine
50 Prozent waren;
< Feilcke (CDU): Aber für euch reicht's doch! >
nicht alles, was aus liberaler Sicht wünschenswert ist, läßt sich
deshalb durchsetzen. Gleichwohl — darüber lasse ich auch keinen
Zweifel — begrüßt die F.D.P. dieses Wahlergebnis, weil ihr erstes
Wahlziel erreicht worden ist, nämlich keine Partei dürfe die (Dl
absolute Mehrheit erreichen; denn nach wie vor gilt für uns:
Absolute Mehrheiten erzeugen absolute Meinungen.
< Rösler (CDU): Haben Sie denn keine
absolute Meinung? —
Wronski (CDU): Wie in England! >
— Meine Damen und Herren von der CDU! Ich weiß, Sie
gefallen sich, wenn es Ihnen gerade paßt, die F.D.P. als
Anhängsel der SPD zu bezeichnen, und wenn es gebraucht wird,
sagen Sie das Gegenteil! Wenn Sie aufmerksam die Presse
verfolgten — nicht nur „Rundschauen “ —, müßten Sie feststellen,
daß nach allgemeiner Auffassung die liberale Handschrift in den
Koalitionsvereinbarungen deutlich zu erkennen ist.
< Zuruf von der CDU: Auweia! — Feilcke (CDU);
Die Handschrift mag es ja sein, aber der Inhalt nicht! —
Diepgen (CDU): Das ist doch nicht liberal,
sondern es ist die F.D.P.-Handschrift!
Diese Unterscheidung bitte ich doch zu machen! >
— Das mag Ihre Version sein, meine Damen und Herren! Wir sind
bereit, uns jederzeit dem Votum der Wähler wieder zu stellen. Ich
finde es aber geradezu perfide, wenn die CDU, die der F.D.P. in
der vorigen Legislaturperiode mehrfach vorwarf, zum Beispiel das
Problem der Eigenbetriebe nur zu artikulieren, aber nicht anzu
packen, jetzt nach erfolgreichem Abschluß der Koalitionsverein
barungen.
< Feilcke (CDU): Nur für euch erfolgreich! >
plötzlich von einer Erpressung der SPD durch die F.D.P. spricht.
Durch ein so eigenartiges Demokratieverständnis rechtfertigt die
CDU noch nachträglich die Koalitionsaussage der F.D.P. Wie soll
eine bürgernahe Politik praktiziert werden, wenn beim politischen
Meinungsaustausch die Kategorie der Erpressung zugrunde gelegt
wird? — Selbstverständlich gilt bei jeder Koalitionsumsetzung, daß
beide Fraktionen von unterschiedlichen Ansätzen ausgehen,
< Wronski (CDU): Was habt ihr denn nun vereinbart?
Sagen Sie's doch mal! >