Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode
51. Sitzung vom 10. März 1977
ser Gefahr im Bereich des Regierungslagers in Bonn er
legen seien. Aber es gibt solche, die dieser Gefahr und Ver
suchung erlegen sind. Herr Bahr ist es mit Sicherheit und
der „Vorwärts“ auch.
Es kommt dann die Frage, wo gesagt werden kann, daß
mehr Menschenrechte eine Zumutung für die Regime sein
könnten. Xm „Vorwärts“ lesen wir die Formulierung, daß
man Ostberlin — wieder im Zusammenhang mit den Stra
ßenbenutzungsgebühren — keine „entspannungspolitischen
Tonnengewichte“ zumuten könne. Dies ist der kritische
Punkt, und hier sind ganz gewiß die Meinungsverschieden
heiten zwischen uns vorhanden, die sich also eindeutig auf
die Frage der Gegenmaßnahmen beziehen.
Ich will nun den Versuch machen, ein paar Dinge anzu
deuten, die dafür in Frage kommen, damit wir hier nicht
in Alternativen denken zwischen Panzereinsatz und Nichts
tun; das ist nicht die Frage. Wie sieht dieser Rahmen für
Gegenmaßnahmen aus, und wie ist er ausgeschöpft wor
den?
Wir haben damals hier jenes Beispiel der Besteuerung
der Lkw aus Ostberlin und der DDR offeriert, dies ist nicht
getan worden. Ich weiß, da gibt es juristische Gründe, die
hier den Fall schwerwiegender erscheinen lassen, als wenn
es etwa um die CSSR, Bulgarien oder andere osteuro
päische Länder ginge. Aber es gibt Lösungsmöglichkeiten.
Das Ziel dieser Gegenmaßnahme soll ja nicht sein, daß wir
nun auch alle Fahrzeuge aus dem Osten besteuern, son
dern das Ziel dieser Gegenmaßnahme soll eigentlich sein
— und wir haben es damals gesagt —, daß beide Seiten zu
einer Vereinbarung über den Verzicht auf solche Gebühren
und Steuern, die erhoben werden, kommen. Aber zu einem
solchen Ergebnis kann man nur kommen, wenn man auf
unserer Seite zunächst einmal dazu entschlossen ist, Ge
genseitigkeit zu praktizieren. Dies hat die Bundesregie
rung nicht getan, dies wäre aber eine vernünftige Maß
nahme, und wenn ich hier nur eine Stimme zitieren darf,
so ist es Jens Feddersen — der ja nicht unserer Partei an
gehört —, der dies genau so sieht.
Ein zweiter Punkt: Es ist im vergangenen Jahr gesagt
worden, wirtschaftliche Sanktionen kämen nicht in Frage.
So einfach kann man sich das nicht machen, denn es steht
doch nirgendwo geschrieben — und jeder Politiker bei uns
wäre töricht, wenn er es unterstellte —, daß in den 80er
Jahren der Swing im Interzonenhandel genauso aussehen
muß wie jetzt. Das kann mehr sein für etwas, das kann
aber auch weniger sein, weil etwas geschehen muß. Die
Bundesregierung hätte zumindest die Offerte machen kön
nen, zu sagen: Wenn die andere Seite nicht bereit ist, von
den Vertragsverletzungen abzusehen, dann muß sie damit
rechnen, daß der Swing in der jetzigen Höhe in den 80er
Jahren nicht mehr sein wird. Dies kann die Bundesregie
rung tim, damit verletzt sie keinen Vertrag, damit nutzt
sie eine wirtschaftliche Möglichkeit in einem angemessenen
Umfang aus, meine Damen und Herren.
Ich will noch einmal auf die Problematik des Postver
trages abheben. Wenn die andere Seite bestimmte Dinge
nicht einhält und ihren Verpflichtungen nicht nachkommt,
dann ist doch naturgemäß die Reaktion von uns, daß wir
dann die finanziellen Leistungen, die wir zu tragen haben,
entsprechend kürzen. Auch hier ist nichts geschehen im
Sinne von Gegenseitigkeit und Gleichachtigkeit des Be-
handelns dort, wo es sinnvoll und möglich ist.
Ich will hier auch noch etwas anderes in der gebotenen
Vorsicht ansprechen. Ostberlin und die Sowjetunion be
streiten ständig die Zugehörigkeit West-Berlins zur Euro
päischen Gemeinschaft. Man soll sich doch drüben darüber
klar sein, daß man diese Zugehörigkeit West-Berlins zur
Europäischen Gemeinschaft nicht dauernd bestreiten kann
und gleichzeitig für die praktische Zugehörigkeit Ostberlins
zur Europäischen Gemeinschaft jährlich, ohne auch nur
den Finger zu krümmen, mindestens 600 Millionen DM
abkassiert.
(Beifall bei der CDU)
Auch das ist ein Punkt, dessen Problematik uns allen be
wußt ist, nur ist uns auch die Bedeutung und Problematik
der Einbeziehung West-Berlins in die Europäische Gemein
schaft bewußt. Und dies sollen alle wissen, daß man an
dieser Stelle denken kann, denn es war ja eine einseitige
Aktion, eine einseitige Begünstigung der Bundesrepublik
Deutschland an die Adresse der anderen Seite, daß sie
denen Zollabschöpfungen und Vergünstigungen in dieser
Größenordnung gewährte, die nicht auf alle Tage festge
schrieben sein müssen.
Und eine letzte Bemerkung zu der Frage der Gegenmaß
nahmen, die ja nicht auf wirtschaftliche Dinge beschränkt
sind. Es gibt einen Streit darüber, wie man Vertragsbrüche
am besten heilt, ob es ein sinnvoller Weg ist, die Welt
öffentlichkeit anzusprechen. Darüber gibt es den Streit:
Hilft das den Bürgerrechtlem, oder hilft das nicht ? — Die
Sozialdemokraten sagen überwiegend: Es hilft ihnen nicht
— so liest man gerade in einem Interview, das der Bundes
kanzler dem „Stern“ gegeben hat. — Die Bürgerrechtler
selbst sagen: Das hilft uns sehr wohl. — Und ich für
meinen Teil sage: Wenn die Bürgerrechtler selbst es sagen
— ob sie Sacharow, Solchenyzin oder anders heißen —-,
glaube ich es denen an dieser Stelle mehr, denn um sie
geht es, und sie wissen, wovon sie reden.
(Beifall bei der CDU)
Auch bei den Vertragsverletzungen ist es die Frage, wie
man reagiert, ob da gute Worte genügen. Der Regierende
Bürgermeister hat irgendwann mal geglaubt, sagen zu
müssen, die andere Seite sei immer wieder zur Vertrags
grundlage zurückgekehrt. Dies stimmt nicht, Herr Regie
render Bürgermeister; sie ist nicht immer, wenn sie Ver
tragsverletzungen begangen hat, zur Vertragsgrundlage
zurückgekehrt, sondern wir haben es in einer Reihe von
Punkten eben nicht erreicht, daß es dazu gekommen ist.
Und ich meine im Ergebnis, wenn man auf Gegenmaß
nahmen verzichtet, dann fordert man im Grunde die andere
Seite nur heraus, weitere Vertragsbrüche zu ihren Gunsten
und zu unseren Lasten zu begehen. Deshalb ist es auch die
Frage bezogen auf Belgrad, wie man dort verfährt. Ich
weiß, daß man vielleicht den Bogen nicht überspannen
darf. Es ist eben die Antwort auf die Frage, wie man mit
diesen Konflikten, die in der Politik selbst verankert sind,
fertig wird. Aber was geboten und was notwendig ist, ist
doch die lückenlose und unfrisierte Bilanz dessen, was sich
im Laufe der letzten Jahre hier mitten in Deutschland und
mitten in Europa ereignet hat. Die Sozialdemokraten füh
len sich offenbar gelegentlich einem Wohlverhaltensdruck
ausgesetzt.
(Sen Stobbe: Na, na! —
Sen Neubauer: So’n Quatsch!)
Das ist bedauerlich, und dieses, meine ich, sollte man am
Vorabend von Belgrad ablegen. Die kommunistischen Staa
ten können eine ganze Menge verkraften. Wir brauchen
uns nicht übertriebene Sorgen darüber zu machen, wie sie
Angriffe auf den Kommunismus, auf die intolerante und
totalitäre Qualität dieser Regime verstehen und würdigen
werden. Denn hier geht es ja um etwas, was uns gerade in
Berlin in besonderer Weise am Herzen liegen muß. Wir
haben die Hilfe der Welt über Jahrzehnte in Anspruch ge
nommen und in Anspruch nehmen müssen, um diese Stadt
zu erhalten. Da ging es auch um das Recht auf Selbst
bestimmung und Freizügigkeit. Wie würde die Welt es
verstehen, wenn wir auf der anderen Seite nicht mit der
selben Intensität für die Rechte anderer, für die gleichen
Rechte anderer womöglich, uns einsetzen. Ich meine, die
Glaubwürdigkeit unserer Gesamtpolitik hängt entscheidend
auch davon ab, mit welcher Intensität wir uns gegen die
Politik der Vertragsbrüche von Ostberlin wenden und
gegen die Politik, die gegen die Menschenrechte gerichtet
ist. Hier haben wir, glaube ich, die Bewährungsprobe noch
nicht bestanden, und hier, meine ich, ist der Punkt, wo wir
Gemeinsamkeit suchen sollten. Aber die Gemeinsamkeit zu
prüfen, das beginnt genau an der Frage, zu welchen Gegen
maßnahmen sind wir ernsthaft bereit, und zu welchen
Maßnahmen sind wir nicht bereit.
Wir haben diesen Antrag eingebracht, um möglichst zu
einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Die Große An
frage der Koalitionsfraktionen läßt das nicht von vorn
herein erkennen, aber vielleicht bietet diese Diskussion die
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