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Volume Nr. 51, 10. März 1977

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1977, 7. Wahlperiode, Band III, 46.-74. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode 
51. Sitzung vom 10. März 1977 
ser Gefahr im Bereich des Regierungslagers in Bonn er 
legen seien. Aber es gibt solche, die dieser Gefahr und Ver 
suchung erlegen sind. Herr Bahr ist es mit Sicherheit und 
der „Vorwärts“ auch. 
Es kommt dann die Frage, wo gesagt werden kann, daß 
mehr Menschenrechte eine Zumutung für die Regime sein 
könnten. Xm „Vorwärts“ lesen wir die Formulierung, daß 
man Ostberlin — wieder im Zusammenhang mit den Stra 
ßenbenutzungsgebühren — keine „entspannungspolitischen 
Tonnengewichte“ zumuten könne. Dies ist der kritische 
Punkt, und hier sind ganz gewiß die Meinungsverschieden 
heiten zwischen uns vorhanden, die sich also eindeutig auf 
die Frage der Gegenmaßnahmen beziehen. 
Ich will nun den Versuch machen, ein paar Dinge anzu 
deuten, die dafür in Frage kommen, damit wir hier nicht 
in Alternativen denken zwischen Panzereinsatz und Nichts 
tun; das ist nicht die Frage. Wie sieht dieser Rahmen für 
Gegenmaßnahmen aus, und wie ist er ausgeschöpft wor 
den? 
Wir haben damals hier jenes Beispiel der Besteuerung 
der Lkw aus Ostberlin und der DDR offeriert, dies ist nicht 
getan worden. Ich weiß, da gibt es juristische Gründe, die 
hier den Fall schwerwiegender erscheinen lassen, als wenn 
es etwa um die CSSR, Bulgarien oder andere osteuro 
päische Länder ginge. Aber es gibt Lösungsmöglichkeiten. 
Das Ziel dieser Gegenmaßnahme soll ja nicht sein, daß wir 
nun auch alle Fahrzeuge aus dem Osten besteuern, son 
dern das Ziel dieser Gegenmaßnahme soll eigentlich sein 
— und wir haben es damals gesagt —, daß beide Seiten zu 
einer Vereinbarung über den Verzicht auf solche Gebühren 
und Steuern, die erhoben werden, kommen. Aber zu einem 
solchen Ergebnis kann man nur kommen, wenn man auf 
unserer Seite zunächst einmal dazu entschlossen ist, Ge 
genseitigkeit zu praktizieren. Dies hat die Bundesregie 
rung nicht getan, dies wäre aber eine vernünftige Maß 
nahme, und wenn ich hier nur eine Stimme zitieren darf, 
so ist es Jens Feddersen — der ja nicht unserer Partei an 
gehört —, der dies genau so sieht. 
Ein zweiter Punkt: Es ist im vergangenen Jahr gesagt 
worden, wirtschaftliche Sanktionen kämen nicht in Frage. 
So einfach kann man sich das nicht machen, denn es steht 
doch nirgendwo geschrieben — und jeder Politiker bei uns 
wäre töricht, wenn er es unterstellte —, daß in den 80er 
Jahren der Swing im Interzonenhandel genauso aussehen 
muß wie jetzt. Das kann mehr sein für etwas, das kann 
aber auch weniger sein, weil etwas geschehen muß. Die 
Bundesregierung hätte zumindest die Offerte machen kön 
nen, zu sagen: Wenn die andere Seite nicht bereit ist, von 
den Vertragsverletzungen abzusehen, dann muß sie damit 
rechnen, daß der Swing in der jetzigen Höhe in den 80er 
Jahren nicht mehr sein wird. Dies kann die Bundesregie 
rung tim, damit verletzt sie keinen Vertrag, damit nutzt 
sie eine wirtschaftliche Möglichkeit in einem angemessenen 
Umfang aus, meine Damen und Herren. 
Ich will noch einmal auf die Problematik des Postver 
trages abheben. Wenn die andere Seite bestimmte Dinge 
nicht einhält und ihren Verpflichtungen nicht nachkommt, 
dann ist doch naturgemäß die Reaktion von uns, daß wir 
dann die finanziellen Leistungen, die wir zu tragen haben, 
entsprechend kürzen. Auch hier ist nichts geschehen im 
Sinne von Gegenseitigkeit und Gleichachtigkeit des Be- 
handelns dort, wo es sinnvoll und möglich ist. 
Ich will hier auch noch etwas anderes in der gebotenen 
Vorsicht ansprechen. Ostberlin und die Sowjetunion be 
streiten ständig die Zugehörigkeit West-Berlins zur Euro 
päischen Gemeinschaft. Man soll sich doch drüben darüber 
klar sein, daß man diese Zugehörigkeit West-Berlins zur 
Europäischen Gemeinschaft nicht dauernd bestreiten kann 
und gleichzeitig für die praktische Zugehörigkeit Ostberlins 
zur Europäischen Gemeinschaft jährlich, ohne auch nur 
den Finger zu krümmen, mindestens 600 Millionen DM 
abkassiert. 
(Beifall bei der CDU) 
Auch das ist ein Punkt, dessen Problematik uns allen be 
wußt ist, nur ist uns auch die Bedeutung und Problematik 
der Einbeziehung West-Berlins in die Europäische Gemein 
schaft bewußt. Und dies sollen alle wissen, daß man an 
dieser Stelle denken kann, denn es war ja eine einseitige 
Aktion, eine einseitige Begünstigung der Bundesrepublik 
Deutschland an die Adresse der anderen Seite, daß sie 
denen Zollabschöpfungen und Vergünstigungen in dieser 
Größenordnung gewährte, die nicht auf alle Tage festge 
schrieben sein müssen. 
Und eine letzte Bemerkung zu der Frage der Gegenmaß 
nahmen, die ja nicht auf wirtschaftliche Dinge beschränkt 
sind. Es gibt einen Streit darüber, wie man Vertragsbrüche 
am besten heilt, ob es ein sinnvoller Weg ist, die Welt 
öffentlichkeit anzusprechen. Darüber gibt es den Streit: 
Hilft das den Bürgerrechtlem, oder hilft das nicht ? — Die 
Sozialdemokraten sagen überwiegend: Es hilft ihnen nicht 
— so liest man gerade in einem Interview, das der Bundes 
kanzler dem „Stern“ gegeben hat. — Die Bürgerrechtler 
selbst sagen: Das hilft uns sehr wohl. — Und ich für 
meinen Teil sage: Wenn die Bürgerrechtler selbst es sagen 
— ob sie Sacharow, Solchenyzin oder anders heißen —-, 
glaube ich es denen an dieser Stelle mehr, denn um sie 
geht es, und sie wissen, wovon sie reden. 
(Beifall bei der CDU) 
Auch bei den Vertragsverletzungen ist es die Frage, wie 
man reagiert, ob da gute Worte genügen. Der Regierende 
Bürgermeister hat irgendwann mal geglaubt, sagen zu 
müssen, die andere Seite sei immer wieder zur Vertrags 
grundlage zurückgekehrt. Dies stimmt nicht, Herr Regie 
render Bürgermeister; sie ist nicht immer, wenn sie Ver 
tragsverletzungen begangen hat, zur Vertragsgrundlage 
zurückgekehrt, sondern wir haben es in einer Reihe von 
Punkten eben nicht erreicht, daß es dazu gekommen ist. 
Und ich meine im Ergebnis, wenn man auf Gegenmaß 
nahmen verzichtet, dann fordert man im Grunde die andere 
Seite nur heraus, weitere Vertragsbrüche zu ihren Gunsten 
und zu unseren Lasten zu begehen. Deshalb ist es auch die 
Frage bezogen auf Belgrad, wie man dort verfährt. Ich 
weiß, daß man vielleicht den Bogen nicht überspannen 
darf. Es ist eben die Antwort auf die Frage, wie man mit 
diesen Konflikten, die in der Politik selbst verankert sind, 
fertig wird. Aber was geboten und was notwendig ist, ist 
doch die lückenlose und unfrisierte Bilanz dessen, was sich 
im Laufe der letzten Jahre hier mitten in Deutschland und 
mitten in Europa ereignet hat. Die Sozialdemokraten füh 
len sich offenbar gelegentlich einem Wohlverhaltensdruck 
ausgesetzt. 
(Sen Stobbe: Na, na! — 
Sen Neubauer: So’n Quatsch!) 
Das ist bedauerlich, und dieses, meine ich, sollte man am 
Vorabend von Belgrad ablegen. Die kommunistischen Staa 
ten können eine ganze Menge verkraften. Wir brauchen 
uns nicht übertriebene Sorgen darüber zu machen, wie sie 
Angriffe auf den Kommunismus, auf die intolerante und 
totalitäre Qualität dieser Regime verstehen und würdigen 
werden. Denn hier geht es ja um etwas, was uns gerade in 
Berlin in besonderer Weise am Herzen liegen muß. Wir 
haben die Hilfe der Welt über Jahrzehnte in Anspruch ge 
nommen und in Anspruch nehmen müssen, um diese Stadt 
zu erhalten. Da ging es auch um das Recht auf Selbst 
bestimmung und Freizügigkeit. Wie würde die Welt es 
verstehen, wenn wir auf der anderen Seite nicht mit der 
selben Intensität für die Rechte anderer, für die gleichen 
Rechte anderer womöglich, uns einsetzen. Ich meine, die 
Glaubwürdigkeit unserer Gesamtpolitik hängt entscheidend 
auch davon ab, mit welcher Intensität wir uns gegen die 
Politik der Vertragsbrüche von Ostberlin wenden und 
gegen die Politik, die gegen die Menschenrechte gerichtet 
ist. Hier haben wir, glaube ich, die Bewährungsprobe noch 
nicht bestanden, und hier, meine ich, ist der Punkt, wo wir 
Gemeinsamkeit suchen sollten. Aber die Gemeinsamkeit zu 
prüfen, das beginnt genau an der Frage, zu welchen Gegen 
maßnahmen sind wir ernsthaft bereit, und zu welchen 
Maßnahmen sind wir nicht bereit. 
Wir haben diesen Antrag eingebracht, um möglichst zu 
einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Die Große An 
frage der Koalitionsfraktionen läßt das nicht von vorn 
herein erkennen, aber vielleicht bietet diese Diskussion die 
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